„Majestät des Rechts“

20. Juli 1944 – 20. Juli 2024: Sind es wirklich schon achtzig Jahre?

Anlässlich des heutigen 80. Gedenktages an das Attentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, reflektiert unser Kolumnist Christoph Markschies über die Tragik und die Vielschichtigkeit dieses Versuches, den Naziterror zu beenden. Er hofft, dass die beeindruckenden Menschen, die diesen Widerstand damals trugen, heute für viele Gegenwart werden.

Eine Zeitlang fuhr ich immer morgens und abends mit dem Fahrrad von der Berliner Humboldt-Universität nach Hause, und mein Weg führte mich dabei durch die heutige Stauffenbergstraße, vorbei am sogenannten Bendler-Block (benannt nach dem früheren Namen der Straße). Heute gehört der Bendler-Block zum Berliner Dienstsitz des Bundesverteidigungsministeriums und beherbergt die Gedenkstätte Deutscher Widerstand, weil im Gebäude am 20. Juli 1944 der Staatsstreich, zu dem das Attentat des Grafen Stauffenberg auf Hitler den Auftakt bilden sollte, koordiniert und nach seiner Niederschlagung einige Protagonisten im Hof standrechtlich erschossen wurden. 

Da ich im westlichen Teil Berlins aufgewachsen bin, war mir die Örtlichkeit und ihre besondere Geschichte durchaus schon länger bekannt; am 20. Juli liefen zudem im Fernsehen alljährlich Dokumentar- und Spielfilme in Schwarz-Weiß, die die dramatischen Stunden des Tages 1944 festzuhalten versuchten. Auf der Etage, in der Stauffenberg und seine Mitverschwörer ihre Büros hatten, befand sich zu meinen Schülerzeiten eine Gedenkstätte mit schwarz-weißen Bildern ernst dreinblickender Generalstabsoffiziere und ebenso schwarz-weißer Faksimiles von Befehlen aus Fernschreiben. Am Eingang der Ausstellung befand sich eine Schrifttafel mit einem heute in mehrfacher Hinsicht merkwürdig klingenden Zitat des preußischen Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke (1889): „Gehorsam ist Prinzip, aber der Mann steht über dem Prinzip“.

Es muss irgendwann in den Jahren 2007 oder 2008 gewesen sein, als ich Abends durch die Straße radelte und aus dem mit olivgrünen Planen verhüllten Einfahrtstor zum Innenhof, aus dem trotz der Absperrung helles Scheinwerferlicht auf die Straße fiel, laute Kommandos hörte und just in dem Moment des Vorbeiradelns die Worte „Legt an, gebt Feuer!“ und dann Schüsse hörte. Im Rahmen von Filmaufnahmen für den amerikanischen Film „Valkyrie – Operation Walküre“, bei dem Tom Cruise den Grafen Stauffenberg spielte, wurde damals gerade am Originalschauplatz die Hinrichtungsszene gedreht. Damit war plötzlich die in die durch schlechte Vergrößerungen grobkörniger Schwarz-Weiß-Aufnahmen in weite Ferne gerückte Szenerie des 20. Juli 1944 direkt in meine Gegenwart geholt: Hier im Bendler-Block hatte die schreckliche Szene stattgefunden, hier im Hof waren die, die in letzter Minute versuchen, das verbrecherische Regime zu beseitigen, im Kugelhagel eines Exekutionskommandos umgebracht worden. Und das rückte plötzlich alles sehr nahe. Ich hielt an, stieg vom Fahrrad ab, für eine ganze Weile unfähig, weiterzufahren.

„Ungewöhnlich ernst“

In genau diesen Jahren hatte ich durch meine Tätigkeiten als Präsident der Humboldt-Universität und im Johanniterorden die Gelegenheit, einige nahe Verwandte der Menschen kennenzulernen, die in der Nacht auf den 21. Juli im Hof umgebracht waren oder in den folgenden Wochen verhaftet und vor den Volksgerichtshof mit seinem brüllenden Präsidenten Freisler geschleppt worden waren. Ein Sohn eines in Folge dieser Prozesse Erhängten erzählte mir nach einiger Zeit, wie sich sein Vater kurz vor dem Attentat von ihm am Anhalter Bahnhof in Berlin verabschiedete, weil der Sohn wieder in sein an der Unstrut gelegenes Internat zurückfuhr. „Ungewöhnlich ernst“ sei der Vater gewesen, natürlich ohne etwas vom bevorstehenden Attentat zu sagen. Wieder wurde mir plötzlich die Vergangenheit auf eine bedrängende Weise gegenwärtig.

Die bewegendste Form der Gegenwart dieser besonderen Vergangenheit kann man aber an jedem Morgen eines 20. Juli in der Gedenkstätte Plötzensee erleben, seit vielen Jahren. Im Zentrum dieser in Berlin-Charlottenburg gelegenen Gedenkstätte steht der Hinrichtungsschuppen, der schon vor 1933 auf dem Hof eines großen Gefängnisses errichtet wurde und eine Guillotine beherbergte. 1942 wurde in den Raum noch ein Eisenträger eingezogen, an dem acht Fleischerhaken befestigt wurden, damit gleichzeitig acht Personen umgebracht werden konnten. Während die Guillotine bald nach 1945 abgebaut wurde, sind die Fleischerhaken erhalten und ebenso die Ausgüsse, die gelegt wurden, um das Blut der Ermordeten schnell wegspülen zu können und der Auslass des Handwaschbeckens für die Henker.

Normalerweise ist der Raum direkt unter diesem so besonderen Galgen mit einer Kordel abgesperrt, nur einmal im Jahr, eben am 20. Juli, findet im Raum ein Gottesdienst statt. Dann wird die Kordel entfernt, die Gemeinde steht auch unter den Fleischerhaken und feiert gemeinsam mit den Angehörigen Gottesdienst. Ich durfte im vergangenen Jahr das Abendmahl mit austeilen und reichte den Verwandten der in diesem Raum Ermordeten Christi Leib und Blut. Auch wenn ich längst nicht alle persönlich kenne und ihren jeweiligen Verwandtschaftsgrad, erkennt man beispielsweise den Stauffenberg-Sohn sofort und blickt in sehr ernste, bewegte Gesichter. Im jährlichen Wechsel wird ein evangelischer Abendmahlsgottesdienst und eine römisch-katholische Eucharistie gefeiert – die Ökumene der Märtyrer hat schon länger ermöglicht, dass beide Konfessionen einander Gastfreundschaft an diesem besonderen Tisch des Herrn gewähren. Ich kenne kaum eine derartig beeindruckende Feier von Abendmahl und Eucharistie wie unter den Galgen von Plötzensee, auch in diesem Jubiläumsjahr wird es wieder so sein.

Kreuz um den Hals

Eine ganze Anzahl der Widerstandskämpfer, aber natürlich nicht alle, waren fromme Christenmenschen. Stauffenberg ließ seinen Fahrer am 19. Juli 1944 auf dem Weg von seiner Wohnung in Berlin-Wannsee in den Bendler-Block an der Steglitzer Rosenkranz-Basilika halten und betete dort. Um den Hals trug er, auch wenn das den Spott vieler Kameraden im bald sehr religionsfeindlichen nationalsozialistischen Staat erregte, ein kleines Kreuz, das er auch nicht abnahm, wenn man sich beispielsweise für Sport auszuziehen hatte. Nicht wenige Verschwörer waren sogar der Ansicht, durch den Einsatz ihres Lebens die Verbrechen ihres Volkes und seiner Führung vor Gott sühnen zu können; sie folgten also – wie einst die Märtyrer – Jesus Christus bis zum bitteren Ende nach, in dem sie wie er ihr Leben für die Vielen opferten. 

Diese theologischen Figur verstehen heute nur noch wenige Menschen, weil ihnen der jüdische Hintergrund der Vorstellung vom Opfer, das Schuld tilgen hilft (das meint: „sühnt“), nicht mehr bewusst ist und sie sich auch nicht um ein Verständnis der Hintergründe bemühen. Aber vielleicht kann dann die Überlegung helfen, dass angesichts des gescheiterten Attentats und Staatsstreichs, angesichts der großen Mengen verhafteter, brutal verhörter, gefolterter und vor Gericht Verhöhnter die Frage unabweisbar wurde, ob aller Einsatz vergeblich war. 

Verständlich, wenn in klassischen Figuren eines auf der Bibel gegründeten christlichen Glaubens nach dem Sinn eines gescheiterten Staatsstreichs gesucht wurde – und Sinn gefunden wurde. Denn haben die Attentäter nicht recht darin, dass sie mit ihrem Blut den von Deutschen besudelten Namen Deutschland reingewaschen haben, wenigstens ein Stück? Sind wir nicht inzwischen stolz darauf, dass diese Männer und ihre ebenso wunderbaren Frauen, die sie trugen und stützten, wenigstens einen Versuch unternahmen, das verbrecherische System zu beseitigen und diese ihre Tat hell aus dem grauen Einerlei von Mitläufertum und Verbrechen hervorleuchtete und bis heute aufleuchtet?

Ursprüngliche Begeisterung

Gelegentlich hört man, dass viele der Verschwörer keine Anhänger des Systems einer parlamentarischen Demokratie waren, die 1949 mit dem Grundgesetz etabliert war. Sie favorisierten zum Teil eine konstitutionelle Monarchie, träumten von einem christlichen Staat oder liebäugelten mit Modellen eines Ständestaates. Menschen, die so argumentieren, erinnere ich gern daran, dass die Proklamation, mit der sich die Verschwörer nach dem gelungenen Attentat und Staatsstreich an die Bevölkerung wenden wollten, die bewegende Formulierung von der Wiederherstellung der „Majestät des Rechts“ enthält. 

Ich erkläre, dass diese Forderung nach dem Rechtsstaat der gemeinsame Nenner der allermeisten Widerstandskämpfer und -kämpferinnen war, ganz egal, ob konservativ oder sozialistisch orientiert. Viele haben auch, zum Teil aus ursprünglicher Begeisterung für den Nationalsozialismus, zu Renitenz und Widerstand gefunden aus Erschütterung über die Vergewaltigung des Rechts und die Rechtlosigkeit der Entrechteten im nationalsozialistischen Staat. „Die vielen Morde“ ruft tapfer einer der Verschwörer dem brüllenden Freisler entgegen, als der ihn nach seinen Motiven für den Umsturzversuch fragt. Und die auf Weisung Hitlers filmenden Kameraleute haben wider Willen dieses beeindruckende Zeugnis von Mut und Zivilcourage festgehalten, damit wir davon lernen können für unsere eigene Haltung in schwierigen Zeiten. Glücklicherweise sind die von diesen Kameraleuten auch gefertigten Aufnahmen der Verurteilten vor der Hinrichtung im Gefängnis Plötzensee und dann bei der Hinrichtung selbst verschollen, denn wir sollen ja nicht voyeuristisch glotzen, sondern beim präzisen Hinsehen Haltung lernen und solche Haltung annehmen.

Am 20. Juli werden jeweils auch Rekrutinnen und Rekruten der Bundeswehr vereidigt. Sie schwören ihren Eid in unmittelbarer Nachbarschaft dessen, was damals passierte. Und lernen so durch die Gegenwart dieser besonderen Vergangenheit, dass unter Umständen die Verweigerung eines rechtswidrigen Befehls die höhere und bessere Form von Gehorsam ist. Sie lernen, dass man für das Recht und die Freiheit eintreten muss und es Menschen geben muss, die ihr Leben für das Recht und die Freiheit der anderen einsetzen, damit die Aggressoren nicht Menschen versklaven und terrorisieren. 

Leichen verbrannt

Seit dem Februar 2022 ist glücklicherweise vielen klargeworden, wie unerträglich es ist, wenn man solchen Menschen, die alles dafür einsetzen, damit andere in Frieden und Gerechtigkeit leben, empfiehlt, sie sollten doch die Waffen strecken und dem Aggressor besser freie Bahn eröffnen. Wenn überhaupt, hätte der Nationalsozialismus nur durch einen solchen Staatsstreich der Militärs noch um die Herrschaft gebracht werden können, nachdem er einmal durch Wahl und Kollaboration an die Herrschaft gebracht worden war. 

Am Abend des 20. Juli sitze ich meist still zu Hause und hänge meinen Gedanken nach. In diesem besonderen Jubiläumsjahr feiere ich am folgenden Tag, am Sonntag, den 21. Juli, Gottesdienst in der Kirche, auf deren Friedhof die am 20. Juli 1944 im Hof des Bendler-Blocks Erschossenen begraben wurden. Am 21. Juli kamen SS-Männer, buddelten die in Uniform mit Orden Beerdigten wieder aus und verbrannten ihre Leichen in einem Krematorium, das heute eine beliebte Berliner Event-Location ist. An diese Schandtat, die noch dadurch auf die Spitze getrieben wurde, dass die Asche an unbekanntem Ort verstreut wurde (warum hat eigentlich keiner aus dieser Verbrecher-Truppe sich nach 1945 bei den Angehörigen gemeldet?), erinnert in dem schicken Ort in Berlin-Wedding heute nichts mehr. Unbeeindruckt trinken Menschen hippe Limonade und speisen vorzüglichen Kuchen.

Ich wünsche möglichst vielen, dass die beeindruckenden Menschen, die am 20. Juli 1944 ihr Leben einsetzten für Recht und Freiheit– so wie mir immer wieder in den vergangenen Jahren – Gegenwart werden. Durch einen der vielen Filme, durch den Gottesdienst in Plötzensee, der auch nächstes Jahr wieder stattfindet, oder durch Gespräche mit Angehörigen und Fachleuten. Denn wir sind mitten in schlimmen Krisenzeiten, in denen es dringend Vorbilder braucht, wie man in schwierigsten Zeiten Haltung gewinnen und bewahren kann. Da sollte man wissen, wo sich solche Vorbilder finden. Nicht nur in der Kirche, aber auch dort.

 

 

 

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