Jürgen Moltmann: Der lebendige Gott und die Fülle des Lebens

Theo-Logie

Beitrag zur Atheismusdebatte
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Hier bezeugen theologische Sachkenntnis und engagiertes Glaubensbekenntnis einen Autor, der, obgleich im höheren Lebensalter stehend, nichts von der Frische der Jugend verloren zu haben scheint.

Weltweit ist das Werk von Jürgen Moltmann, dem Grandseigneur engagierter protestantischer Theologie in Deutschland, bekannt. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt, seine Theologie der Hoffnung - mittlerweile vor einem halben Jahrhundert erschienen - hat Generationen von Theologinnen und Theologen inspiriert. Dabei hat seine Produktivität auch im neunten Lebensjahrzehnt nicht nachgelassen. Seine jüngste Publikation bezeugt das eindrücklich.

Mit ihr bündelt Moltmann Einsichten aus den vergangenen Jahrzehnten und schreibt sie mit Blick auf eine veränderte Gegenwart fort: Auch ein Beitrag zur Atheismusdebatte unserer Zeit, lautet daher der Untertitel. "Atheismus" heißt hier nicht einfach jenes schrille Lärmen säkularistischer Christentumsgegner. Der Begriff dient vielmehr als Bezeichnung für einen Lebensstil, "als ob es Gott nicht gäbe" (Hugo Grotius); für das, was der Philosoph Charles Taylor den "exklusiven Humanismus" nennt: ein Dasein unter einem leeren Himmel und ohne eine Hoffnung, die über den eigenen wie den fremden Tod hinausträgt. Dem stellt Moltmann die Grundeinsicht seiner "Theologie der Hoffnung" entgegen, die bekanntlich schon seinerzeit gegenüber Ernst Blochs allzu diesseitigem "Prinzip Hoffnung" mit einem "Reich Gottes ohne Gott" auf den Mehrwert christlichen Auferstehungsglaubens beharrte.

"Der christliche Glaube orientiert sich an dem 'lebendigen' Gott und erfährt die Fülle des Lebens", heißt es eingangs. Doch stellen sich dann sofort Fragen wie: "Was ist Leben? Was ist erfülltes Leben? Was ist ewiges Leben?" Die Frage nach Gott, die Bedeutung der Gottesgeschichte Jesu Christi für mein Leben und die menschliche Sehnsucht nach Glück und einem Leben in Fülle - sie gehören zusammen.

Schritt für Schritt geht Moltmann daher zunächst auf die Besonderheiten des biblischen Gottesbildes ein, um dann seine Variante eines erfüllten Lebens aus christlicher Sicht zu entfalten. Darin kommen Spiritualität, der Kampf für bessere Lebenschancen und der Sinn für das kleine Sinnenglück im Alltag überein, wie es Glauben, Denken und Hoffen tun. Was stets ein Markenzeichen seiner Theologie war, die integrative Kraft, Impulse aus unterschiedlichen Frömmigkeitstraditionen aufzugreifen, kommt schön zur Geltung, ohne dass Moltmann in Gefahr gerät, zum bloßen Erbauungsliteraten zu werden. Das unterscheidet dieses Werk theologischer Publizistik von vielem, was derzeit an religiöser Ratgeberliteratur auf dem Markt ist.

Worin nun sieht Moltmann das bleibend Revolutionäre und Innovative der christlichen Botschaft? Was ist die Verheißung, die auch für das 21. Jahrhundert noch zu einer lebendigen Kraftquelle werden kann? Kurz gesagt ist es der Glaube an den am Kreuz mitleidenden und in der Auferstehung Leid und Tod endgültig überwindenden Gott. Wer dies begriffen hat, der kann im Christentum nichts anderes als eine Religion tiefer Freude erblicken; selbst dann, wenn dessen Anhänger dazu mitunter kaum Anlass geben. Der österliche Glaube befreit uns zum Engagement für bessere und gerechtere Lebenschancen auf der Welt, wie er uns zugleich immer tiefer mit der ganzen Schöpfung verbunden sein lässt. Wer das ernst nimmt, will nach dem Tod nicht "in den Himmel kommen", sondern der hofft auf einen "neuen Himmel und eine neue Erde". Moltmann buchstabiert in diesem Buch aus, was Dietrich Bonhoeffer die "tiefe Diesseitigkeit des Christentums" genannt hat; eine Liebe zur Welt und zu den Menschen, die allerdings entscheidend davon lebt, dass ihr ein tiefer, nicht bloß innerlicher oder spiritualisierter Ewigkeitsglaube beiwohnt. So sehr das unserem modernen Bewusstsein anstößig erscheinen mag, Moltmanns Beharren auf einer umfassenden christlichen Eschatologie entfaltet ihre argumentative Klarheit und rhetorische Kraft, indem sie nicht vorschnell vor dem scheinbar Unvermeidlichen kapituliert. Sie zwingt uns vielmehr zum Eingeständnis unserer oftmals allzu biederen Selektivität im Umgang mit den biblischen Quellen und Hoffnungsbildern.

Es finden sich noch viele weitere Anstöße, auf diese Weise den eigenen Glauben auf seine Wurzeln hin zu hinterfragen. Nur eine Kostprobe sei noch erlaubt: Was bedeutet es eigentlich, wenn Moltmann mit Blick auf das Beten und das dabei bewusst oder unbewusst in Anschlag gebrachte Gottesbild lapidar feststellt: "Der Knecht bettelt - das Kind vertraut - der Freund berät"?

Es sind solche, bisweilen ganz nebenbei gemachte Bemerkungen, die die Lektüre des Buches so erfrischend machen. Das tröstet dann auch über manche allzu plakativ geratene, undifferenzierte Diagnose über die Gegenwart hinweg. Doch das Erstaunlichste an diesem Buch ist ohnehin der Eindruck, den es beim Leser hinterlässt: Hier bezeugen theologische Sachkenntnis und engagiertes Glaubensbekenntnis einen Autor, der, obgleich im höheren Lebensalter stehend, nichts von der Frische der Jugend verloren zu haben scheint. "Liebhaber des Lebens" (Weisheit 11, 26) mag, biblisch gesprochen, ein Gottesprädikat sein, aber als Verheißung gilt es uns allen. Dem nachzudenken ist, wie Moltmann uns erneut eindrücklich gezeigt hat, vornehmste Aufgabe einer für alle verständlichen Theo-Logie.

Jürgen Moltmann: Der lebendige Gott und die Fülle des Lebens. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2014, 232 Seiten, Euro 19,99.

Christian Polke

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Hansjörg Küster: Am Anfang war das Korn

Faszinierend

Ein Akt der Menschwerdung
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Im biblischen Sinne "untertan" macht sich der Mensch die Erde nicht etwa als Jäger und Sammler; auch nicht als Viehzucht treibender Nomade, sondern erst als Bauer.

Hansjörg Küster, Jahrgang 1956, geht es in seinen populärwissenschaftlichen Darstellungen meist um die Zusammenschau von Natur- und Kulturgeschichte. Wie alle Biowissenschaftler ist auch der Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Universität Hannover zutiefst davon überzeugt, dass die Gegebenheiten der Natur wesentlich zur kulturellen Selbstfindung der Menschheit beigetragen haben. Bei Küster geraten bevorzugt ganze Lebensräume inklusive des Menschen ins Visier - etwa in seinen Büchern über die Ostsee (2002), die Elbe (2007) und den Wald (2010). In seinem neuesten Buch nimmt Küster den Getreideanbau aufs Korn - die Ursprünge der Landwirtschaft.

Im biblischen Sinne "untertan", so Küsters wichtigste These, macht sich der Mensch die Erde nicht etwa als Jäger und Sammler; auch nicht als Viehzucht treibender Nomade, sondern erst als Bauer. Für Küster gilt: "Der Mensch ist, was er sät und erntet." Sesshaft, um Pflanzen zu kultivieren, wird der Mensch erst vor rund 10?000 Jahren. Gleichzeitig, aber lokal voneinander unabhängig, entwickeln sich vor allem in Vorder- und Südost-Asien, in Afrika sowie in Mittel- und Südamerika landwirtschaftliche Kulturen. Vornehmlich durch den Anbau von Korn, aber auch den von Hülsenfrüchten und Ölpflanzen wird dabei mitunter von Anfang an auch die natürliche Umwelt stark verändert. Bereits die Landbaupioniere an den Ufern der großen Ströme des Orients, beschäftigte das Problem der "Nachhaltigkeit"

Anhand der Agrarkulturen zwischen Euphrat und Tigris lässt sich zudem beispielhaft aufzeigen, dass künstliche Bewässerung nur funktioniert, wenn zugleich auch so etwas wie eine öffentliche Verwaltung entsteht. Erst staatliche Strukturen garantieren ein Erwirtschaften und Verteilen von Agrarüberschüssen. Und erst die Organisation eines so komplexen Vorhabens wie die Ernährung eines Staatsvolkes befördert und erfordert auch die Entwicklung einer Schriftsprache. Wären die Menschen Jäger und Sammler geblieben, so Küster, wäre die "Schrift nicht erfunden worden, weil sie nicht gebraucht wurde, Menschen hätten keine Städte und Staaten gegründet, weil dazu keine Notwendigkeit bestand".

Seit mehreren Jahrtausenden gibt es hinsichtlich der Kulturpflanzen und der Techniken ihres Anbaus einen regen Austausch zwischen den kulturellen Zentren. Weizen und Roggen, Erbse und Linse, Mais und Kartoffel sowie die vielen Gewürze gehören somit zu den frühesten Vorboten der Globalisierung. Auch wenn heutzutage, insbesondere in den Industrienationen, immer weniger Menschen in der Landwirtschaft tätig sind: Unsere Lebensgrundlage ist nach wie vor der Landbau.

Küster - wenn auch in seinen botanischen Ausführungen mitunter viel zu detailliert - zeigt höchst kenntnisreich auf, dass jene übliche Einteilung der frühen Menschheitsgeschichte in Stein-, Bronze- und Eisenzeit den eigentlichen Aufbruch der menschlichen Zivilisation völlig außen vor lässt. Für Küster jedenfalls ist die Kultivierung des Korns der "vielleicht wichtigste wirtschaftliche Umbruch in der Menschheitsgeschichte". Und dieser Umbruch lag inmitten der Steinzeit. "Ohne Kulturpflanzen", so Küsters Resümee, "wäre die Geschichte der Menschheit völlig anders verlaufen. Vielleicht hätte sie gar nicht stattgefunden." Und somit ist die Kultivierung des Korns auch als der eigentliche Akt der Menschwerdung anzusehen. Eine faszinierende These. Sie weckt große Erwartungen, die der Autor auch weitgehend einzulösen vermag. In der Tat, Küster hat eine ganz andere Geschichte der Menschheit geschrieben.

Hansjörg Küster: Am Anfang war das Korn. Verlag C. H. Beck, München 2013, 298 Seiten, Euro 24,95.

Reinhard Lassek

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Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf

Spurensuche

Gelungene Inszenierung
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Die Spurensuche nach einem Phantom, das sich im Laufe des Stücks als ehemaliger Liebhaber der Geliebten des Protagonisten zu erkennen gibt.

Der Autor Gaito Gasdanow gehörte im vergangenen Jahrhundert zu den russischen Exilschriftstellern in Paris, die sich vom traditionellen, russischen Erzählstil lösten, um sich an westlichen Vorbildern wie Marcel Proust, James Joyce oder Franz Kafka auszurichten. Entsprechend fragmentarisch liest sich diese Prosa, eine Komposition aus Gedanken, Erlebnissen und Träumen.

Die vorliegende Inszenierung verlässt sich auf traditionelle, auditive Erzähltechniken und verzichtet auf experimentelle Versatzstücke. Die Story wird durch einen Klangteppich illustriert. Ein Muster aus wechselnden Atmos und Leitmotiven unterstützt den raschen Wiedererkennungswert der Handlungsorte.

Das Stück beginnt mit der Schlüsselszene. Die Stimme des Protagonisten erzählt aus dem Off, wie er als Soldat einen Menschen tötete. Es ist eine Erinnerung, die ihn ein Leben lang verfolgt. Die zweite Szene ist dialogisch aufgebaut und spielt Jahre später in einer Pariser Kneipe. Von einem "Lebemann" erfährt der Ich-Erzähler, dass sein vermeintliches Opfer noch leben muss und "Alexander Wolf" heißt. Es beginnt die Spurensuche nach einem Phantom, das sich im Laufe des Stücks als ehemaliger Liebhaber der Geliebten des Protagonisten zu erkennen gibt. Die Geschichte, die sich stets am Rande des Surrealen bewegt, endet damit, dass es einen mysteriösen Mörder gibt.

Nicht dass das Hörspiel das Geheimnis dieser Figur entschlüsselte; das wäre auch nicht die Aufgabe des Genres. Vielmehr lädt die Hörspiel-Inszenierung dazu ein, die Spurensuche nach den eigentümlichen Charakteren des Gaito Gasdanow im Original fortzusetzen.

Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf. Der Hörverlag, Hamburg 2013.

Susanne Krahe

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Claudia Pinl: Freiwillig zu Diensten?

Polemik

Ehrenamt: Freiwillig, ohne Lohn
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23 Millionen Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtler werden massiv ausgebeutet, Gratisarbeit soweit der Blick reicht - auf Kosten sozialversicherungspflichtiger Jobs.

Schon das Cover versprüht Polemik: Der sprichwörtliche Apfel und das Ei als Lohnersatz prangen auf dem Buchtitel. Diesem Duktus bleibt Claudia Pinl treu, wenn sie in ihrer leicht lesbaren und eingängigen Analyse der Frage nachspürt, wie es in Deutschland mit seinem "entkernten Sozialstaat" um das Ehrenamt bestellt ist. "Nicht gut", um ihre Quintessenz gleich vorwegzunehmen. Die Kölner Pathologin sieht die Ressource Ehrenamt in Gefahr, weil Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe heute nur "als Kitt einer auf Egoismus und sozialer Kälte basierenden Leistungsgesellschaft" dienten.

Aus ihrer Sicht werden 23 Millionen Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtler massiv ausgebeutet, ganz gleich ob sie im Vorstand des Sportvereins wirken, bei der Tafel Lebensmittel ausgeben, das kirchliche Altencafé betreuen oder an der Schwimmbadkasse sitzen. Gratisarbeit soweit der Blick reicht - auf Kosten sozialversicherungspflichtiger Jobs. Dass die Ehrenamtler so manche Lücke stopfen, die eine kritikwürdige Sozial- und Steuerpolitik gerissen hat, liegt auf der Hand. Wie vielfältig die Arbeit "für lau" bundesweit ist, skizziert Pinl in mehreren reportageartigen Sequenzen. Ja, es stimmt, dass diese Engagierten mit ihrer Gratisarbeit den Betrieb von Pflegeheimen, die Mittagsbetreuung in Schulen und Kindertagesstätten oder die Flüchtlingsarbeit erst aufrechterhalten.

Aber ist das zu verteufeln? Der Einsatz für das Gemeinwesen ist so alt wie das Gemeinwesen selbst. Es wäre lohnend gewesen, den unterschiedlichen Motiven des vielfältigen freiwilligen Einsatzes mehr Raum zu geben. Denn es geht um sinnvolle Freizeitgestaltung, die Zufriedenheit schafft, um Kontaktpflege mit Gleichgesinnten, um Mitgestaltung des eigenen Lebensumfeldes, um Anerkennung, die viele Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtler oft selbst in jahrzehntelangem Berufsleben nicht erfahren haben. Die Frage ihrer Bezahlung, und sei es auch nur mittels einer schmalen Aufwandsentschädigung, stellt sich vielen engagierten Bürgerinnen und Bürgern überhaupt nicht. Im Gegenteil. Erst die unentgeltliche Tätigkeit bringt ihnen Gewinn.

Diese rührige Klientel mit der zunehmenden Zahl an Minijobbern, Teilnehmern an Freiwilligendiensten oder prekär Beschäftigten, wie etwa den Ein-Euro-Jobbern, zu vermischen, die professionelle Kräfte überflüssig machen, ist die Schwäche des aufschlussreichen Buches Freiwillig zu Diensten? Natürlich ist der Einsatz von Ein-Euro-Jobbern Ausbeutung, sofern es nicht gelingt, diese Tätigkeiten als Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt zu nutzen. Und es sind unter den Millionen von 400-Euro-Jobbern zweifelsohne viele, vor allem Frauen, die bestens qualifiziert und ausgebildet sind und gerne eine reguläre Stelle antreten würden.

Und doch ist dieses Feld der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sehr wohl vom Ehrenamt zu trennen. Denn gerade hier existieren wirtschaftliche Zwänge nicht. Der Freiwillige hat einen "freien Willen" und kann sein Amt jederzeit aufgeben. Dass die Demokratie aktive Bürger und Bürgerinnen braucht, konstatiert auch Claudia Pinl und fordert, dass sie gesellschaftliche Verantwortung auch jenseits der Wahlen übernehmen: "Aktive Bürgerschaft aber kann heute nur heißen, sich aktiv einzusetzen für eine andere Politik, die den Reichtum in Deutschland umverteilt und die Almosengesellschaft verabschiedet." Dann käme wieder mehr Geld für Bildung, Soziales und Kultur in die Kassen. Doch selbst wenn der Staat sein Engagement auf diesen Feldern wieder merklich ausweiten würde, den engagierten Bürger braucht es weiterhin: in der Kirche, bei den Wohlfahrtsverbänden und im Sportverein.

Claudia Pinl: Freiwillig zu Diensten? Nomen Verlag, Frankfurt/Main 2013, 144 Seiten, Euro 14,90.

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Bruno Preisendörfer: Die Schutzbefohlenen

Schuld

Ein System von Abhängigkeit
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Auch wenn Figuren und Handlungen frei erfunden sind, das pädagogische System in diesem Benediktiner-Internat ist durchaus realistisch.

In einem Benediktiner-Internat kommt Ende der Sechzigerjahre ein Schüler ums Leben. Der Junge stirbt, als er zusammen mit mehreren Mitschülern die Opferung des Isaak nachspielt. Schnell ist ein Sündenbock gefunden: Ein Landstreicher, der sich zufällig in der Nähe des Unglücksortes aufhielt, wird verhaftet, vor Gericht gestellt und als Mörder verurteilt. Die Schüler, die den Unfall verursacht haben und ihrem Klassenkameraden nicht zu Hilfe kamen, kommen ungeschoren davon.

Bruno Preisendörfers Roman "Die Schutzbefohlenen" ist eine Erzählung über Schuld und Verantwortung. Die Jungen werden nach dem Tod des Mitschülers von Gewissensbissen geplagt, sie beichten, und die Patres im Internat lassen wohlwissend einen Unschuldigen hinter Gitter gehen. Die Klostergemeinschaft deckt ihre Zöglinge. Es wird vertuscht und verschwiegen, nur um den guten Ruf des Internats nicht zu beschädigen.

Spätestens an dieser Stelle des Romans wird deutlich: Hinter den Klostermauern herrschen eigene Gesetze. Auf 193 Seiten beschreibt Preisendörfer ein System von Abhängigkeiten und Beziehungsverstrickungen. In der katholischen Klosterschule waren Schüler und Lehrer einander auf vielfältige Weise "schutzbefohlen" - angefangen bei den Beziehungen der Schüler untereinander über das Verhältnis der Lehrer zu den Schülern bis hin zu den hierarchischen Strukturen innerhalb des Ordens. Schritt für Schritt legt Preisendörfer die Dynamiken offen, die letztlich bei dem Tod des Schülers eine Rolle spielen.

Preisendörfer, geboren 1957 in Unterfranken, besuchte als Schüler selbst ein Benediktiner-Internat. Um seine Tagebuchnotizen aus dieser Zeit hat er den Roman konstruiert. Und auch wenn Figuren und Handlungen frei erfunden sind, das pädagogische System, das der Autor nachzeichnet, ist durchaus realistisch. Kaleidoskopartig gibt er Einblick in das Innenleben eines Klosterinternats in den Sechzigerjahren: Er beschreibt das Machtgefüge unter den Schülern, fragwürdige Strafpraktiken ebenso wie die Verharmlosung sexuellen Missbrauchs. In dem Benediktiner-Internat, in dem Patres und Schüler miteinander auf engstem Raum leben, sind seelische Demütigungen und körperliche Strafen an der Tagesordnung.

Preisendörfer beschönigt nichts. Indem er sich in die Lebenswelt der Schüler hineinfühlt, bekommen die Grenzüberschreitungen aber noch einmal eine ganz neue Dimension. Seine Hauptfigur, der Schüler Peter Zaun, hinterfragt das Handeln der Pädagogen in dem Internat nicht. Kontrolle und strenge Regeln gehören dazu, der sexuelle Übergriff seitens eines Paters wird von dem Jungen gar als besondere Auszeichnung wahrgenommen. Die Stärke des Romans liegt daran, die seelischen Dilemmata zu beschreiben, in denen die Romanfiguren stecken. Vierzig Jahre, nachdem Peter Zaun das Internat verlassen hat, kehrt er an den Ort des damaligen Geschehens zurück. Wieder ist es der Tod eines Menschen, der den früheren Internatsschüler umtreibt. In einer verkehrsberuhigten Zone hat Peter Zaun ein Mädchen überfahren. Für den Tod des Kindes muss er sich nun vor Gericht verantworten. Auch hier geht es wieder um Schuld und Verantwortung. Peter Zaun leugnet. Wird er anstelle einer Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung freigesprochen? Und schließt sich der Kreis?

Bruno Preisendörfer: Die Schutzbefohlenen. Psychosozial-Verlag, Wiesbaden 2013, 193 Seiten, Euro 19,90.

Barbara Schneider

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A.-S. Mutter/ L.Orkis: The Silver Album

Silberne Hochzeit

Orkis und Mutter musizieren
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Mutter und Orkis betonen gleichermaßen das Miteinander, den symbiotischen Atem.

Anne-Sophie Mutters wichtigste musikalische Beziehung hat ihre beiden irdischen Ehen längst überdauert. Nun wird sogar Silberne Hochzeit gefeiert, schon 25 Jahre lang ist Lambert Orkis der Recitalpartner der Stargeigerin. Die Deutsche Grammophon würdigt das Jubiläum mit dem "Silver Album", einer hörenswerten Doppel-CD mit Werken von der Klassik bis zur Gegenwart.

Äußerlich betrachtet ist es ein ungleiches Paar. Hier Anne-Sophie mit ihrer wallenden Mähne schon vom Auftreten her magnetisch, schillernd, groß. Dort Lambert Orkis, Jahrgang 1946, ein bescheidener, unauffälliger Gentleman. Im Konzert erlebt man sie oft genau so: Die Mutter, wie sie mit atemberaubender Power das musikalische Feuer ihrer Stradivari erweckt, daneben Lamberti Orkis in nobler Zurückhaltung, der Grande Dame den Vortritt lassend.

Ob denn Zurückhaltung eine Tugend sei, wenn Klavier und Violine aufeinander treffen, ist Anne-Sophie Mutter im Interview gefragt worden. "Einen höflich flüsternden Begleiter habe ich nie gesucht, weder als Dirigenten noch als Kammermusikpartner", sagte sie, "dazu habe ich selbst einen viel zu großen Klang, ich kann schließlich auch ordentlich zupacken. Zuviel Rücksicht muss man auf mich nicht nehmen." Vielleicht lässt man sich zu leicht vom Augenschein täuschen. Jedenfalls betonen Mutter und Orkis gleichermaßen das Miteinander, den symbiotischen Atem. Besonders schön zu erleben in der Weltersteinspielung von Previns zweiter Sonate für Geige und Klavier: Deren langsamer Mittelsatz vereint perlende pianistische Arpeggios und klagenden Geigenschmelz, eingerahmt von scharfsinnig konturierten Ecksätzen in perfekter Gleichberechtigung.

Die Symbiose kann auch darin bestehen, dass sich die Geige zurücknimmt und in den Dienst des Klaviers stellt, wie das vorbildlich in Mozarts Sonate KV 481 geschieht. Orkis' feinadriges Spiel, das nicht zuletzt Mstislaw Rostropowitsch zu schätzen wusste, entfaltet einen samtigen Glanz, den Anne-Sophie Mutter vorsichtig akzentuiert.

In den weiteren Werken, die auf dem Silver Album versammelt sind, - Beethoven, Brahms, Fauré, Massenet, Debussy, Ravel, Kreisler -, neigt sich die Waage allerdings oft deutlich zur Geige hin; Mutter-Fans werden darob nicht traurig sein. Seltsam an dieser Veröffentlichung ist nur die Entscheidung der Plattenfirma, als zweite Ersteinspielung Pendereckis "La Follia" für Solo-Violine auszuwählen. Da ist die Mutter auf der Höhe ihrer Kunst, keine Frage. Aber was hat dieser Singletrip bei einer Silbernen Hochzeit zu suchen?

Anne-Sopie Mutter & Lambert Orkis - The Silver Album. Deutsche Grammophon 0289 47929499, 2 CDs.

Ralf Neite

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Wolfgang Beinert/Ulrich Kühn: Ökumenische Dogmatik

Reich an Material

Ökumenische Dogmatik
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Die Autoren hatten ein Herzensanliegen: die Einheit der Christinnen und Christen.

Katholisch oder evangelisch? Für viele Menschen sind die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten verblasst. In Politik und Gesellschaft wird oft nur von "der Kirche" gesprochen und damit auch eine Form der Konfessionslosigkeit im Wortsinne gelebt. Jedoch bietet das Reformationsjubiläum 2017 einen guten Anlass, über die eigene Konfession nachzudenken und möglicherweise die jeweils andere neu wahrzunehmen.

Der 2012 verstorbene Lutheraner Ulrich Kühn und sein katholischer Kollege Wolfgang Beinert hatten noch ein anderes Herzensanliegen: die Einheit der Christinnen und Christen. Beide sehnten sie gerade deshalb herbei, weil das säkulare Lebensgefühl und die Begegnung mit anderen Religionen die christliche Botschaft anfrage. In ihrer Dogmatik werden die traditionellen Themengebiete in ihrer heilsgeschichtlichen Abfolge von jeweils einem Autor und somit konfessionell geprägt dargestellt, jedoch mit einem klugen und konsequenten Seitenblick auf die jeweils andere Konfession versehen. Mit dem Diktum Luthers "was Christum treibet" und der "Rangordnung der Wahrheiten" aus dem Zweiten Vatikanum formuliert Beinert das Kriterium für eine ökumenische Theologie und Dogmatik: Die divergierenden theologischen Positionen sollen auf ihre "Christianität", also auf ihre Nähe zum christologischen Dogma hin untersucht werden. Konsequenterweise sieht er in den Konfessionen die geschichtlichen Existenzweisen der einen Glaubensgemeinschaft, deren Wurzel der gemeinsame Glaube an Jesus Christus bilde. So erscheint es logisch, dass die Ekklesiologie eine Sonderrolle einnimmt. Hier bleiben beide Autoren ihrer Herkunft verhaftet: Nicht Gotteslehre, Trinität, Christus oder Erlösung trennen wirklich die Konfessionen und ihre Theologien, sondern das Verständnis, wie diese zentralen Inhalte weitergegeben werden können. So kommen eine katholische und eine evangelische Ekklesiologie nebeneinander zu stehen.

Methodisch gehen die beiden Autoren unterschiedlich vor: Ulrich Kühn trennt in guter Lehrbuchtradition bei der Darstellung des Traktats die dogmengeschichtlichen Traditionen von der "Systematischen Entfaltung" der Inhalte. Wolfgang Beinert hingegen unterteilt die einzelnen dogmatischen Abschnitte in ihre Einzelprobleme und diskutiert dann unangestrengt die traditionellen Ansichten mit gegenwärtigen Frage- und Problemstellungen. Diese unterschiedliche Vorgehensweise erscheint durchaus im konfessionell geprägten Stellenwert der dogmatischen Tradition begründet - ohne dass dies freilich explizit diskutiert wird: Während die Tradition im lutherischen Verständnis nicht eine Qualität an sich, sondern durch ihre Relevanz für die Gegenwart bestimmt ist, achtet das katholische Verständnis gewöhnlich auf die Stimmigkeit gegenwärtiger Antworten mit der Tradition.

Ein Lesegewinn liegt zweifellos in der materialreichen Darstellung der vorreformatorischen Tradition und damit der ökumenischen Wurzeln. Zudem wird man gut über die maßgeblichen Entwicklungen der katholischen Theologie (Zweites Vaticanum), am Rande auch die der orthodoxen, informiert. Auf die reformierte Spielart der Protestantismus bleibt jedoch häufig der Blick verwehrt.

Die Kirchenlehre, die mit rund 220 Seiten - "Gnade" und "Rechtfertigung" beanspruchen gerade mal 45 Seiten - auch vergleichsweise opulent ausfällt, muss der Kontroverse verhaftet bleiben. Schließlich wurde sie erst in der Reformationszeit gegen die jeweils andere Position entwickelt. Ihr liegt ein Abwehrcharakter zugrunde, den ihr auch die beiden Autoren nicht nehmen können, weil sie sonst letztlich die konfessionelle Identität der eigenen Institution infrage stellen würden. Jedoch werden für beide Konfessionen die kirchenpraktischen Probleme, hier sei der Personalmangel genannt, an Bedeutung gewinnen - und zwingen damit zu einer (gemeinsamen?) ekklesiologischen Reflexion.

Wolfgang Beinert/Ulrich Kühn: Ökumenische Dogmatik. Evangelische Verlagsanstalt/Verlag Friedrich Pustet, Leipzig/Regensburg 2013, 880 Seiten, Euro 78,-.

Jens Beckmann

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Foto: privat

Jens Beckmann

Dr. Jens Beckmann ist Pastor der Nordkirche und Theologischer Vorstand der Evangelischen Perthes-Stiftung e.V. in Münster.

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Susanne Beyer: Palucca

Zwischenfigur

Das Leben der Gret Palucca
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Gret Palucca tanzte durch vier politische und gesellschaftliche Welten, in jeder eckte sie an und wurde doch hofiert.

Gret Palucca war eine der bedeutendsten Tänzerinnen Deutschlands im 20. Jahrhundert. Sie hat gemeinsam mit ihrer Lehrerin Mary Wigman den modernen Tanz entscheidend geprägt, durch ihren sportlich-dynamischen Stil weiterentwickelt und in ihrer eigenen Schule Generationen von Tänzerinnen beeinflusst. Das alleine wäre ja schon Anreiz genug, sich mit dieser Frau und ihrer Kunst zu beschäftigen. Doch es ist etwas anderes, was ihre Biographie, die nun von der Journalistin Susanne Beyer aufgeschrieben wurde, auch für nicht an Tanz Interessierte so aufregend macht: Gret Palucca tanzte durch vier politische und gesellschaftliche Welten, in jeder eckte sie an und wurde doch hofiert. Sie tanzte vor Goebbels und vor Wilhelm Pieck, verfolgte kein politisches Ziel mit ihrer Kunst, und geriet dennoch immer wieder in Konflikt mit den Mächtigen, die sie aber auch stets zu nutzen wusste für sich und ihre Kunst. Das Prinzip-Palucca, nennt Susanne Beyer das, ein Leben als "Zwischenfigur", das ihr das Überleben ermöglichte.

Dieses Prinzip findet sich auch in ihrem Privatleben wieder: Zunächst Ehefrau des reichen Dresdner Unternehmersohns Friedrich Bienert, der wie seine Mutter die künstlerische Avantgarde der Weimarer Republik um sich zu versammeln wusste. Dann Freundin des einflussreichen - und verheirateten - Publizisten Will Grohmann in einer mehr oder weniger offen gelebten Ménage-à-trois, im Krieg in einer Lebenspartnerschaft mit der Kinderärztin Marianne Zwingenberger, die sich nach dem Krieg dann noch durch Irmgard Schöningh, hochrangige Kulturschaffende in der DDR, wieder zu einer Dreierbeziehung erweiterte.

Über all das schreibt Susanne Beyer, Kulturredakteurin beim "Spiegel", ausgesprochen lesbar, wohltuend unaufgeregt und mit großer Souveränität. Letztere stammt wohl auch aus der intensiven Recherche und dem reichen Quellenstudium. Immer wieder zitiert sie aus Briefwechseln mit Künstlern wie Kandinsky, der ihre Tänze in Linien umsetzte, oder Klee, aber auch aus der Korrespondenz mit Magda Goebbels, die ihr Programmhinweise für ihren Auftritt vor ihrem Mann gab. In Tagebucheinträgen verfolgen wir die wachsende Missgunst der einstigen Lehrerin Mary Wigman, deren schwerer, intellektueller Stil die Gunst des Publikums mehr und mehr verliert, weil die körperbetonte Leichtigkeit Paluccas zunächst der "Neuen Sachlichkeit" besser zu passen schien, aber auch den Nazis in seiner Sportlichkeit zu passe kam. Deshalb war sie es, die bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1936 ein Solo tanzen durfte, während Wigman "nur" für eine Gruppenchoreographie verantwortlich war.

Susanne Beyer nutzt all diese Quellen, belegt nahezu jedes Zitat, was den Lesefluss nur selten hindert, entscheidet sich aber für den konventionellen "roten Faden", nämlich ein Leben chronologisch von Anfang bis zum Ende zu erzählen. Und das ist gut so, denn so verfällt sie nicht der Versuchung, den biographischen Stoff mit zu viel Psychologie zu verweben und ihn dadurch zu verunstalten. Sicher weist sie auf wiederkehrende Muster hin, etwa das übergroße Bedürfnis nach Versorgung, das den verkorksten Verhältnissen in der ehemals reichen und dann verarmten und instabilen Herkunftsfamilie geschuldet war, oder dem steten Schuldgefühl wegen des frühen Todes des Bruders und des Selbstmordes der Mutter, die das schlechte Gewissen als Druckmittel einzusetzen wusste. Und nicht zuletzt die verdrängte jüdische Identität, die Abstammung von jüdischen Großeltern, die dafür sorgte, dass sie nach den Olympischen Spielen in Ungnade bei den Nazis und in existenzielle Nöte fiel. Doch im Kern bleibt die Autorin bei der Schilderung des Lebens und Werks einer großartigen Künstlerin, deren Fähigkeit zur Improvisation nicht nur auf der Bühne stetes Leitmotiv war.

Susanne Beyer: Palucca - Die Biografie. Aviva Verlag, Berlin 2014, 432 Seiten, Euro 18,90

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Stephan Kosch

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Weitere Rezensionen

Spoon: They want my soul

Lyrisches Ich

Pop-Appeal und Funkiness
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Ihr Sound ist kräftig, dabei leicht und lässig, hat Gewicht, ist einzigartig. Hinzu kommen Händchen fürs Detail und große Stilsicherheit bei den Effekten.

Denn sie wissen, was sie tun, und sind doch am besten, wenn sie sich davon lösen. So ließe sich übersetzen, wenn Britt Daniel sagt, dass ihm Melodien und Akkorde leicht fallen, Klang und Sinn der Worte dazu hinzubekommen aber verdammt schwer. Da helfe, wenn man sich ein wenig verliere. Vielleicht war es das, was der alttestamentliche Prediger 11, 1 meinte, als er schrieb: "Wirf dein Brot aufs Wasser und du wirst es finden, nach langer Zeit." Es geht um Geist, Inspiration. Die von Britt Daniel (voc; git) und Jim Eno (dr) 1993 in Austin/Texas gegründete Band Spoon - aktuell mit dabei sind Rob Pope (b), Eric Harvey (kb, git, perc, back voc), Alex Fischel (kb, git) - findet auf ihrem achten Album "They Want My Soul" viel.

Wo es herkommt, verrät der Opener "Rent I Pay". Er beginnt mit Schlagzeug und einem markanten, entspannt anverwandelten Stones-Gitarrenriff ("Gimme Shelter"), tritt rhythmisch verdichtet dann gleichsam auf der Stelle (extrem spannungsgeladen, eine Spoon-Spezialität!), und Daniel singt mit drangvoller, angerauhter Stimme: "That's the rent I pay/Everybody knows just where you been going/Everybody knows the faces you been showing/And if that's your answer/No I ain't your dancer". Nein, ich bin's nicht! Wir erinnern uns an einen berühmten Dylan-Song, aber noch viel mehr an die herausgerotzte Zeile "You may be a lover but you ain't no dancer" aus dem Beatles-Kracher "Helter Skelter". Nimmt man noch die mit Reduktion und cooler Distanziertheit fesselnden Postpunker "Wire" und "Can"-Krautrock hinzu, sind alle wesentlichen Spoon-Einflüsse beisammen. Pop-Appeal, Funkiness und Rock'n'Roll haben sie ohnehin.

Ihr Sound ist kräftig, dabei leicht und lässig, hat Gewicht, ist einzigartig. Hinzu kommen Händchen fürs Detail und große Stilsicherheit bei den Effekten, etwa die schneidenden, an das "Yellow Submarine"-Intro erinnernden Knarzgeräusche in "Knock Knock Knock", die sie mit fliegender B 3-Hammondorgel und weit nach hinten gemischtem Background-Gesang austarieren. "Inside Out", Abwehrzauber gegen jegliche "holy rollers" und Daniels Liebling auf dieser Platte, verträgt sogar Harfenklänge vom Synthesizer.

"Outlier" ist große Geste im Siebziger-Discogewand. Nightflight-Sound. Gitarren und Orgel schwirren, schweben. Anfliegende Helikopter vor einer Glitzerskyline, dazu Daniels Gesang als sehnsuchtsvolle Flipperkugel: "Aw what happened to you kid?/Yes and what's happening now?/On and on and on". Den Ann-Margret-Blues "I Just Don't Understand" coverten schon die Beatles. So inszenieren Spoon ihn auch, trotzdem klingt er souverän nach ihnen. "They Want My Soul" mit zehn starken Songs ist ein großartiges Album. Immens präsent und doch im Irgendwo zwischen mutmaßlich persönlicher Aussage und Poesie im Open Space. Das lyrische Ich spannt hier alle Saiten: zeitzeichen-Platte des Jahres.

Spoon: They Want My Soul. (Anti/Indigo 2014).

Udo Feist

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Weitere Rezensionen

Robert Spaemann: Meditationen eines Christen

Gottlosigkeit

Psalmen: Keine einfache Vorlage
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Ist man über die erste Verwunderung hinweg, finden sich in diesem Buch auch eine ganze Reihe tiefgehender, teilweise gar berührender Passagen.

Unter den konservativen Geistern der Bundesrepublik ist der Katholik und Philosoph Robert Spaemann sicherlich einer der charmantesten. Wie nur bei wenigen sonst gehen in seinen Büchern breite Gelehrsamkeit und schriftstellerischer Esprit eine gewinnende Symbiose ein. So konnte man denn durchaus gespannt sein auf seine über Jahre hinweg entstandenen, als sehr persönlich angekündigten Meditationen über die ersten einundfünfzig Psalmen. Und umso mehr ist man dann - auf den ersten Blick - etwas überrascht von Robert Spaemanns jüngstem Werk.

Das beginnt schon bei der äußeren Aufmachung. Sie erinnert doch ein bisschen zu direkt an die kommerziell erfolgreichen Jesus-Bücher von Papst Benedikt XVI. Vor allem aber ist es der Inhalt, der erst einmal stutzig macht: Schon auf den ersten Seiten ist ganz pauschal und ungebrochen von den "Gottlosen" die Rede, von den "Feinden Gottes" und der "Wahrheit". Sie freuten sich, so liest man, "wenn der Gute der Dumme ist, denn für sie ist ein Leben aus göttlicher Perspektive ohnehin eine Dummheit". Ihr Weg führe am Ende immer "ins Verderben".

Solch schroffe Töne ist man schon fast gar nicht mehr gewohnt, weder von Spaemann noch überhaupt vom gegenwärtigen Christentum unserer Breitengrade. In einem zunehmend pluralen Umfeld setzt man für gewöhnlich doch eher auf Verständigung und Wertschätzung gegenüber den vielfältigen säkularen Optionen unserer Tage.

Liest man weiter, dann wird schnell deutlich, dass einiges davon auch der biblischen Vorlage selbst, den Psalmen, geschuldet ist: Die Feinde Gottes und die Feinde des Beters, die Sünder und Gottlosen sind hier nun einmal ein Motiv, das sich in vergleichbarer Schroffheit durchzieht. Und was man allsonntäglich im Gottesdienst betet, ist ja nicht selten um genau diese Passagen bereinigt.

Genau das tut Spaemann nicht. Und die Aufrichtigkeit, in der er jener wahrlich nicht einfachen Vorlage gerecht zu werden versucht, nötigt einem durchaus Respekt ab. Allerdings unternimmt er eben auch nur wenig interpretative Anstrengungen, um sie unserer heutigen Situation - die ja doch recht wenig mit Verfolgung und Unterdrückung des Glaubens zu tun hat - irgendwie anzunähern. Die Auskunft, dass der Christ nach der Bergpredigt seine Feinde nicht mehr hassen, sondern lieben soll, wie Spaemann schreibt, kann dafür wohl nicht mehr als ein erster Schritt sein.

Ist man aber über die erste Verwunderung einmal hinweg, dann finden sich in diesem Buch auch eine ganze Reihe tiefgehender, teilweise gar berührender Passagen. Sie kreisen alle um einen Gedanken, in welchem Spaemanns an der antiken Philosophie geschultes Denken und die theologische Welt der Psalmen weitaus zwangloser zusammenfinden als beim Thema der Gottlosen. Man könnte diesen Gedanken auf die Formel bringen: Glauben heißt sehen lernen. Man kann die Welt als eine bloße Aneinanderreihung von Fakten und Ursachen ansehen. In den Augen des Gläubigen aber "geht das Sein der Welt in jedem Augenblick aus der Hand des Schöpfers hervor". Weil der Gläubige davon eine Ahnung hat, "wird ihm alles zum Zeichen": Das Schlafen und das Aufwachen, der Lauf der Sonne, die Musik, das Lächeln und das Weinen - sie alle deuten hin auf die "eigentliche Wirklichkeit", die hinter dem Schein der äußeren Dinge liegt. Im Guten, Wahren und Schönen wird der Mensch dieser eigentlichen Wirklichkeit gewahr. Sie sind hier schon Vorschein der Vollendung. Sie sehen und deuten zu können, das bedeutet Glauben.

"Es gibt keine Erlösung, wenn die Welt nicht im Grunde gut und schön ist", schreibt Spaemann an einer Stelle. Und man stellt sich die Frage, ob die Gottlosigkeit, von der er zuvor noch so düster sprach, in diesem Lichte besehen nicht auch bloß ein Zerrbild, ein äußerer Schein, ist.

Robert Spaemann: Meditationen eines Christen. Über die Psalmen 1 - 51. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2014, 416 Seiten, Euro 49,95.

Tobias Braune-Krickau

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