Sitzungen, auf denen Zukunftssorgen hin und her ventiliert werden – so erscheint vielen Aktiven im Raum der evangelischen Kirche der vordringliche kirchliche Lebensstil. Bitte nicht, meint unsere Kolumnistin Katharina Scholl. Bitte, bitte lasst uns wieder mehr tanzen …
Wann ist das eigentlich genau gewesen, als die Kirche das Tanzen verlernt hat? Wenn man wie ich gerade die 40 überschritten hat, darf man ja endlich ganz offiziell anfangen, davon zu erzählen, wie es früher war. Also früher war es so, dass kaum eine kirchliche Fest-Veranstaltung ohne Tanzfläche auskam. Bei jeder Feier wurde getanzt, zumindest ist das in meiner verklärten Erinnerung so.
Wenn ich den Synodalsaal meiner kurhessischen Landeskirche sehe, erinnere ich mich an rauschende Feste, bei denen sogar die größten Bewegungsmuffel plötzlich zu ABBA auf der Tanzfläche erschienen sind. Irgendwann sind die Tanzflächen verschwunden und die kirchlichen Festakte wurden mehr Akt als Fest. Man mag das ganz pragmatisch erklären können. Wir müssen ja überall sparen und da fiel eben als erstes der gute Wein bei diesen Anlässen zum Opfer, der volle Tanzflächen am späten Abend wahrscheinlicher macht. Was wäre aber, wenn das Verschwinden der Tanzflächen kirchentheoretisch relevant wäre? Was bedeutet das eigentlich, wenn eine Kirche langsam aber sicher verlernt, miteinander zu feiern?
Es bleibt ja auch kaum Zeit zum Tanzen, möchte man einwenden. Der institutionelle Druck auf dem Kessel ist groß. Sitzungen über Sitzungen, Beratungen über kirchliche Zukunftsprozesse, die nicht selten mehr Last sind als Lust, müde Gesichter am Rande von Synoden und Kirchenvorstandssitzungen. Das Tanzen hat aufgehört und die institutionelle Selbstbeschäftigung gibt den Takt vor. Das Tempo steigert sich stetig, so dass man sich fragt, wer als nächstes aus der Kurve fliegt. Während ich selbst wie alle anderen in diesem Hamsterrad kräftig mit trete, frage ich mich, wo eigentlich Raum dafür ist, einfach Kirche zu sein statt bloß angestrengt darüber zu reden, wie man es einst in einer ungewissen Zukunft sein könnte.
Reflex niedergehender Institutionen
Selbstbeschäftigung ist ein natürlicher Reflex niedergehender Institutionen und dieser Reflex lässt uns gerade vergessen, dass der Protestantismus nicht nur eine institutionelle Seite hat, sondern vor allem eine Lebensform ist. Er kommt zur Darstellung darin, wie Menschen miteinander leben, feiern und manchmal eben auch darin, wie sie miteinander tanzen. „Im Glauben und als Lebens-Stil, so macht sich die wirkende Kraft des Wortes Gottes kenntlich.“ (Dietrich Korsch, Religion mit Stil, 184)
Es wäre naiv zu meinen, dass wir die institutionellen und organisationalen Umbildungsprozesse einfach links liegen lassen könnten. Ohne Anstrengung und volle Terminkalender ist die Transformation wohl nicht zu haben. Aber hüten müssen wir uns davor, keine Freiheit mehr zu haben, aus diesem Strudel institutioneller Selbstbeschäftigung auch mal für einen Moment auszusteigen, um Kirche nicht nur zu organisieren, sondern zu er(leben).
Vielleicht ist die langsam etwas zähe Debatte über das Für und Wider der Sonntagsgottesdienste ja auch ein Beleg dafür, dass wir gerade dabei sind, den Kompass dafür zu verlieren, wo und wie überhaupt das Christentum erlebbar zur Darstellung kommen kann. Keine synodale Entscheidung über die zukünftige institutionelle Gestalt der Kirche, so klug und weitreichend sie auch sein mag, wird die Zukunft der christlichen Religion in trockene Tücher bringen. Diese Zukunft liegt allein darin, ob es uns gelingt, das Christentum als für Menschen wahrnehmbare und attraktive Lebensform sichtbar zu erhalten. Und Spoiler: Erst wer einen inneren Kompass für die Frage hat, wie ein solcher christlicher Lebens-Stil und seine Sozialformen unter den Bedingungen der Gegenwart aussehen, wird klug über seine institutionellen Darstellungsformen entscheiden können.
Glauben als Lebensform
Kürzlich führte ich ein Gespräch, in dem mich mein Gegenüber fragte, ob ich mir vorstellen könnte, dass die Religion gänzlich aus unseren Gesellschaften verschwindet. Eine ganze Zeit sind wir diesem Gedanken gemeinsam nachgegangen und am Ende musste ich sagen: Ja, das kann ich mir vorstellen. Mir erscheint der Gedanke einer Religiosität, die sich irgendwie durch die Zeiten konserviert und dann einst am Ende aller institutioneller Selbstbeschäftigung einfach irgendwie ins neue Haus einzieht, zunehmend unplausibel. Wenn es uns nicht gelingt, den Glauben als eine Lebensform zu kultivieren und für Menschen attraktiv zur Darstellung zu bringen, ist es möglich, dass etwas an sein Ende kommt. Bei aller Härte, den dieser Gedanke hat, beruhigt es mich, dass der Weg nicht in noch mehr Sitzungsterminen besteht, sondern darin, dass wir um Himmels willen wieder anfangen zu tanzen. Und falls das doch wider Erwarten nicht reichen sollte, ist da ja immer noch Gott, der irgendwann Neues beginnen könnte.
Ich gebe zu, das Tanzen zu ABBA-Songs ist mein ganz individuelles Bild eines Protestantismus mit Stil und wird vielleicht von manch einem Tanzmuffel nicht geteilt, der ganz andere Bilder dafür hat. Aber zumindest für mich gibt es Hoffnung. Neulich abends bei der EKKW-Synode zum Beispiel. Die Synodalen saßen nach einem ellenlangen Sitzungstag beieinander und diskutierten. Plötzlich holte einer ein goldenes Sakko hervor, stellte eine Bluetooth-Box auf und schleuderte plötzlich eine Tanzpartnerin durch den Raum. Dass es nun gerade der Klang des Songs „Atemlos“ von Helene Fischer war, zu dem die Vitalität des Protestantismus mit Stil plötzlich mitten in die Synode hereinbrach, überraschte mich, aber wenigstens wurde um Himmels willen endlich mal wieder getanzt.
Katharina Scholl
Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.