Der Schluck aus der Pulle

Warum Alkoholkranke Hilfe und nicht Häme brauchen

„Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind“: Dieses bekannte Sprichwort aus dem Schatz der biblischen Weisheit hat Dietrich Bonhoeffer oft und gern zitiert. Bereits 1934 schrieb er an einen Kollegen: „‚Tu den Mund auf für die Stummen‘ Spr. 31,8 – wer weiß denn das heute noch in der Kirche, dass dies die mindeste Forderung der Bibel in solchen Zeiten ist?“ Unsere Zeiten sind zum Glück nicht „solche Zeiten“, und doch ist sie auch heute aktuell. Bonhoeffer hatte damals die mundtot gemachten Juden im Blick, für deren Recht Christen ihre Stimme erheben sollten. Neunzig Jahre später müssen wir immer noch und wieder neu den Mund aufmachen gegen Antisemitismus – ob er aus dem Osten oder Westen unseres Landes kommt, ob aus dem Norden oder Süden der Welt. Das gilt auch, wenn er vermeintlich philosemitisch laut wird im rechtspopulistischen Empörungsgetöse über den Antisemitismus der muslimischen Zuwanderer.

Deutschland ist hiervergleichbar mit einem trockenen Alkoholiker, der ganz genau weiß, was passiert, wenn er nur einen einzigen Schluck aus der Pulle nimmt. Das bemerkt der Journalist Heribert Prantl und stellt nüchtern fest: „Abseits der offiziösen Anlässe dagegen, und zwar nicht nur an den Stammtischen, greift man immer wieder zum alten Fusel.“ Apropos Alkohol. Die Hebräische Bibel meint im eingangs genannten Sprichwort die damaligen Außenseiter, die Armen und Verlassenen, die sich in ihrem Elend nur noch besaufen möchten. Das Wort hat einen bemerkenswerten Vorspann: „Nicht den Königen ziemt es, Wein zu trinken, nicht den Königen, noch den  Fürsten Bier! Sie könnten beim  Trinken des Rechts vergessen und verdrehen die Sache aller elenden Leute. Gebt Bier denen, die am Umkommen sind, und Wein den betrübten Seelen, dass sie trinken und ihres Elends vergessen und ihres Unglücks nicht mehr gedenken.“

Umkehrung der Moral

Welch eine bizarre Umkehrung unserer Moral! Die belächelt milde den angetrunkenen Politiker im Talkshowsessel, zeigt aber dem Trinker auf der Parkbank die Zähne. Gibt man den Kindern mehr Geld, setzen die Eltern es nur in mehr Alkohol und Zigaretten um, heißt zudem ein Lieblingsklischee. Es wird gehegt und gepflegt in denbwiederkehrenden Diskussionen über die Anhebung von Sozialleistungen, da kann es noch so viele Untersuchungen geben, die es eindeutig widerlegen. Es ist geradezu eine paradoxe Intervention, wenn uns die Bibel mahnt: Achtet darauf, dass die Regierenden nüchtern das tun, was ihre Aufgabe ist, nämlich für die verlassenen und vergessenen Menschen sorgen, die oft so elende Lebensgeschichten haben. Seid großzügig mit den Unglücklichen, die ihr Elend am liebsten ersäufen möchten. Macht für sie den Mund auf!

Am Armutsalkoholismus gibt es nichts, aber auch gar nichts schönzureden, völlig klar. Es gibt ihn ebenso wie den Reichtumsalkoholismus. Ich habe Hochachtung vor allen, die ihre Sucht überwunden haben, und riesigen Respekt vor denen, die suchtkranken Menschen helfen, Wege  zurück ins Leben zu finden. Das ist eine mühsame Aufgabe. Sie braucht das weite Herz, das in dem biblischen Sprichwort steckt.

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