Neues unter der Sonne

Spätromantische Chorsinfonie begeisterte in Hamburg
Der Schleswig-Holstein Festival mit Leiter Nikolas Fink am 15. Juli in der Hamburger Hauptkirche St. Nikolai.
Foto: Reinhard Mawick
Der Schleswig-Holstein Festival mit Leiter Nikolas Fink am 15. Juli in der Hamburger Hauptkirche St. Nikolai.

Der Schleswig-Holstein Festivalchor brachte unter Leitung von Nicolas Fink englische Chormusik der Spätromantik zu Gehör. Mit dabei war die Chorsinfonie „Vanity of Vanities“ von Granville Bantock nach Worten des alttestamentlichen Buchs Kohelet. Eine Wiederentdeckung, die die Chorliteratur durchaus bereichern könnte!

Der kulturelle Fundus der Menschheit ist unerschöpflich. Immer wieder werden Werke aus der Vergangenheit dem Vergessen entrissen und können neue Perspektiven eröffnen. Am Wochenende war es wieder soweit, als in der Hamburger Hauptkirche St. Nikolai eine sogenannte Chorsinfonie erklang. Chorsinfonie? Darunter versteht man landläufig eine Sinfonie, in der ein Chor mitwirkt, beziehungsweise als Höhepunkt am Ende hinzutritt – am bekanntesten sicher in Beethovens Sinfonie Nr. 9 („Freude schöner Götterfunken“) oder in Mahlers Sinfonie Nr. 2 oder Nr.8 („Sinfonie der Tausend“). Am vergangenen Sonnabend, 15. Juli,  aber handelte es sich um eine „echte“ Chorsinfonie, also ein Werk, in der es keine Instrumente außer der menschlichen Stimme gibt, und das hört man nicht alle Tage!

Das ausgegrabene Werk heißt „The Vanity of Vanities“, zu Deutsch: „Die Eitelkeit der Eitelkeiten“. Der britische Komponist Granville Bantock (1868-1946), über dessen Leben man sich hier einen ersten Überblick verschaffen kann, schrieb es im Jahre 1913 und der Schleswig-Holstein Festivalchor unter Leitung von Nicolas Fink führte es am gestrigen Samstag – mutmaßlich – erstmals in Deutschland auf – im Rahmen eines Konzertes beim Schleswig-Holstein Musik Festival mit englischer Chor- und Orgelmusik.

Der umfangreiche Text des Bantock-Werkes stammt aus dem alttestamentlichen Buch Kohelet („Prediger Salomo“) und wird in der Komposition in spätromantischer Tonsprache fesselnd entfaltet. Das Werk hat sieben Teile und ist für 12 Stimmgruppen gesetzt und zwar ganz paritätisch je sechs Frauen- und sechs Männerstimmen. Das Sinfonische ergibt sich aus der Art der Stimmführung: Häufig werden Stimmen oder Stimmgruppen parallel und in Oktaven geführt und immer wieder haben Stimmgruppen andere (Melodie-)Stimmgruppen mit rhythmischen Elementen zu begleiten, dazwischen dann eindrucksvolle Tutti-Deklamationsstellen und feinsinnig ziselierte Abschnitte. Das Ganze dauert gut 35 Minuten, in denen wirklich viel passiert. Die 80 Mitglieder des Schleswig-Holstein Festivalkonzert ernteten mit ihrer klanglich überaus geschlossenen und gestalterisch überzeugenden Aufführung mit Recht viel Applaus in der vollbesetzten Hamburger Hauptkirche.

Anmutung eines Tanzes

Als musikalischer Orientierungspunkt des Werkes erscheint gleich zu Beginn der aufstrebende B-Dur-Dreiklang mit dem Motto „Vanity of Vanities“, der dann immer wieder in dieser oder ähnlicher Form wiederkehrt – „eine Art ,Jingle‘“ nennt es Dirigent Nikolas Fink in dem Interview mit der Musikwissenschaftlerin Mirjam Schadendorf im Konzertprogrammheft. Es ist kaum möglich, die zahlreichen Details zu resümieren, die Bantocks Werk im Einzelnen ausmachen, nur zwei Andeutungen: Der zweite Teil des Werkes beginnt mit der Anmutung eines Tanzes, der die Worte „Ich will dich mit Frohsinn prüfen, darum genieße das Vergnügen" illustriert. Dieser Tanz wird teilweise durch mehrere Vokalpartien angedeutet, die „senza parole“ also ohne Worte als Vokalise geschrieben sind. Ein Zeitgenosse Bantocks schrieb dazu nach der Uraufführung, dass ihn dieser Abschnitt an einen „Harem eines östlichen Hofes" erinnere. Und der dritte Teil („Then I saw that wisdom excelleth folly, as far as light excelleth darkness“) beginnt kühn mit einer wiederkehrenden Kadenz in f-Moll. Ein gewaltiger Höhepunkt wird dann mit dem Unisono-Ausruf „Therefore I hated life“ markiert. Da bebte die Kirche, bevor der Teil im Pianissimo mit „Auch das ist Eitelkeit“ zuende geht.

Farbig, anschaulich, klangschön

Generell kann man sagen, dass die existenziell anrührenden Texte dieses besonderen biblischen Buchs zwar mit skeptischer Grundhaltung auf die Welt blicken – Motto: „Alles ist eitel“ und „Es ist nichts Neues unter der Sonne“ –, aber andererseits mit ihrem realistischen Blick auch zur Freude und zum Lebensgenuss aufrufen. Durchaus also eine Perspektive und Haltung, unter der sich viele Menschen jenseits aller religiöser oder ideologischer Präferenzen versammeln können. Alles in allem ist es eine für den Chor stimmlich und mental herausfordernde gute halbe Stunde Musikarbeit, die aber für das Auditorium wie im Fluge vergeht, weil das musikalisch Gebotene sehr farbig, anschaulich und klangschön daherkommt und es mit dem „Vanity-Jingle“ immer wieder einen Haftpunkt gibt.

Bantocks Werk beginnt und endet mit „Eitelkeit". Das biblische Buch Kohelet hingegen endet mit einer Art Schlussfolgerung, die letzten beiden Verse lauten: „Lasst uns am Ende die Summe von allem hören: Fürchte Gott und halte seine Gebote; denn das gilt für alle Menschen. Denn Gott wird alle Werke vor Gericht bringen, alles, was verborgen ist, es sei gut oder böse.“ Wahrscheinlich sind diese rechtgläubigen Verse von einer späteren Redaktion angehängt. Anders wäre das Buch Kohelet bzw. Prediger Salomo sicher nicht in den biblischen Kanon gekommen. Ein Glück, denn es würde etwas fehlen!

Hohe Anforderungen

Es ist eine schöne Tradition des Schleswig-Holstein Musik Festivals (SHMF), dass neben internationalen Stars und Starensembles seit bald zehn Jahren auch der Schleswig-Holstein Festivalchor mitmischt. In ihm musizieren qualifizierte Laiensängerinnen und -sänger, die das Vorsingen bestanden haben und die Freude an den detaillierten, fordernden Probenarbeit von Chorleiter Nicolas Fink haben. Der ist in seinem Hauptberuf Chefdirigent des WDR-Chores und arbeitet darüber hinaus mit erlesenen Profichören. Dementsprechend hoch sind die Anforderungen. Der Erfolg des gestrigen Konzerts, der der akribischen, umfassenden und dabei stimmbildnerisch sensiblen und kundigen Probenarbeit von Nikolas Fink zu verdanken ist, zeigt: Es lohnt sich!

Was bleibt? Es ist durchaus zu wünschen, dass Bantocks Chorsinfonie „Vanity of Vanities“ andere Chöre motiviert, dieses Werk einzustudieren. Für die meisten Laienchöre mag es etwas oder deutlich zu schwer sein, aber für motivierte, etwas üppiger besetzte Kammerchöre durchaus lohnend. Einen Vorteil hat das Werk auf jeden Fall: Die Hälfte eines A-Cappella-Konzertabends steht mit diesem Werk – das ist doch nicht zu verachten. Auf jeden Fall aber kann man nach der gestrigen (mutmaßlichen) deutschen Erstaufführung von „Vanity of Vanities“ dem Motto des Buches Kohelets zum Trotz sagen: Es gibt noch Neues unter der Sonne.

(Sie können hier eine Aufnahme von Granville Bantocks Chorsinfonie „Vanity of Vanities“ mit dem BBC-Chor unter der Leitung von Simon Julo aus dem Jahre 1996 hören, die auf YouTube eingestellt ist. Auf den Seiten der Universität Rochester kann die Partitur des Werkes kostenfrei heruntergeladen werden.)

Transparenzhinweis: Der Autor hat im vergangenen Jahr am Konzertprojekt des Schleswig-Holstein Festivalchor teilgenommen sowie an einigen Proben zu dem hier beschriebenen Projekt.

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