Frieden gegen Freiheit

Gespräch mit dem Potsdamer Militärhistoriker Sönke Neitzel über den Zustand der Bundeswehr, warum eine Dienstpflicht nötig ist und wie militärische Abschreckung funktioniert
Ein Soldat umarmt eine Frau zum Abschied oder zur Begrüßung
Foto: dpa/Hauke-Christian Dittrich
„Die Aufgabe von Streitkräften ist es, auf den Ernstfall vorbereitet und auf dem Schlachtfeld erfolgreich zu sein.“

zeitzeichenHerr Professor Neitzel, ist es ein schlechtes Zeichen, dass wir uns als ein christliches Magazin nach einem Jahrzehnt erstmals wieder mit der Bundeswehr beschäftigen? Zeigt das etwa die erneute Militarisierung des Denkens in der deutschen Gesellschaft?

SÖNKE NEITZELNein, eine Militarisierung des Denkens zeigt das nicht. Denn die Bundeswehr ist ja ein Verfassungsorgan, und es geht darum, dass diese ihre Aufgabe erfüllen kann. Es zeigt eher, in welcher Welt Sie sich als Zeitschrift bewegt haben. Und dass Sie es geschafft haben, Krieg und Militär aus Ihrem Referenzrahmen auszuschließen und sich die Welt so zurechtzulegen, wie Sie sie gerne hätten. Aber so ist die Welt nicht.

Die Themen Krieg und Bundeswehr wurden ja in der Gesellschaft lange verdrängt, vielleicht um die Friedensdividende einzustreichen und die mit der Beschäftigung verbundenen Belastungen beiseitezuschieben. Ist das eine richtige Analyse?

SÖNKE NEITZELJa, das sehe ich so. Mit der Wiedervereinigung gab es eine Zäsur. Aber davor war die Bundesrepublik, auch die DDR, ein hochgerüstetes Land. Die Bundesrepublik hat damals drei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt für Rüstung ausgegeben. Und man darf nicht vergessen, dass trotz der Friedensbewegung die Mehrheit der Jahrgänge der Einberufung zur Bundeswehr gefolgt ist, und die meisten Deutschen eben auch für den NATO-Doppelbeschluss waren. Das Land und seine Regierung haben seinen Verteidigungsauftrag trotz der kritischen Debatten sehr ernst genommen. Nach 1990 hat sich das verändert, was auch verständlich ist. Denn wir alle hatten natürlich die Hoffnung, dass Krieg der Vergangenheit angehört und dass sich die liberale Demokratie auf der Welt durchsetzt.

„Das Ende der Geschichte“, hatte der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama damals ausgerufen.

SÖNKE NEITZEL: Ja, wie sollte man auch nach 1990 aus einer deutschen Perspektive etwas anderes denken? Dabei war der Krieg nie weg. Da liegt der Fehler. Denken wir an die Jugoslawienkriege, an die im Kaukasus. Man ging aber zu sehr von sich selbst aus, da Deutschland von Freunden umgeben war. Dann folgten die Out-of-aera-Einsätze unter der Leitung der NATO, diese Stabilisierungsmissionen, die mit dem alten imaginierten Krieg nichts mehr zu tun hatten.

Auch das war eine logische Konsequenz aus der neuen Weltlage.

SÖNKE NEITZELDass man sich dem anpasst, kann man retrospektiv nicht negativ werten. Ebenso wenig, das Geld in andere Bereiche zu investieren. Der kritische Befund muss sein, dass man aus der Geschichte nichts gelernt hat. Die Briten haben nach dem Ersten Weltkrieg die Streitkräfte bis auf die Schlacke reduziert, weil auch sie der Meinung waren, einen großen Krieg werde es erstmal nicht geben, Deutschland war besiegt. Sie mussten dann 1937 massiv aufrüsten. Sie haben daraus den Schluss gezogen, dass so etwas nie wieder passieren dürfe.

So clever war man in der Bundesrepublik nicht.

SÖNKE NEITZEL: Wir haben 2001 die Bündnis- und Landesverteidigung de facto aufgegeben und gleichzeitig auch die Strukturen abgeschafft, um in einem Eventualfall das Land oder das Bündnis wieder verteidigen zu können. Man hat die Wehrpflicht ausgesetzt und die Kreiswehrersatzämter, Kasernen und Depots gleich mit. Wir haben uns so radikal an eine wahrgenommene Realität angepasst, dass wir jetzt riesige Schwierigkeiten haben, uns auf die Rückkehr des zwischenstaatlichen Krieges nach Europa einzustellen.

Hat das auch mit dem Bild zu tun, das sich die Deutschen im Laufe der Jahrzehnte von der Bundeswehr gemacht haben? Wie hat sich das verändert?

SÖNKE NEITZELEs ist positiver geworden. Es gibt die Bevölkerungsumfragen vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaft der Bundeswehr in Potsdam, die zeigen, dass sich die Bevölkerung seit den 1990er-Jahren immer mehr mit dem Bild der Bundeswehr anfreunden konnte. Also als eine Streitmacht für Stabilisierungsmissionen unterwegs zu sein, so eine Art Polizeieinsatz oder Technisches Hilfswerk. Das war vermittelbar. Am Vorabend des Afghanistaneinsatzes waren wahrscheinlich Bundeswehr und Gesellschaft so eng zusammen wie nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Das war ein Bild der Streitkräfte, das auch die Kirchen und breite Gesellschaftsschichten akzeptieren konnten. Zum Beispiel ging es in Somalia um den Schutz von Lebensmittellieferungen oder in Bosnien um die Stabilisierung dieses kriegsgeschüttelten Staates.

Und um das öffentlich verkündete Brunnenbauen.

SÖNKE NEITZELGenau. Das war ein Bild, mit dem man sich anfreunden konnte. Deswegen war die Popularität der Bundeswehr in den Umfragen viel höher, als man gemeinhin denkt. Die Deutschen waren ja nie in der Mehrheit Pazifisten. Es gab zwar immer Pazifisten, aber nie eine Mehrheit, weder in den 1950er-Jahren noch zu Zeiten des NATO-Doppelbeschlusses in den 1980er-Jahren oder danach. Die Bundeswehr bekommt hohe Zustimmung als ein bewaffnetes Technisches Hilfswerk, aber bekam ein Problem, als sie in Afghanistan dann doch kämpfen musste.

Und sie hatte in Afghanistan viele Verwundete und auch 59 Tote zu beklagen.

SÖNKE NEITZEL: Die Bevölkerung hat nicht verstanden, warum Deutsche am Hindukusch kämpfen müssen. Die Politik hat sich herausgemogelt, und die Frage, warum Bundeswehrtruppen in Afghanistan und Mali sind, nie ehrlich beantwortet. Die Regierung hat keine Seelsorger und keine Entwicklungshelfer in diese Auslandseinsätze geschickt, sondern vor allem Soldaten. Soldaten sind dazu da, militärische Gewalt anzudrohen oder im Notfall auch anzuwenden. Das kann eben auch heißen, dass Menschen ums Leben kommen. Wenn man dazu nicht bereit ist, darf man sie nicht schicken.

Es scheint aber auch ein großes Problem mit der Infrastruktur zu geben. Der Chef des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, sieht die Bundeswehr im freien Fall, und der Heeresinspekteur Alfons Mais hat auch vor einem Jahr gesagt, man sei mehr oder weniger blank. War das überdramatisiert?

SÖNKE NEITZELNein. Der Zustand der Kasernen ist schlimm, ein Graus. Leider versagt die Regierung völlig, das öffentliche Bauen zu reformieren. Und das Urteil von Alfons Mais war völlig richtig. Man müsste ihm das Bundesverdienstkreuz verleihen, weil er als einer von wenigen Generalen mal mutig und tapfer gewesen ist. Das heißt nicht, dass die Bundeswehr keine Panzer, keine Flugzeuge hat. Oder dass sie nicht über motivierte Frauen und Männer verfügt. Aber die Frage ist immer, was der Referenzpunkt ist.

Und was ist der Referenzpunkt?

SÖNKE NEITZEL: Seit dem 24. Februar 2022 geht es um die Bündnis- und Landesverteidigung und nicht mehr um Einsätze wie in Mali. Daran gemessen, ist das Heer in der Tat nahezu blank. Übrigens auch die anderen Teilstreitkräfte. Die haben sich für eine andere Kommunikationsstrategie entschieden und unterliegen manchmal der Selbstillusion, als ob es anders wäre. Aber natürlich sind die Marine und die Luftwaffe genauso blank.

Nun hat Bundeskanzler Olaf Scholz vor einem Jahr diesen berühmten Ausdruck der Zeitenwende geprägt und gleich ein 100-Milliarden-Budget angekündigt. Was ist daraus geworden?

SÖNKE NEITZELDiese Summe wurde hinter den Kulissen des Öfteren als Investitionsdefizit genannt. Für längst überfälliges Material, das seit langem hätte bestellt werden müssen, aber im Haushalt nicht hinterlegt ist. Wie schwere Transporthubschrauber, die Digitalisierung des Heeres oder neue Artilleriegeschütze. Doch die Bestellung dauert seine Zeit, weil ja auch die deutsche Rüstungsindustrie mittelständisch organisiert ist, in den kleinsten Serien Manufakturwesen betreibt. Wir wollten das als Bundesrepublik nie anders. Nun kann aber niemand erwarten, dass über Nacht mal schnell diese 100 Milliarden aus­gegeben sind. Es geht auch nicht um Schnelligkeit, letztlich ist unser Referenzpunkt, die Streitkräfte einsatzbereit für die Bündnis- und Landesverteidigung zu machen.

Man kann natürlich viel im Ausland kaufen.

SÖNKE NEITZELJa, das wird auch gemacht. Aber dass die Summe nicht ausreicht, wissen alle.

Sie sprechen häufiger von einer nötigen Neugründung der Streitkräfte. Sehen Sie Parallelen zu dem, was wir Anfang der 1950er-Jahre in der Bundesrepublik erlebt haben?

SÖNKE NEITZELEs ist eine andere Situation, weil man von 1955 an die Bundeswehr aus dem Nichts aufbauen musste. In den Kasernen, die es noch gab, saßen die Alliierten. Die Bundeswehr heute ist in ihrer gesamten Struktur und in ihrem Denken auf Auslandseinsätze ausgerichtet. Und zwar auf Auslandseinsätze in niedriger und maximal mittlerer Intensität. In Afghanistan sind 37 Männer und Frauen im Gefecht gefallen. So schlimm das war – die Ukraine hat seit Februar 2022 zweimal die Größe des deutschen Heeres verloren. Wir reden über völlig andere Dimensionen. Und jeder weiß, dass Kriege zwischen Staaten hochgerüsteter Armeen so verlaufen. Deshalb muss gerade das deutsche Heer eine neue Struktur und ein anderes Mind-Set bekommen. Sie muss vorbereitet sein, dieses Land, den Kontinent Europa, die NATO zu verteidigen.

Was meinen Sie mit Mind-Set?

SÖNKE NEITZELDie Institution Bundeswehr war natürlich in diesen Zeiten der Out-of-area-Einsätze immer im Frieden. In den Lagern in Masar-e Scharif gab es Tanzkurse, die Geschwindigkeit von Autos wurde geblitzt, es wurde der Müll getrennt, deutsche Verwaltungsstrukturen. Die Institution war offiziell im Frieden dabei, aber so erklärt sich auch die Diskrepanz vieler Soldaten, die die Situation als Krieg wahrgenommen haben.

Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg wurde damals kritisiert, weil er zum ersten Mal das Wort Krieg in den Mund nahm.

SÖNKE NEITZEL: Genau. Und nach dem 24. Februar 2022 enden die Gewissheiten. Ist es wahrscheinlich, dass Russland in fünf Jahren die NATO angreift? Nein! Können wir es ausschließen? Nein! Bereiten wir uns vor und schrecken ab und sind dann, falls die baltischen Staaten oder Polen wirklich überfallen werden, bereit, diese zu verteidigen. Das muss die Aufgabe der Bundeswehr sein. Wenn wir diese Aufgabe nicht erfüllen können, ist sie zu teuer, dann sollten wir sie abschaffen.

Martin Niemöller, prominenter evangelischer Theologe und NS-Widerstandskämpfer, appellierte Ende der 1950er-Jahre in seiner Kasseler Rede an das Gewissen der Deutschen: „Denn sie wissen, was sie tun! Mütter und Väter sollen wissen, was sie tun, wenn sie ihren Sohn Soldat werden lassen. Sie lassen ihn zum Verbrecher ausbilden.“ Was ist die Aufgabe eines Soldaten, einer Soldatin heute? Töten?

SÖNKE NEITZEL: Mit dem preußischen Militärwissenschaftler Carl von Clausewitz geht es in Kriegen darum, dem Gegner seinen Willen aufzuzwingen. Das versuchen die Russen gerade mit der Ukraine, indem sie die ukrainischen Streitkräfte auszuschalten versuchen. Nicht notwendigerweise töten. Es wäre ja theoretisch vorstellbar, dass die Ukrainer kapitulieren. Aber die allermeisten Staaten entscheiden sich für die aktive Verteidigung. Die Aufgabe von Streitkräften ist meines Erachtens, auf diesen Ernstfall vorbereitet und – so dieser eintritt – auf dem Schlachtfeld erfolgreich zu sein. Das heißt natürlich töten. Alles andere ist Augenwischerei.

In der Ukraine sterben die Menschen für ihre Freiheit.

SÖNKE NEITZELDas beschreibt das ethische Dilemma in der Ukraine, man wiegt Frieden gegen Freiheit auf. Wenn die Ukraine sich nicht gewehrt hätte, wären Zehntausende Ukrainer noch am Leben. Sie hätten aber unter russischer Herrschaft ihre Freiheit verloren. Es geht genau um das Abwägen. Die Pazifisten argumentieren, sie können das Leben nicht gegen die Freiheit aufwiegen, dann lieber in Unfreiheit leben. Die Ukrainer sagen: Nein, wir sterben lieber, als dass wir in Unfreiheit unter russischer Knute leben. Und das ist ja auch die Logik der NATO. Wenn Russland Polen oder die baltischen Staaten angreift, dann eilen alle NATO-Staaten zu Hilfe, und die Bundesrepublik müsste mit Soldaten in den Kampf ziehen, also auch töten.

Die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus und auch ihr Vorgänger Heinrich Bedford-Strohm befürworten die Lieferung von Waffen in die Ukraine. Der EKD-Friedensbeauftragte Friedrich Kramer aber wehrt sich vehement dagegen. Können Sie diese Position nachvollziehen?

SÖNKE NEITZELJa, absolut. Das sind zwei sehr valide Positionen, die man ernst nehmen muss. Wir leben in einem liberalen Land, wo kämen wir denn hin, wenn wir nicht einmal über diese Positionen diskutieren könnten? Ich kann das absolut verstehen, und es gibt historische Beispiele dafürDie Tschechoslowakei hat 1938 auch nicht gekämpft. Sie wurde vom Deutschen Reich besetzt, ohne einen Schuss abzufeuern. Die deutsche Besatzung war dann aus einer Reihe von Gründen glimpflicher als in Polen. Das Land hat 1939 einen anderen Weg gewählt, kämpfte, unterlag, weil die Westmächte ihre Versprechen nicht einhielten, und erlebte eine der schlimmsten Besatzungen in ganz Europa.

So könnte man das Argument stützen, keine Waffen an die Ukraine zu liefern.

SÖNKE NEITZELDie Ukraine wäre Russland dann ausgeliefert und lebte unter russischer Besatzung – mit all den Folgen. Man tauschte den Frieden gegen die Freiheit. Es gibt immer ein ethisches Dilemma, wenn wir Waffen liefern, denn mit diesen Waffen werden Menschen getötet. Wie also umgehen mit dem fünften Gebot: Du sollst nicht töten? Keine Waffen zu liefern, das würde darauf hinauslaufen, dass die Diktatoren, die Krieg als Mittel ihrer Politik einsetzen, letztlich die Welt regieren können. Das ist nicht meine Position.

Und das kann doch eigentlich nur jeder für sich selber entscheiden: Ich nehme keine Waffen in die Hand.

SÖNKE NEITZELWenn wir keine Waffen liefern, treffen wir für die Ukraine diese Entscheidung. Es ist eben auch unsere Verantwortung, was in der Ukraine passiert und was nicht passiert. Wir leben in unglaublich polarisierten Zeiten, und die evangelische Kirche war besonders stark darin, auf Leute, die sich für die Bundeswehr ausgesprochen haben, zuzugehen. Viele, die sich pro Bundeswehr positioniert haben, wurden sofort in die Nazi-Ecke abgeschoben und als Militaristen beschimpft. Das war eine unsägliche Diskussion, und wir sollten jetzt nicht denselben Fehler machen und den-
jenigen, die gegen Waffenlieferungen sind, respektlos begegnen. Wir brauchen ein offenes Diskussionsklima.

Was beim Ukrainekrieg irritiert, ist die Art des Krieges. Das ist fast der Krieg der Urgroßeltern mit Schützengräben, mit Panzerbewegungen, mit Land­gewinnen. Hätten Sie das erwartet?

SÖNKE NEITZELMein Argument war immer, dass sich der Krieg evolutionär verändert. Vor dem 24. Februar 2022 war die tödlichste Waffe der Welt das AK 47, also die Kalaschnikow, ein Schnellfeuergewehr und nicht eine Drohne. Ein Think-Tank-Problem ist, dass derjenige mit der steilsten These die größte Aufmerksamkeit hat. Das Szenario des Cyberwar war natürlich prägnanter als die These, der Krieg wird sich evolutionär weiter verändern. Wir haben nun in der Ukraine alte Kriegsformen, vor allem Artillerie, die in ihrer Dominanz eher an den Ersten Weltkrieg erinnern als an den Zweiten. Die Ukrainer setzen aber jeden Tag 3 000 bis 4 000 Drohnen ein. Es ist also das Alte wie das Neue. Auch ich habe diesen Krieg und diese Formen nicht vorausgesehen. Mich hat eher gewundert, dass die Russen nicht in der Lage waren, die Ukraine schnell zu besiegen.

Wenn es eine evolutionäre Entwicklung gibt, heißt das aber auch, wir sehen ein letztes Mal diesen alten Krieg. Oder geht es am Ende immer um boots on the ground, also um Truppen vor Ort?

SÖNKE NEITZELEs gibt schon Zäsuren, Übergangsphasen. Ich glaube, dass jetzt jedem klar ist, selbst der SPD, dass ein Krieg ohne bewaffnete Drohnen nicht vollstellbar ist. Wir werden keinen Krieg mehr erleben, in dem Drohnen nicht eine große Rolle spielen.

Putin hat am Anfang des Krieges ziemlich unverhohlen mit Atomwaffen gedroht. Das hat ihm offenbar nicht so viel gebracht, oder?

SÖNKE NEITZELAus Putins Sicht war es richtig, das zu tun, denn er hat den Westen abgeschreckt. Ein klassischer Fall, den wir jetzt an der Universität analysieren können: Abschreckung funktioniert, und zwar gegen uns. Das heißt, die Amerikaner sind nicht aufs Ganze gegangen, jetzt erst kommen die Abrams-Panzer an, Deutschland liefert keine Marschflugkörper. Ja, man hat die Ukraine unterstützt, aber besonders in Deutschland hat man sehr gezögert.

Aber sukzessive ist doch alles geliefert worden.

SÖNKE NEITZELJa, aber too late, too little. Das Urteil über den Krieg werden die Historiker in dreißig Jahren fällen. Aber wenn ich jetzt provisorisch urteile, ist der gefährliche Punkt einer Offensive immer, wenn man den Kulminationspunkt erreicht, die eigenen Kräfte schwach werden, die Versorgung ausgeht. Und dieser Punkt war im September vergangenen Jahres erreicht. Zu diesem Zeitpunkt war die russische Armee nicht voll mobilisiert, sie hatten nur diese 130 000 Mann; die Ukraine war zu einem Gegenangriff in der Lage. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Ukraine aber nicht die Waffen, die sie heute hat. Wenn sie die gehabt hätte, wäre der Erfolg, den sie hätte erzielen können, viel größer gewesen. Jetzt steht die russische Armee auf einem viel breiteren Fundament, sie konnte sich zur Verteidigung einrichten, die Minenfelder legen und so weiter. Kanzler Olaf Scholz hat im vergangenen Jahr gesagt, die Lieferung von zwanzig Schützenpanzern könne er nicht durchführen, weil er einen Atomkrieg verhindern müsse. Das war natürlich damals schon Unsinn. Heute liefert man sie ohne Augenzwinkern, obwohl die strategische Lage keine andere ist.

Also war Putins Atomdrohung für ihn ein Erfolg, nämlich ein Zeitgewinn.

SÖNKE NEITZELJa, unbedingt. Die Abschreckung wirkt gegen uns. Bei allem, was geliefert wird, was ja verdienstvoll ist, steht der Westen auf der Bremse.

Zum Abschluss: War die Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland ein Fehler oder ein Qualitätssprung?

SÖNKE NEITZELDie Aussetzung war zu überhastet, zu unüberlegt, aber es hat ja einen Grund, warum sich bis auf fünf Ausnahmen alle NATO-Staaten von der Wehrpflicht abgewendet haben.

Wenn die Bundeswehr bis 2031 wieder auf 203 000 Soldatinnen und Soldaten wachsen soll, brauchen wir dafür eine allgemeine Dienstpflicht?

SÖNKE NEITZELJa. Ohne eine wie auch immer geartete Dienstpflicht oder ein Milizsystem, wie es die Skandinavier haben, wird es nicht gehen. Wenn wir nichts tun, wird der Personalbestand der Bundeswehr bis 2030 auf etwa 150 000 Männer und Frauen sinken. Man kann nur sagen, es ist eine Aufgabe von Boris Pistorius und dem Bundeskabinett, hier mutige Entscheidungen zu treffen, weil die Personaler wissen, dass alle Social-Media-Kampagnen nicht dazu führen werden, den Personalbestand zu halten, geschweige denn zu steigern. Da Politik in der Regel feige ist, wird aber nichts passieren. Und der Personalbestand der Bundeswehr wird sinken, nicht steigen.

 

Das Gespräch führten Philipp Gessler und Kathrin Jütte am 31. Juli in Berlin.

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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