Reviere abspreizen

Punktum

Warum der Mensch vor Sonnenaufgang sein Handtuch auf dem Liegestuhl ausbreitet oder einen Sonnenschirm in den Boden rammt, wie einst die Amerikaner die Fahne auf dem Mond - das ist hinlänglich bekannt. Dass die Reviernahme sogar dringend geboten ist, erläuterte der kalifornische Anthropologe Robert Edgerton schon in den Achtzigerjahren.

In seinem Buch Alone together erklärt er, warum es Alt und Jung, Dick und Dünn, unterschiedlich in Religion und Herkunft, gemeinsam auf engstem Raum an Poolen und Meeren miteinander aushalten können. Strandburgen, Sonnenschirme und -segel, Strandmuscheln und Pavillons sind des Rätsels Lösung. Der Mensch zeigt Flagge, steckt sein Revier ab und setzt dem Nachbarn Grenzen. In Bikini und Badehose dient der persönliche Schutzraum dem entspannten Frieden. So lässt es sich gut mit der Raumnahme leben.

Weit entfernt vom Urlaubsparadies wird untereinander im tagtäglichen Verkehr mit härteren Bandagen gekämpft. Da gibt es den Sitznachbarn im Flugzeug, der die Armlehne so selbstverständlich belegt, als hätte er für seinen Ellbogen einen Aufpreis bezahlt. Oder den jungen Mann im Bus, der sich den letzten freien Platz vor älteren Mitmenschen im Endspurt schnappt. Dazu kommt der Nervenkitzel im Supermarkt, wenn zwei bepackte Einkaufswagen frontal aufeinander zurollen, nach dem Motto: Wer zuerst ausschert, hat verloren.

Aus der Verhaltensbiologie ist bekannt, dass es vor allem in dicht besiedelten Gebieten zu solchem vierschrötigen Gebaren kommt. Wenn die Tiere bei Überpopulation ihr Revier besonders heftig verteidigen, so tut es der moderne Mensch ihnen offenbar nach.

Doch ist der Mensch nicht seit jeher stolz darauf, mehr Hirn als ein Tier zu haben? „Das menschliche Gehirn kombiniert einen großen Cortex mit einer relativ dichten Packung Übertragungsgeschwindigkeit und starker Parzellierung. Daraus resultiert die höchste Informationsverarbeitungskapazität und Intelligenz unter allen Lebewesen“, äußerte sich der Hirnforscher Gerhard Roth dazu ausführlich in der Süddeutschen Zeitung.

Die Teilnahme am öffentlichen Nahverkehr stellt jedoch die Erkenntnis der Wissenschaft infrage. Wie wäre es sonst zu erklären, wenn sich Männer im Zug so breitbeinig platzieren, dass sie ganze zwei Sitze in Anspruch nehmen? Biologie, Anatomie, Dominanzgebaren? Erklärungsmuster gibt es in aller Ausführlichkeit. Doch das so genannte Manspreading bringt es auf den Punkt. Ins Gespräch gebracht hat es eine Kampagne der New Yorker Verkehrsgesellschaft MTA. Die brachte vor einem Jahr in ihren Zügen Schilder an, auf denen die Beinspreizer aufgefordert werden, sich zusammenzureißen: „Dude, stop the spread, please - it’s a space issue.“ Hi Alter, stopp das Spreizen, sonst gibts Platzprobleme.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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