„Große Männer“ und das Erbe Dorothee Sölles
Immer wieder sind es nur Männer, die unser Gedenken zu runden Daten prägen, zum Beispiel 2024 Kant, Kafka und Caspar David Friedrich. Das sei misslich, meint unser Onlinekolumnist Philipp Greifenstein. Er nennt weibliche Alternativen und blickt zurück auf 2023, wo sich mit dem „Dorothee-Sölle-Jahr“ ein interessantes, ungeplantes Gedenken ereignete.
Das Jahr 2024 macht es Programmplaner:innen in Verlagen, Medienhäusern und Einrichtungen der Kulturpflege einfach: Es ist Kafka-Jahr! Es ist Kant-Jahr! Es soll auch ein Caspar-David-Friedrich-Jahr werden. Der Content-Reigen zu den Jubiläen der großen Männer hat schon begonnen, in den kommenden Monaten werden zahlreiche Veröffentlichungen, Fernsehsendungen, Radio-Features, Podiumsdiskussionen und Tagungen hinzukommen. Das ist ein wenig betrüblich, denn ich hatte bisher nicht den Eindruck gewonnen, dass Kant und Kafka und selbst Caspar David Friedrich dem kulturellen Gedächtnis entfleucht wären.
Anders verhält es sich mit Ruth Berlau (50. Todestag, 15. Januar), Marieluise Fleißer (50. Todestag, 2. Februar), Ursula Maria Zorn (350. Geburtstag, 28. Juli), Marie Luise Kaschnitz (50. Todestag, 10. Oktober) oder Friederike Mayröcker (100. Geburtstag, 20. Dezember) – nur einige Autor:innen, an die Katharina Herrmann auf ihrem Blog „Kulturgeschwaetz“ erinnert. Wird neben den „großen Männern“ auch Platz für ein Erinnern an ihr Schaffen sein? Ist Erinnern überhaupt das richtige Wort? Ich bekenne freimütig, dass einige der von Herrmann aufgelisteten Autor:innen mir gänzlich unbekannt sind. Zeit für eine Entdeckung?
Runde Geburts- und Todestage von verstorbenen Geistesgrößen bieten im besten Fall Anlässe für überraschende (Wieder-)Begegnungen. Andernfalls erstarrt der Betrieb in einer Gedenkliturgie ohne innerliche Teilnahme, im Erinnern als Pflichtübung. Sich den (Markt-)Dynamiken der offiziösen Gedenkjahre zu entziehen, könnte Platz schaffen für ein tatsächliches Erinnern. Und wer sagt eigentlich, dass man sich an schnöden Jahreszahlen orientieren muss?
Das Sölle-Jahr 2023
Im Jahr 2023 erinnerten wir uns anlässlich ihres 20. Todestages am 27. April an Dorothee Sölle. Es gab Tagungen, Lesungen, ein kontroverses Buch, Interviews mit Zeitzeug:innen und Theolog:innen, Re-Lektüren. Im Dezember berichtete Klaas Huizing an dieser Stelle von der erfolgreichen Seminarwiedereinführung ihres Buches „Gott denken. Einführung in die Theologie“. Ich selbst war im Rahmen eines Kooperation zwischen der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt und dem Magazin „Die Eule“ am Projekt „WIDERSTAND! Dorothee Sölle & der Osten“ beteiligt, in dessen Rahmen junge und ältere Theolog:innen von der Rezeption Sölles in der DDR und ihrer Ausstrahlung auf aktuelle Debatten berichteten.
Kann Dorothee Sölles Denken und Handeln unsere gegenwärtigen theologischen, politischen und friedensethischen Debatten bereichern? Welche Impulse gehen von ihrem Werk aus, die in den Diskussionen über die sozial-ökologische Transformation angesichts der Klimakrise eine stärkere Rolle spielen sollten? Oder sind es ihre Lyrik und Gebete, die eine (Wieder-)Entdeckung besonders lohnenswert machen – überhaupt ihre Sprache, die jetztzeitig und poetisch zugleich war?
Das verpflichtende Gedenken an Sölle ist im Jahr 2023 eingedenk ihrer Bedeutung für Theologie und Kirche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eher mickrig ausgefallen. Kein Vergleich zum Kult um die Reformatoren (ohne Reformatorinnen) oder zum Bohei, das rund um Dietrich-Bonhoeffer- oder Karl-Barth-Gedenktage veranstaltet wird. Eine Barth-Renaissance (War er jemals weg?) wird ja selbst noch zu Veröffentlichungen von empirischen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen versucht. Manch einer trägt sich mit der Hoffnung, vermittels einer verkümmerten dialektischen Theologie der 4. oder 5. Generation die Probleme der Kirche von heute lösen zu können. Gleichwohl muss man dafür das Scheitern solcher Ansätze in den vergangenen dreißig Jahren ganz kräftig ignorieren.
Sölle als Geheimtipp?
An die Theologin Dorothee Sölle zu erinnern, ist dem Establishment in Kirche und Theologie hingegen schwergefallen. Das hätte sie vermutlich ganz großartig gefunden. Noch im Tode erweist sich so ihre Nichtzugehörigkeit. Sölles Werk versperrt sich Vereinnahmungen, sie war kein people pleaser, wie Klaas Huizing zutreffend schrieb. Es sind ja auch wahrlich nicht alle ihre Ideen und Bücher „gegenwartsfähig“, manches ist echt „pausenbedürftig“.
Bei meiner Re-Lektüre von „Lieben und arbeiten“ zum Beispiel stolperte ich über einige Passagen von Politik- und Medienkritik, die doch einigermaßen faulig klingen nach zehn Jahren PEGIDA, AfD und Rechtsruck. Sölles Kapitalismuskritik ist vielleicht gerade wieder besonders aktuell, besonders im Kontext der Klimakrise. Doch so manche Kritik an Bundesrepublik und repräsentativer Demokratie klingt heute, da letztere noch deutlich bedrohter ist als zum Zeitpunkt ihres Todes, flach und kontraproduktiv. Im besten Falle erinnert sie daran, dass man die Verhältnisse auch immer von Links kritisieren muss, um dem Rechtsruck zu wehren. Als viel stärker empfinde ich jedenfalls die theologischen und – dare I say it: spirituellen Passagen des Buches. Eine wohltuende Mystik geht den Widerstandsbewegungen unserer Zeit weitgehend ab. Eine solche Mystik soll nicht vom Aktivismus ablenken, sondern gibt ihm erst die Kraft zum Durchhalten.
Vielleicht ist die große Sölle-Wiederentdeckung einem späteren Jubiläum vorbehalten. Zu nah dran an ihrem Leben stehen manche der Zeitzeug:innen-Generation, die sich (fast) jeden Widerspruch nur widerwillig gefallen lassen. Gleichwohl: Nicht jede Kritik an der ach so bürgerlich lebenden und doch radikal denkenden und schreibenden Sölle ist wirklich so revolutionär, wie sie – schon allein aus publizistischen Erwägungen – erscheinen will. Dem Orkus der Kirchengeschichte ist Sölle noch nicht überlassen, das ist für sich schon eine gute Nachricht. Auslegungskämpfe gehören zu einer lebendigen Rezeption unbedingt hinzu.
Der Blick nach vorn: Sölles Erb:innen
Darum lohnt sich neben dem Blick zurück der Blick nach vorn. Wer sind die legitimen Erb:innen Dorothee Sölles in unseren Tagen? Intersektionale Theolog:innen wie Carlotta Israel und Sarah Jäger haben im Gedenkjahr gezeigt, dass Sölle sehr wohl anschlussfähig für die Diskurse unserer Tage ist: Dass sie das Zusammendenken verschiedener Unrechtsfaktoren schon geübt hat, als dafür in der Debatte der inzwischen oft verwendete und doch nicht immer verstandene Begriff Intersektionalität noch nicht im Gebrauch war. Sie haben allerdings bei dieser Wiederentdeckung auch Leerstellen identifiziert, die Sölle gelassen hat. Die jungen Theolog:innen aus Leipzig von der Initiative „Theoversity“ haben ihren Podcast, der von der Stabsstelle Digitalisierung der EKD aus dem digitalen Innovationsfonds gefördert wird, mit einem Sölle-Wort überschrieben: „Es muss doch mehr als alles geben.“ Das Erbe Dorothee Sölles anzutreten, bedeutet wohl, auch darüber hinaus zu gehen, was Sölle selbst gedacht und geschrieben hat.
Im Projekt „WIDERSTAND! Dorothee Sölle & der Osten“ haben wir gelernt, dass der realexistierende Sozialismus à la DDR in Sölles antikapitalistischem politischem Denken zu wenig Raum eingenommen hat. Das hat aber die Akteur:innen damals nicht davon abgehalten, im streitigen Gespräch mit ihr zu bleiben. Es sollte auch uns Jetztmenschen nicht daran hindern, das utopische Potential von Sölles politischer Theologie neu zu prüfen. Im abschließenden Akademiegespräch (Audio auf YouTube) erklärte Stephan Bickhardt, DDR-Bürgerrechtler und heute Direktor der Evangelischen Akademie Sachsen, Sölle zum Vorbild dafür, „immer wieder in christliche Topoi hineinzugehen und nicht bei ethischen Verlautbarungen steckenzubleiben“. Gleichwohl ist auch er sich sicher: „Die theologische Denkfigur für das, was jetzt passieren muss, die müssen wir jetzt neu erfinden.“
Am Ende ihres Jubiläumsjahres – und am Beginn einer Sölle-Renaissance? – ist es womöglich ihre Poesie, ihre Sprache, die als nicht eingeholtes Versprechen Vorbildwirkung entfalten kann. Wie Konstantin Sacher in seinem Sölle-Buch gezeigt hat, waren die theologischen Ideen, die Sölle popularisiert hat, nicht immer „neu“. Aber sie hat als Zeitgenossin eine Sprache für das Nachdenken und Sprechen über Gott und die Welt gefunden, die verständlich und inspirierend zugleich war. Sie war eine Übersetzerin und eine Wegezeigerin für ihre Zeit. Wer übersetzt heute mit ähnlichem Geschick und geleitet unser Denken und Handeln ebenso mutig und streitbar wie es Dorothee Sölle getan hat?
Erfolgreich ist ein Jubiläum womöglich nur dann wirklich, wenn es Ausgangspunkt neuer Denkbewegungen und neuen Handelns ist, nicht wenn Verlagskassen klingeln und Akademie-Podien gut besucht werden. Das wäre doch auch für das Jubiläumsjahr 2024 ein geeigneter Maßstab.
Philipp Greifenstein
Philipp Greifenstein ist freier Journalist sowie Gründer und Redakteur des Magazins für Kirche, Politik und Kultur „Die Eule“: https://eulemagazin.de