Zwischen zwei Ufern
Im niederbayerische Erlau, das an der Donau liegt, hat Reiner Kunze nach dem Weggang aus der DDR zusammen mit seiner Frau ein neues Zuhause gefunden. „Wir schlafen, die wange am fluß/ an der unbeirrbarkeit des wassers.“ An der Donau hat der Literat die inspirierende Stille gefunden. Seine Wörter stammen nicht von den Wühltischen der Sprache, sie sind dem Tode abgeschwiegen.
Und was lernt man am Wasser? Schönheit, Wahrheit, Liebe und Stille, Haltungen der Achtsamkeit. Für die Schönheit musste Kunze erst Augen bekommen. In Oelsnitz im Erzgebirge, wo er 1933 geboren wurde, war ihm das nicht in die Wiege gelegt. Wertvolle Kunst oder schöne Bücher? Kunze verneint. Fehlanzeige. Es gab zu Hause ein einziges Bild, an das er sich erinnert: Über der Schlafzimmertür hing ein Farbdruck, der Jesus mit Hirtenstab, eine Schafherde und pausbäckige Engel am rosigen Himmel zeigte. Es gab auch kaum Bücher. Aber es gab Kohlehalden, wo er Kohlen lesen musste: „Meiner kindheit liehen ihre farben/ kohle, gras und himmel/ Unter dieser trikolore trat ich an,/ ein hungerflüchter, süchtig/ nach schönem.“ Das Schöne hat sich Kunze erschrieben, und er hat es auch in seinem Haus am Donauufer gefunden.
Kunze studierte Philosophie und Journalistik. Er war wissenschaftlicher Assistent an der Universität Leipzig und hatte einen Lehrauftrag an der Fakultät für Journalistik. Kurz vor Abschluss der Promotion gab er die Stelle auf: „Ich hatte begriffen, dass es nur darum geht, das Prinzip durchzusetzen, auch über den Menschen hinweg.“
Kunze hielt sich als Hilfsschlosser über Wasser und blieb auf dem Posten der Wahrheit: „Bleibe auf deinem Posten und hilf durch deinen Zuruf; und wenn man dir die Kehle zudrückt, bleibe auf deinem Posten und hilf durch dein Schweigen.“ Dieses Senecazitat hat Kunze als Motto seinem Gedichtband „zimmerlautstärke“ vorangestellt.
Er hat in seinem Leben nie die Wahrheit zu einem bequemen sich durchmogeln ermäßigt. Nachdem Truppen des Warschauer Paktes am 20. August 1968 in die Tschechoslowakei einmarschiert waren, trat er aus der SED aus. Dies war nach der Kündigung der Assistentenstelle die zweite große Zäsur in seinem Leben. Und die Konsequenzen bekam er bald zu spüren.
Kunze wird zur persona non grata. Die Bezirksverwaltung Gera des „Ministeriums für Staatssicherheit“ eröffnet gegen Kunze den operativen Vorgang „Lyrik“. Er hat nach dem Fall der Mauer diesen Vorgang unter dem Titel „Deckname Lyrik“ in Auszügen publiziert. Vorgeworfen wird ihm: Er behaupte, die DDR sei ein großes Gefängnis, die Kulturpolitik eng und dogmatisch, und er hege Sympathie für revisionistische und konterrevolutionäre Auffassungen. Nach dem Erscheinen des Buches „Die wunderbaren Jahre“ wird Kunze am 20. November 1976 aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. Am 7. April 1977 stellt er den Antrag, aus der DDR -Staatsbürgerschaft entlassen zu werden. Drei Tage später wird der genehmigt. An den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker schreibt Kunze: „In meinem Buch ´Die wunderbaren Jahre´ habe ich nicht über Randerscheinungen geschrieben. Es sind Erscheinungen aus der Mitte. Leider.“ Im selben Jahr bekommt er in Salzburg den Georg-Trakl-Preis verliehen. Und am Ufer der Salzach hält er fest: „Heimat haben und Welt, und nie mehr der Lüge den Ring küssen müssen.“ Poesie ist für ihn, außer Wahrheit, vor allem Poesie.
Reiner Kunze bekam 1959 eine Postkarte aus dem böhmischen Aussig an der Elbe (Usti’ nad Lebem). Und die löste eine Korrespondenz von über 400 Briefen aus. Denn die Absenderin war seine spätere Frau Elisabeth. Die war zweisprachig aufgewachsen, und über sie lernte Kunze auch die tschechische Literatur kennen - also ein doppelter Gewinn. Die Übertragungen tschechischer Gedichte kann man in dem Band „Wo wir zu Hause das Salz haben“ nachlesen. Das Elbwasser brachte dem deutsche Schriftsteller sozusagen das Geschenk der tschechischen Sprache und Literatur. Von daher ist das Werk von Kunze voller Liebesgedichte: „Rudern zwei ein boot, der eine kundig der sterne, der andre kundig der stürme, wird der eine führn durch die sterne, wird der andre führn durch die stürme, und am ende ganz am ende wird das meer in der erinnerung blau sein.“ All die Abgründe des Wassers, die Untiefen einer Beziehung, sind am Ende, in der Erinnerung, blau, weil sich in ihnen der Himmel spiegelt.
Der baden-württembergische Schriftsteller Arnold Stadler hat im Vorwort zu seiner Psalmenübertragung ausgeführt, dass die Messliturgie für ihn zur frühesten Erlebnisform von Sprache wurde. In deren Ritual und Sprachhaus wuchs er auf. Dazu gehörte auch die Deklamation der lateinischen Psalmen beim Stufengebet: Introibo ad altare Dei. Ad Deum qui laetificat juventutem meam, „dass ich hineingehe zum Altar Gottes, zu dem Gott, der meine Freude und Wonne ist“ (Psalm 43,4).
Die liturgische Sprache war für Stadler nicht nur schön, sondern auch geheimnisvoll. Dieses Geheimnis sieht er schrumpfen in einer Welt, die über alles herfällt, über alles plappert. Der Psalter dagegen beginnt mit dem Wort: „selig, glücklich, heil“. In seiner Seligpreisung des Mannes, der nicht am Stammtisch sitzt (Psalm 1), hat Stadler seine Widerständigkeit gegen eine gleichgeschaltete und uniformierte Welt formuliert und seine Sehnsucht nach Unausgesprochenem und Unaussprechlichem artikuliert, nach dem Geschmack von Heimat, die Wurzeln schenkt und nicht um das bloße Wohlergehen kreist. So wurde die Sprache der Liturgie für ihn zur Sprachlehrerin. Die liturgischen Formeln empfand er nicht als gefühlsarme Stereotype, sondern als kraftvolle Expressionen, die das Leben weit und schön machen. Psalm 1 lautet bei Stadler: „Wunderbar der Mann, der nicht aufs Volk hört, den Leuten nicht nach dem Maul redet und am Stammtisch bei denen herumsitzt, die immer alles besser wissen. Das ist ein Mann, der nichts als Freude hat am Herrn, der ihm den Weg weist, Tag und Nacht. Er wird ein Baum sein, direkt am Wasser. Er wird zur rechten Zeit seine Früchte tragen. Seine Blätter werden nicht welken. Wo er steht, steht’s gut um ihn.“
Stadler tabuisiert Gott nicht, er redet ihn an, wie der Psalmist: direkt, bedrängend, hoffnungs- und erwartungsvoll. Gott ist für ihn eine Wirklichkeit. Das unterscheidet ihn von vielen Zeitgenossen, für die es anscheinend keine Tabus mehr gibt, außer - Gott: „Tabus gibt es keine mehr, außer Gott, dem Bankkonto und der Wahlkabine. In einem meiner Romane stellt sich der Ich-Erzähler vor, wie es wäre, wenn er an Gabi Stauch-Stotteles 50. Geburtstag das Geburtstagskind aufforderte, ein Tischgebet zu sprechen. Er kommt zur Entscheidung, dass es peinlicher wäre, wenn er in der wohlgestimmten Wellness-Runde seine Freundin aufforderte: ´Zieh Dich aus!´ Das wäre überhaupt nicht mehr peinlich, sondern der witzige Höhepunkt des Abends.“
In seinen Geschichten aus dem Zweistromland beschreibt Stadler seine Kindheit im Himmelreich, in dem er aufwuchs, in Rast, das zwischen oberer Donau und Bodensee liegt: „Es war eine Kindheit unweit von einem Ort, der Himmelreich hieß, die Sehnsucht war also entsprechend, der Himmel über dem Himmelreich groß. Und so führten sie von Vorfrühling bis Spätherbst ein Leben im Freien… Die Zeit schien, unweit vom Himmelreich, damals schon Ewigkeit zu sein, als wäre die Ewigkeit ein Stück von ihnen gewesen. Doch aus jenem ersten Leben wurde bald Schnee von gestern.“ Aus diesem Paradies wurde er nach und nach vertrieben: „Selbst die Liebe war irgendwann etwas Gewöhnliches geworden, als wäre es Kartoffelsuppe. Auch die Pille war eingeführt in der Zwischenzeit. Das war der Tod von Romeo und Julia. Bald gab es nur noch Wunschkinder. Wie schön war alles geworden! Und schöner und schöner, die Schönheitschirurgen lösten die Analytiker ab. Und die hatten noch die Beichtväter verdrängt, all die seligmachenden Sündenbekenntnisse in Zeiten, einst als das Leben noch vor ihm lag.“ Die Sehnsucht nach dem Baum am Wasser wird zur Sehnsucht nach dem Baum im Paradies, aus dem er sich in eine Welt vertrieben fühlt, die alles verzweckt. Der Glaube ist für Stadler Platzhalter des Zweckfreien, befruchtend, wie das Wasser für die Wurzeln eines Baumes.
„Sprache ist immer die Sprache der Durstenden, wenn sie keine Folklore sein will“, schreibt der Altpräsident des deutschen Pen-Clubs Said in seinen ost-westlichen Betrachtungen. Der gebürtige Teheraner lebt seit 1965 in München. Das hört sich fast zu harmlos an. Denn er trägt seine Heimat bei sich, sie ist ihm ein portatives Vaterland. Mit Heimat verbindet er die Herkunftssprache und ihre Vorstellungswelt. Noch heute denkt er beim Wort „Wasser“ weniger an einen rostfreien Wasserhahn mit Mischbatterie, aus dem man jederzeit wie selbstverständlich Wasser bekommen kann, als vielmehr an das Wort ab (persisch für Wasser), das jene blaue Schale mit benennt, mit der man dem Gast Wasser reichte. Niemand hätte einem Fremden Wasser vorenthalten: „Er bekam das wasser, meist in einer blauen schale, die er wiederum aus ehrfurcht vor dem inhalt beidhändig hielt und an die lippen führte, nachdem er laut der schiitischen märtyrer gedacht hatte, waren doch diese heiligen märtyrer in der wüste von kerbala beinah verdurstet, bevor sie von den apostaten niedergemetzelt wurden.“ Said lebt in zwei Sprachwelten: Nach dem Deutschen greift er, es gebietet, präzise zu sein. Das Persische ergreift ihn, lässt ihm Freiraum, ist reich an Bildern.
Said ist als Fremder selber auf der Suche nach Wasser, das ihm gereicht wird. Er will barfüßig bleiben, die eigenen Schritte hören und die Fühlungnahme mit sich nicht verlieren. So hat er zur Gattungsform der Psalmen gegriffen. Said äußert sich aber nicht als Angehöriger einer bestimmten Konfession. Er spricht Gott mit seinen Gefühlen, Regungen, seinen Brüchen an, will ihn schützen gegen alle Gottbesitzer, gegen die „Faktisten“, die positivistisch von ihm reden. Er will Gott auch vor der eigenen Rechthaberei schützen, die Gott klein macht, um sich groß zu machen: Ich suche Zuflucht bei dir vor meinen Wahrheiten.
Immer ist in Saids Psalmen die Angst zu spüren, durch die Anrede Gottes das eigene Ich auszulöschen: Herr schütze meine Freiheit. Ein Gebet, das nicht mit der existenziellen Bedürftigkeit des Beters zu tun hat, ist keines, sondern nur fromme Wortdiarrhö. Insofern sind diese Psalmen Gebete, sie haben mit dem Beter, in diesem Fall mit dem Schreiber zu tun. Sie sind Sehnsuchtssprache, Durstsprache. Hier trifft er sich mit dem Ton des Psalmisten: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, dürstet meine Seele nach Gott“ (Psalm 42,2-3).
Etwas von dieser Sehnsucht steckt auch in Saids Psalmen: „herr ich weigere mich das gebet als waffe einzusetzen ich wünsche es als einen fluß zwischen zwei ufern.“
Erich Garhammer