„Toxische Traditionen“
Momentan kreist die kircheninterne Diskussion über die am 25.1. veröffentlichte ForuM-Studie um die Frage, welche Fehler wer und wann bei der Bereitstellung von Personalakten gemacht hat. Klaas Huizing, zeitzeichen-Autor und Professor für Systematische Theologie in Würzburg, blickt tiefer. Er skizziert die notwendigen theologischen Konsequenzen, die sich für ihn aus der Studie ergeben.
Die Veröffentlichung der von der EKD in Auftrag gegebenen Missbrauchsstudie (ForuM-Studie) hat eine Schockwelle ausgelöst und zugleich tiefe Scham. Der Historiker und Co-Autor der Missbrauchsstudie, Thomas Großbölting, legte in einem Interview im Deutschlandfunk am 26.01.2024 den Finger in die Wunde: Er spricht von „toxischen Traditionen“, die ein Klima erzeugt hätten, die den Missbrauch und die Vertuschung begünstigten. Dazu zählt er in erster Linie die Rechtfertigungslehre, die sich als hoch problematisch im Umgang mit den Opfern erwiesen habe. Er spricht zudem von „Harmoniesucht“, einer Nötigung zur Versöhnungshaltung, aber auch von einer „Verantwortungsdiffusion“. Damit zielt Großbölting auf den Markenkern des Protestantismus: die Rechtfertigungslehre. Ich empfinde es als enorm hilfreich, wenn Wissenschaftler von außen als toxisch qualifizierte Traditionen offenlegen, die auch ein Vertuschungskartell befördert haben. Damit ist die Theologie gefordert, endlich inhaltlich Stellung zu nehmen und einen radikalen Umformungsprozess anzustoßen.
Ich sehe zunächst fünf Problemlagen, die dringend bearbeitet werden müssen: (1) eine von einem überzogenen Sündenbegriff gesteuerte, tief dunkel eingefärbte Lehre vom Menschen (Anthropologie); (2) eine Vernachlässung der Opferperspektive; (3) die einseitige Hochschätzung prophetischer Traditionen, die Autoritätsstrukturen begünstigt hat; (4) eine leibfreundliche Theologie und (5) eine Überarbeitung des in Mitleidenschaft gezogenen religiösen Vokabulars.
Erstens: Nicht untypisch für die Genese einer neuen religiösen Bewegung ist die Verschärfung von Positionen, um sich von Vorgängertraditionen sichtbar abzugrenzen: So hat der Protestantismus in der Sündenfrage sich vom Katholizismus dadurch abgehoben, dass jetzt bereits die Neigung zur Sünde als Sünde qualifiziert wird. Der ganze intellektuelle Ehrgeiz zielt darauf, die Universalität der Sünde anthropologisch zu verankern.
Der Skandal ist folgender: Bestimmt man die protestantische Denkkultur als die Kunst hermeneutischer Rückversicherung anhand biblischer Erzählungen, dann springt ein Abwehrverhalten gegen alttestamentliche Erzählungen ins Auge, die diesen Universalismus der Sünde hinterfragen: In der Kain- und Abel-Erzählung fordert die literarische Figur Gott Kain auf, über die Sünde zu herrschen (Genesis 4,7). Offenbar geht das. Damit bekommt die Anthropologie einen milden optimistischen Anstrich: Ja, in der Lebenswelt kann man scheitern, aber man kann auch Nein! sagen.
Hoch zweifelhafter Twist
Damit wird eine alte Grundfrage erneut aktuell: Ist der Wille, wie der Reformator Martin Luther behauptet, wirklich geknechtet oder versklavt? Zur Erinnerung: In einem intellektuellen Streit mit dem Humanisten Erasmus von Rotterdam hielt Luther diese Lesart konsequent durch. Erasmus hatte in seiner Schrift De libero arbitrio (Über den freien Willen) ein Zitat aus der Weisheitsliteratur, hier: Jesus Sirach 15, 14-17, an den Anfang gestellt, der die These vom freien Willen untermauert; Luther antwortete in seiner Schrift De servo arbitrio (Über den geknechteten Willen) mit einem Taschenspielertrick: Weil das Buch Jesus Sirach zu den Apokryphen zähle, also zu jenen Büchern, die nicht Eingang in den biblischen Kanon gefunden haben, dürfe es für dogmatische Grundsatzfragen nicht herangezogen werden, außerdem beziehe sich die Stelle nicht auf den Willen, vielmehr auf den Herrschaftsauftrag über die Erde (dominium terrae). Exegetisch ist dieser Twist hoch zweifelhaft. Die Folgen aber sind beträchtlich: Wenn jeder Mensch ein Sünder ist und sein Wille versklavt, dann drohen eine emotionale Abflachung und Relativierung der als sündig qualifizierten Taten. Entschuldigungsmuster werden eingepflegt: Wir sind doch alle Sünder.
Zweitens: Luthers Rechtfertigungslehre ist bereits häufig in Hinsicht auf einen entscheidenden Aspekt kritisiert worden: Luther stärkt die Täterperspektive. Auch in der Kain- und Abel-Erzählung am Anfang der Bibel, die eine Vorform der Rechtfertigungslehre bietet. Gott macht einen Unterschied auf zwischen der Würde eines Menschen und seinen Taten. Ja. Fraglos. Diese Unterscheidung bewährte sich als ein kultureller Booster, war ein zivilisatorischer Epochensprung. Kain wird geschützt und mit einem „Rachestopper“ ausgestattet, dem Kainsmal. Aber das Opfer Abel steht nicht im Blick.
Dorothee Sölle hat schon vor dreißig Jahren Luthers zentrale Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? als Heilsegoismus gebrandmarkt, weil die Opferperspektive nicht verfolgt wird. Im Gegenteil: Durch die Universalisierung der Sünde drohen eine Relativierung von Taten und ein Klima klebriger Versöhnlichkeit. Versöhnung ist dagegen ein asymmetrisches Verhältnis. Das musst du mir verzeihen? Nein. Es gibt eine aufgeklärte Freiheit, Versöhnung zu verweigern. Auch in dieser Frage gilt: Man kann und darf Nein! sagen.
Gefährliche Vereinseitigung
Drittens: Ich entdecke in der protestantischen Theologie im Verhältnis zu den drei traditionellen Berufsgruppen, die für den Transfer zwischen Gott und Welt zuständig sind: die Propheten durch das Wort, die Priester durch die Weisung und die Weisheitslehrer durch den Rat (vergleiche Jeremia 18,18[1]), eine starke Komplizenschaft mit der Figur des (Unheils-)Propheten. Diese Komplizenschaft hat Gründe, bleibt aber eine gefährliche Vereinseitigung. Das theologische Personal, das sich mit der Figur des Propheten spielerisch identifiziert, erarbeitet sich ein Selbstbild, welches dank der prophetischen Selbstzuschreibung, nämlich den Willen Gottes zu kennen, übermäßig mit Autorität ausgestattet ist.
Dieses Klima herrschte lange in den Pastoraten und Kirchenämtern. Jene emotionale Aufrüstung gehört zur problematischen, bisher kaum aufgearbeiteten Mentalitätsgeschichte des Christentums. Hier bietet die Weisheitstheologie eine alternative, optimistischere oder hoffnungsfrohe Lesart – Luther hat die Weisheitstheologie nicht gemocht und den weisheitlich grundierten neutestamentlichen Jacobus-Brief als ‚stroherne Epistel‘ abgewertet. Sogar Dorothee Sölle, die mir unter den prophetischen Theologen die liebste ist, betont in ihrer Dogmatik Gott denken mit einem schlanken Zitat aus Micha 6,8 („Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist …“), es bestehe gar kein Zweifel daran, was der Wille Gottes ist. Das scheint mir exegetisch weniger eindeutig als behauptet.
Viertens: Wir benötigen eine aufgeklärte Leibtheologie. Das Thema der Leiblichkeit war allerdings lange verwahrlost, dabei ist der Leib der „universale Resonanzboden, wo alles Betroffensein des Menschen seinen Sitz hat“ (Hermann Schmitz). Zugleich gilt: Die affektive Betroffenheit, die berührt und Emotionen aufruft, will auf ihre Lebensdienlichkeit geprüft werden. Namentlich Herrmann Schmitz klagt eine Selbstwirksamkeit ein, um zu den sich als toxisch entwickelnden Begegnungen Nein! sagen zu können. Erst nach der Prüfung der Lebensdienlichkeit können berührende und aufschreckende Erfahrungen zur Orientierung werden und einen Transformationsprozess in Gang setzen. Spielerische Identifizierungen mit Protagonisten in Filmen, Theaterstücken, Romanen, Video-Spielen sind Trainings, um eine Situationskompetenz zu erarbeiten und Selbstwirksamkeit zu schulen.
„Demut“ hilft nicht
Fünftens: Reflexartig griffen Vertreter*innen aus den Leitungsfunktionen der EKD nach der Veröffentlichung der Studie zur Demutsvokabel. Ich bezweifle, ob diese Vokabel aktuell geeignet ist, die Debatte zu befrieden, weil den Opfern oft eine falsche Demut abverlangt wurde. Die Arbeiten der französischen Philosophin Corine Pelluchon demonstrieren, wie viel Aufwand betrieben werden muss, um dieser Vokabel neues Leben einzuhauchen. Dieser Prozess steht der Theologie erst bevor.
Es sind also fünf Aufgabenfelder, die anstehen: (1) Eine Aufklärung und Aufhellung der Anthropologie durch eine Umformung im Sündenbegriff; (2) die Stärkung der Opferperspektive; (3) eine Aufarbeitung der Mentalitätsgeschichte des Christentums, die sich zu einseitig der Prophetie verschrieben hat; (4) eine aufgeklärte Leib-Theologie und (5) die Durcharbeitung religiösen Vokabulars.
[1] Jeremia zitiert hier seine Feinde: „Sie sprachen: »Kommt und lasst uns gegen Jeremia Pläne schmieden; denn dem Priester wird’s nicht fehlen an Weisung noch dem Weisen an Rat noch dem Propheten am Wort! Kommt, lasst uns ihn mit Worten totschlagen und nichts geben auf alle seine Reden!« (Luther, 2017)
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.