Wo liegt eigentlich Osteuropa?
Die Reise in die westlichste Großstadt der Ukraine, nach Lviv/Lemberg, hat unseren Kolumnisten Christoph Markschies tief beeindruckt und erkennen lassen, dass alte Bezeichnungen wie West- oder Osteuropa nicht mehr aussagekräftig sind, sondern eher frei/unfrei passen würde.
Bis zum vergangenen Jahr hätte ich ohne einen Moment zu zögern, auf die Frage nach der Lage Osteuropas geantwortet: Osteuropa beginnt jenseits der polnischen Grenze, die Ukraine gehört dazu und natürlich Russland. Inzwischen bin ich sehr ins Zögern geraten, wo eigentlich Osteuropa liegt.
Mein Zögern begann, als ich vor rund einem Jahr gemeinsam mit vielen jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ein wissenschaftliches Netzwerk zu gründen begann und wir nach einem Namen suchten. „Junges OstWestNetzwerk“ lautete der ursprüngliche Arbeitstitel der Institution, die sowohl aus der Ukraine geflohene als auch dort weiter lebende junge Menschen in frühen Stufen einer wissenschaftlichen Karriere zusammenbringen sollte mit westeuropäischen Kolleginnen und Kollegen. Entsprechende sogenannte „Junge Akademien“ gibt es inzwischen an vielen Orten, in Berlin beispielsweise auch eine „Arab-German Young Academy“, die der Intensivierung von Kontakten zwischen jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem deutschen und dem arabischen Sprachraum dient.
Das Hauptmotiv für die Idee, etwas Ähnliches für die Wissenschaftsbeziehungen zwischen der Ukraine und Deutschland zu organisieren, war aber nicht gar nicht die schlichte Idee, dass solche Kontakte immer anregend sind für beide Seiten. Wir wollten vielmehr von der deutschen Seite alle miteinander nicht noch einmal so beschämt wie im Frühjahr 2022 feststellen, dass wir bestürzend wenig über – ja, wie wir dachten – Osteuropa wussten. Als wir uns in großer Runde dank der spontanen Unterstützung des Landes Brandenburg das erste Mal im Winter in Berlin trafen, fanden die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Ukraine, die in Berlin waren, aber auch die aus einem Bunker in Kiew Zugeschalteten, die Idee dieses Netzwerkes ganz prima, aber der Name gefiel ihnen nicht. „Wir sind nicht Osteuropa. Wir gehören in die Mitte Europas“. Das sagten auch andere, die den ursprünglichen Namensvorschlag hörten: Ist Polen jetzt ein Teil Westeuropas geworden nach dem Fall der Mauer? Gehörte es früher zu Osteuropa? Gibt es eigentlich Mitteleuropa? Oder nur „Ost“ und West“?
Kuriose Umbennungsdiskussionen
Obwohl wir gemeinsam beschlossen haben, den Namen des Netzwerks zu ändern, auf den Begriff „Osteuropa“ genauso wie auf den parallelen „Westeuropa“ verzichten und das Ganze jetzt „Junges Netzwerk TransEuropa“ nennen, fand ich die Diskussion seinerzeit etwas merkwürdig und so kurios, wie ich gegenwärtig viele Umbenennungsdiskussionen finde. Soll man wirklich die Karl-Liebknecht-Straße in Berlin-Mitte umbenennen und die „Stiftung preußischer Kulturbesitz“? Mein Gefühl über die Namensdebatten und insbesondere die Debatte über den Begriff „Osteuropa“ hat sich vor einigen Wochen geändert, als ich nach Lviv/Lwów/Lemberg gefahren bin, in die westlichste Großstadt der Ukraine. Von dieser Reise will ich kurz berichten, weil ich dabei unendlich viel über die Ukraine gelernt habe, aber auch über die europäische Geschichte und Gegenwart.
Natürlich sollte man nicht zu Bildungszwecken in Kriegsgebiete fahren, und ich bin auch nicht deswegen in die Ukraine gereist. In das Kriegsgebiet bin ich überhaupt nur aufgebrochen, weil die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, der ich als Präsident vorstehe, seit Frühjahr 2022 für ein Krankenhaus in der Stadt Lviv sammelt und beispielsweise die Neueinrichtung eines dringend Operationssaals in der Chirurgie finanziert hat. Und das Krankenhaus hatte immer wieder schon gebeten, dass wir einmal ansehen, wie das verwendet wird, was wir gespendet haben und ein ukrainischer Kollege, der in der Stadt aufgewachsen ist, aber schon lange in Dresden arbeitet, war bereit, die Fahrt zu organisieren und uns überall zu begleiten. Wir wollten aber keineswegs nur das in Augenschein nehmen, was mit den bisherigen Spenden realisiert werden konnte, sondern uns auch mit dem Krankenhaus über die nächsten Spendenprojekte austauschen. Daher bin ich dann nicht ganz ohne Bedenken, aber doch vom Sinn der Reise überzeugt losgefahren.
Der Ort, der einen deutschen, polnischen und ukrainischen Namen hat (Lemberg, Lwów, Lviv), hat mich ungemein begeistert! Was ich erlebte, hatte ich so gar nicht erwartet. Wenn man die ersten größeren Straßen des Ortes erreicht, merkt man sofort, dass man in der ehemaligen Hauptstadt des Königreichs Galizien und also im kaiserlich-königlichen Österreich-Ungarn gelandet ist: Die Außenbezirke erinnern an die Vororte von Wien, und je näher man der Innenstadt kommt, desto mehr wirken die Straßenzüge wie ein Versuch, die Wiener Ringstraße etwas verkleinert nachzubauen.
Barockstadt wie Salzburg
Ein großer Boulevard mit breitem Grünstreifen beginnt an einem riesengroßen Opernhaus und setzt sich mit Bankgebäuden sowie der einstigen Industrie- und Handelskammer fort, an einem großen Park liegt das ehemaligen Parlament des Kronlandes Galizien und direkt daneben ein Casino, das von zwei Architekten erbaut wurde, die im Habsburger-Reich schier unzählige Theater, Konzertsäle und Paläste gebaut haben. Am Boulevard und in der Innenstadt liegen viele Kaffeehäuser und eines davon heißt auch ganz direkt „Wiener Kaffeehaus“ in deutscher Sprache. Die Altstadt, die aus einem katholischen polnischen Viertel, einem orthodoxen ukrainischen, einem jüdischen und einem armenischen Viertel besteht, erinnert in vielen Straßen an eine österreichische Barockstadt wie Salzburg. Das große Gymnasium direkt hinter der Altstadt hieß bis 1918 nach dem lange regierenden Kaiser „Franz Joseph-Gymnasium“ und man munkelt, dass irgendwo im Gebäude bis heute eine Büste des greisen Kaisers aufgestellt ist. Verschiedene barocke ehemalige Klöster mit prachtvollen Kirchen umrahmen die Altstadt.
Als ich in einem der vielen Kaffeehäuser saß, eine Melange trank (natürlich mit dem obligatorischen Glas Wasser) und dazu ein Esterhazy-Törtchen verspeiste, verstand ich endlich die jungen ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Dieser Ort, in den ich gefahren bin, liegt tatsächlich nicht in Osteuropa. Eigentlich ist er bis heute ein Stück der österreich-ungarischen Doppelmonarchie, leicht heruntergekommen in den rund vierzig Jahren, die er zwischen 1945 und 1989 zur Sowjetunion gehörte. Aber er gehört ohne Zweifel nicht nur wegen seiner Bauten und seiner Geschichte zu Mitteleuropa, sondern auch wegen des Lebensgefühls der Menschen, die dort leben. Wenn der schreckliche Krieg einmal vorbei sein wird, kann man sich vorstellen, wie Scharen von Investoren die Häuser restaurieren und Scharen von besuchenden Menschen aus ganz Europa diese herrliche Stadt bestaunen.
Lviv/Lwów/Lemberg ist eine multikulturelle und eine multireligiöse Stadt. Die jüdische Gemeinde ist nach den schrecklichen Verfolgungen und dem Holocaust des zwanzigsten Jahrhunderts klein geworden, aber es gibt sie. In der Altstadt steht nicht nur eine römisch-katholische Kathedrale, in der es jeden Sonntag polnische, ukrainische und englische Gottesdienste gibt, sondern auch eine armenische und eine orthodoxe Kathedrale. Es gibt Kirchen, in denen feiert die mit Rom unierte orthodoxe Kirche, in anderen die einst zum Moskauer Patriarchat gehörende Ukrainisch-orthodoxe Kirche, in anderen die Orthodoxe Kirche der Ukraine, die vom Patriarchen von Konstantinopel für eigenständig (autokephal) erklärt worden ist.
Mich hat das stark an Jerusalem erinnert (Lemberg hieß wegen seiner großen jüdischen Bevölkerung einst auch das „Jerusalem des Ostens“). Die Altstadt ist – wie gesagt – in vier unterschiedliche Viertel unterteilt, wie in Jerusalem gibt es ein armenisches Viertel mit einer armenischen Kathedrale. Nur eine deutschsprachige evangelische Gemeinde sucht man vergebens, die hat den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt. Natürlich gibt es zwischen den Konfessionen auch viel Streit, beispielsweise zwischen den beiden ukrainischen orthodoxen Kirchen, aber man ahnt schon jetzt auch Potenziale für ein friedliches Zusammenleben und fruchtbaren Austausch der Religionen und Konfessionen.
„Luftalarm-Notversorgungs-Essen“ im Angebot
Mich hat bei meinem Besuch in Lemberg/Lwów/Lviv beeindruckt, wie wenig sich die Menschen das Lebensgefühl vom Aggressor und vom Krieg diktieren lassen. Da entsprechende Bilder aus Lviv vor einiger Zeit mit gehässigen Kommentaren durch die Medien geisterten, muss ich auch darüber unbedingt etwas schreiben. Natürlich merkt man in der Stadt an nahezu allen Stellen, dass sich das Land im Krieg befindet. Mehrmals in der Woche gibt es Luftalarm, der dauert mal nur eine Viertelstunde, mal mehrere Stunden lang. Und immer wieder einmal schlagen Raketen in der Stadt ein; wir besichtigten einen Ort eines solchen Einschlags in der Nähe der Militärakademie (einer großen Habsburgischen Kaserne). Ein Wohnhaus eines Wohnblocks war getroffen worden und ein Geschäftshaus für Start-Up-Unternehmen und es hatte Tote gegeben, denn die Stadt hat natürlich nicht moderne Luftschutzbunker für alle Einwohner. Aber auch hier stand bereits ein Kran, war mit Wiederaufbau begonnen worden und im unzerstörten Teil des Geschäftshauses wurde in den Büros fleißig weitergearbeitet.
Große Scharen von Menschen flanierten über die Boulevards, in den Kaffeehäusern gab es kaum freie Plätze und in den katholischen wie orthodoxen Kirchen ebenfalls kaum. Die meisten Lokale haben im Keller eine Art „Luftalarm-Notversorgungs-Essen“ im Angebot, wie auch die Theater dann im Keller weiter spielen. Ich war sehr schockiert über die Häme, mit der auf social media entsprechende Bilder vergnügter Menschen in der Stadt unterlegt waren – nach dem Motto „Scheint ja doch nicht so schlimm zu sein“.
Doch, es ist schlimm. Allein die ständigen Luftalarme. Aber die Menschen ´in der Stadt leben ihre Zugehörigkeit zum freien Europa, sie wollen nicht die abgelegene östliche Ecke sein, sondern mitten im Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Sie wollen sich den Takt ihrer Tage nicht vom Aggressor diktieren lassen, sondern frei und selbstbestimmt leben – wenn irgend möglich schon heute und nicht erst nach dem Ende des Krieges. Sie wollen ein selbstverständlicher Teil des einen, demokratischen und selbstbestimmt lebenden Europa sein. An die Stelle der geographischen Unterscheidung zwischen Ost, West, Nord, Süd tritt da eine neue Unterscheidung: die zwischen einem freien Europa, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gemeinsam hat, und einem unfreien Europa, das die gemeinsame Zukunft mit uns allen auch noch vor sich hat.
Christoph Markschies
Christoph Markschies ist Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er lebt in Berlin.