Manche Bücher sind pausebedürftig. Nach einem Hochleistungsleben. Auch Bücher haben eine Work-Life-Balance und überwintern manchmal jahrelang im Regal. Kampieren vielleicht sogar in der zweiten Reihe. Höchststrafe für Bücher, die sich gerne zur Schaus stellen. Manche überleben nur noch digital. Und werden auf Festplatten vergessen.
Im Sommer habe ich aus Verzweiflung nach einem Buch gefahndet, weil mich das übliche Buch zur Einführung in die Dogmatik angemufft hat und Anfänger*innen jedes Semester neu in Wehklagen ausbrachen. Zu wenig gegenwartsfähig. Kaum Ideengeschichte. Zu kumulativ. Gendern? Null. Ermüdende Handbuchschreibe. Ein schönes Glossar. Immerhin. Nice to have, but… Auch meine Mitarbeite*rinnen wussten keinen Rat.
Und dann das Glück des Findens. Mehrfach war ich an dem Regalmeter vorbeiparadiert. Aber dann vernahm ich eine Anrede. Laut und deutlich. Take me. Ein vornehmes Grau. Titel: Gott denken. Einführung in die Theologie. Autorin. Dorothee Sölle. Mehrfach hatte ich vor Jahren dieses Buch, in den 1990er-Jahren ein Renner, als Semesterlektüre besprochen. Mich dann der Empfehlung einer Kommission gebeugt. Ein schlechter Kompromiss.
Und siehe: Das Buch funktioniert im Seminar erneut glänzend. Sölle ist kein People pleaser. Genau das kommt an. Das Buch hat eine elektrisierende Kraft. Erzählt auf hohem Niveau, wie sich die Theologie entwickelt hat und hemdsärmelig wurde. Alle dogmatischen Portalbegriffe, einige im neuen Gewand, werden anhand des orthodoxen, liberalen, feministisch-befreiungstheologischen-ökologischen Paradigmas vorgestellt. (Die drei Paradigmen lösen sich freilich nicht einfach ab, sondern im dritten Paradigma etwa tauchen Deutungen aus dem orthodoxen Paradigma verwandelt auf.)
Dieses schmale Buch zeugt nicht nur von außerordentlicher Denkkraft, sondern zugleich von stilistischer Eleganz, Atmosphärendichte, Begeisterung, präsentiert ein Narrativ, das ansteckend wirkt. Das Buch verträgt auch Widerspruch, weil es selber vom Widerspruchsgeist getragen wird. Obwohl das Buch bei der Erstveröffentlichung sehr gegenwartsnah war, ist es prächtig gealtert. In vielen Diskursen, die wir heute bearbeiten, war die Autorin Sölle bereits präsent. Sie war eine Vorzeitige. Eine Stimme, die wir jetzt erneut einspielen sollten.
Als eine Morgengabe überreiche ich ihr heute ein Bild zur feministischen Theologie. Wahrscheinlich kennt sie es. Durch Michelangelo wissen wir, wie Gott mit dem Finger nach Adam tastet und ihm Kontakt gewährt – oder doch kurz vorher innehält? Gott kann auch kuscheln, denn in seinem Arm hält er (ich tippe mal) die Frau Weisheit, die ihm zur Schöpfung animiert hat. Und Eva? Eva, so erzählt Michelangelo, winkt er zu sich hoch. Aufrechter Gang also. Auf Augenhöhe. Von Angesicht zu Angesicht. Noch etwas narkotisch und in recht unbequemer Lage ruht Adam mit abgewandtem Gesicht. Das Bild zeigt wunderbar die Levitation der Frau. In diese Bewegungssuggestion können sich alle Geschlechter einfinden.
Michelangelo, Erschaffung Evas, Sixtinische Kapelle, Decke, um 1510.
Post scriptum.
Und als Ergänzung zu Sölles Buch ein Glossar theologischer Grundbegriffe für Studienanfänger*innen, bitteschön? Warum nicht. Vokabellernen kann auch sexy sein.
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.