Einseitig und veraltet

Über Sekten in Deutschland
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Der Autor will aufzeigen, dass religiöse Sonderformen ein konstitutives Merkmal der Geschichte des Christentums bilden, die aber aus machtpolitischen Gründen ausgeschlossen wurden. Seine Perspektive wurde längst als einseitig widerlegt.

In den aktuellen Debatten um die gesellschaftliche Integration von Randgruppen erfahren die religiöse Toleranz und der interreligiöse Dialog eine hohe Aufmerksamkeit. Der Autor, ein heute als Lektor tätiger Religionswissenschaftler, hat für das häufig zu beobachtende Scheitern interreligiöser Dialogbemühungen eine einfache Erklärung parat, die seinem Buch zugrunde liegt. Die christlichen Kirchen hätten als einer der weltpolitisch mächtigsten Institutionen der Weltgeschichte eine Monopolstellung in Sachen der Wirklichkeitsdeutung eingenommen. Dabei sei der Wille zur politischen Gestaltungsmacht entscheidungsleitend gewesen und alle unliebsamen Splittergruppierungen als Häresien und später als Sekten ausgeschlossen worden.

Dieses Grundmotiv zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch, und Willms versucht es in einer rasanten Gesamtskizze von der Urgemeinde bis zur modernen Esoterik in elf Kapiteln "von Paulus bis Scientology" nachzuweisen. In einem hastigen Durchlauf wird der Leser mit Schwärmern, Täufern und Häretikern bekanntgemacht, hört etwas über die Amish People, evangelikale Fundamentalisten und die Pfingstbewegung, das Opus Dei und andere katholische Sondergemeinschaften, Theosophen und Freimaurer, Buddhismus im Westen, Satanismus und Scientology. Auf wissenschaftlicher Basis will der Autor aufzeigen, dass religiöse Abweichungen und Sonderformen ein konstitutives Merkmal der Geschichte des Christentums bilden, die aber aus machtpolitischen Gründen diskreditiert und ausgeschlossen worden sind.

Auf unterhaltsame Weise und in flüssiger Sprache werden zahlreiche Details berichtet, die dem Grundtenor des Buches entsprechen. Ergebnisse von empirischen Studien zu Konversionsprozessen und über Mitglieder und Aussteiger neureligiöser Bewegungen werden leider nicht berücksichtigt. Die einzelnen Epochen werden durch prägnante Merkverse eingeleitet wie: "Ohne Kirche - keine Hölle" (Max Frisch), "Kaum haben sie Christus gepredigt, beschuldigen sie einander Antichristen zu sein" (Voltaire) und "Im Grunde sind alle Ideen falsch und absurd. Es bleiben nur die Menschen, so wie sie sind" (Emil Cioran).

Begriff der Sekten vermeiden

Der Autor vertritt damit eine Perspektive, die kirchengeschichtlich und religionswissenschaftlich längst als einseitig widerlegt wurde. Dennoch geht er davon aus, dass die "Neuoffenbarungen" von Jesus und Mohammed von mächtigen Institutionen kanonisiert worden seien, die kompromisslos, intolerant und nicht selten gewaltsam ihr Heilsmonopol ausgebaut hätten.

Kategorien moralischer Beurteilung lehnt der Autor eigentlich ab - verwendet sie aber selber. Dass etwa Reiki große Verbreitung unter professionellen Therapeuten gefunden habe, sieht der Autor durch seine abwegige Behauptung gestützt, wie unscharf der Bereich zwischen vermeintlich "böser" esoterischer und "guter" psychotherapeutischer Geistheilung sei. Die 35000 Mitglieder der Bundespsychotherapeutenkammer bezeichnet der Autor als universitär ausgebildete "Geistheiler". In der Einführung wehrt sich der Autor gegen Vorurteile, der Leser solle offen und neugierig um ein Verstehen bemüht sein. Das ist aber nur möglich bei einer ausgewogenen Darstellung der Fakten, die beim Thema neuer religiöser Bewegungen schwierig, aber nicht unmöglich ist.

"Sekten" sind in Deutschland kaum noch ein Thema. Das war in den Neunzigerjahren noch anders, weshalb der Deutsche Bundestag eine interdisziplinäre Enquete-Kommission einsetzte, die eigene Forschungsprojekte und Expertisen über "Sog. Sekten und Psychogruppen" durchführte. Eine zentrale Empfehlung des Endberichts lautete, zukünftig den Begriff "Sekte" zu vermeiden, weil er umgangssprachlich zwar verbreitet, aber zumeist polemisch-abwertend verwendet werde. In der Tat entspricht diese Bezeichnung nicht mehr der multireligiösen Gesellschaft unseres Einwanderungslands, zumal nach der Wiedervereinigung die weltanschauliche Vielfalt durch die Gruppen der Konfessionslosen und Atheisten signifikant angestiegen ist. Im vergangenen Jahrzehnt wurde deshalb auch die Weltanschauungsarbeit der beiden großen Kirchen grundlegend modifiziert.

Diese markanten Veränderungen scheinen aber am Autor vorbeigegangen zu sein - aus Publikationen mit kirchlichen Autoren wird selten und wenn, dann aus veralteten Werken zitiert. So wird am überholten Feindbild einer intoleranten Großkirche festgehalten, die "Sekten-Bashing" betreibe. Einfach veraltet.

Gerald Willms: Die wunderbare Welt der Sekten. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013, 343 Seiten, Euro 19,99.

Michael Utsch

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