Zündstoff

Reformation und Geschichtsdeutung
Foto: privat
Eine Geschichtswissenschaft, die nicht mehr den Stoff für Weltkenntnis liefert, nicht mehr den Zündstoff für Weltdeutung, wäre tot.

Am 31. Oktober 1517 schollen laute Hammerschläge über den mittäglich ausgestorbenen Platz vor der Schlosskirche zu Wittenberg. Ein Mönch nagelte ein Papier an deren Tür - das Getön des Schicksals: Eine neue Epoche hatte begonnen. So liebten Historiker des 19. Jahrhunderts Luthers Thesenanschlag zu stilisieren, so ist er ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Historische Ereignisse brauchen allerdings fortwährende Erinnerungsarbeit, sollen sie nicht daraus verschwinden. 2017 nun wird das Ereignis ein halbes Jahrtausend her sein. Wahrlich ein Anlass, diesen Tag zu begehen. Vor zehn Jahren hat die evangelische Kirche die "Lutherdekade" ausgerufen; seitdem bereitet sie sich und die Öffentlichkeit auf den großen Tag vor. Diesmal soll das Jubiläum, anders als vor hundert Jahren, nicht als nationaler Feiertag begangen werden, wohl wissend, dass die Deutschen heute ein gebrochenes Verhältnis zu geschichtlichen Meistererzählungen haben. 2017 soll der Tag nicht zuletzt als ökumenischer Tag begangen werden, ein ehrgeiziges Ziel. Die evangelische Kirche hat sich hierzu einen selbstbewussten Titel zugelegt - "Kirche der Freiheit". Ein wenig schwingt für empfindsame Ohren die Unterstellung mit, die andere, die katholische, sei dies gerade nicht. Schließlich hat Luther eingehend erläutert, was unter der "Freiheit eines Christenmenschen" zu verstehen sei, nämlich in erster Linie die geistliche Freiheit, die keinerlei Hörigkeit gegenüber einer Priesterherrschaft duldet. - Freilich war es ein langer Weg, bis aus der geistlichen auch eine geistige Freiheit wurde, dazu war erst noch die Aufklärung nötig - ob die Reformation eine notwendige Voraussetzung zu ihr war, ist umstritten.

Aber hatte jene Veröffentlichung der 95 Thesen überhaupt die einschneidende solitäre Bedeutung, die man sich zu feiern anschickt? Gab es überhaupt "die Reformation" - nicht etwa viele Reformationen? Längst hat sich die Geschichtswissenschaft von dem Diktum Rankes, es gehe darum, herauszufinden "wie es eigentlich gewesen ist", losgesagt, das sei Illusion, die Wissenschaft habe es mit Dokumenten zu tun, die sie zu plausiblen Erzählungen verdichte. "Meistererzählungen" zur Stärkung von kollektiven Identitäten habe sie nicht in ihrem Repertoire. Die sind heute Sache von kundigen Dilettanten am Rande der universitären Wissenschaft, vielleicht auch noch von Theologen, Politologen, Philosophen. Das ist den Historikern auch wieder nicht recht, sie hassen es, wenn die Ergebnisse ihrer Forschungen von vermeintlich Unberufenen in deutende Perspektiven gerückt werden. Sie müssen es wohl weiter ertragen. Eine Geschichtswissenschaft, die nicht mehr den Stoff für Weltkenntnis liefert, nicht mehr den Zündstoff für Weltdeutung, wäre tot. Daran, dass an Meistererzählungen gesponnen wird, auch in einer sich immer mehr ausdifferenzierenden Gesellschaft, wird sich so leicht nichts ändern, auch wenn der nur irrlichternde Leuchtturm namens "einheitliches kollektives Bewusstsein" glücklicherweise abgeschaltet ist. Dies ist ja eine Lehre aus der Geschichte (wenn es die überhaupt gibt): Versöhnung und Ausgleich in einer Gesellschaft ist viel eher durch Toleranz und Diskurs in gelebter Vielfalt möglich als durch regressive Einheitsphantasien. Evangelische Christen dürfen darauf stolz sein, dass die Reformation zu dieser Erkenntnis beigetragen hat (aber diese Behauptung ist schon Bestandteil der Meistererzählung, die 2017 gefeiert werden wird).

Helmut Kremers

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