Wandel braucht Zeit

Überlegungen zum geplanten neuen Transsexuellengesetz der Ampelkoalition
Selbstbestimmungsgesetz
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An der Frage, inwieweit die eigene Geschlechtszugehörigkeit bestimmt werden kann, entzünden sich die Gemüter. Der Zürcher Sozialethiker Johannes Fischer unterzieht in seinem Beitrag die Vorüberlegungen zum neuen Gesetz einer Plausibilitätsprüfung. Sein Fazit: Die allgemeinen Anerkennungs- und Achtungsregeln unserer Gesellschaft können nicht ignoriert werden. Ein Wandel, wenn er gelingen soll, braucht Zeit und Geduld.

Die Ampelkoalition plant ein neues Selbstbestimmungsgesetz. Darin ist vorgesehen, dass künftig der Geschlechts­eintrag beim Standesamt durch die einfache Erklärung geändert werden kann, dass man den bisherigen Geschlechtseintrag X in den Geschlechtseintrag Y zu ändern wünscht. Hierfür sollen keinerlei Nachweise oder Begutachtungen verlangt werden. Denn da es nach Auffassung des Gesetzes beim standesamtlichen Geschlechtseintrag um das Recht auf Selbstbestimmung geht, wäre ein solches Verlangen ein Eingriff in dieses Recht. Bedingung ist lediglich, dass der Geschlechtseintrag nicht mehr als einmal im Jahr geändert wird und dass man mindestens 14 Jahre alt ist.

Vorgesehen ist darüber hinaus, dass „staatliche und nichtstaatliche Stellen (…) Hinweise auf die früher geführten Vornamen, den früher geführten Nachnamen und die frühere Geschlechtszuordnung zu löschen“ haben und dass die „amtlichen Dokumente, Zeugnisse aus früheren Ausbildungs- und Arbeitsverhältnissen und sonstigen relevanten Dokumente (…) mit ursprünglichem Ausstellungsdatum neu auszustellen“ sind. Christoph Türcke hat dies in einem Artikel in der FAZ mit den Worten kommentiert, dass „Behörden … per Gesetz zur nachträglichen Urkundenfälschung angehalten“ werden sollen.

Absurder Gedanke

Ist die Geschlechtszugehörigkeit etwas, worüber Menschen selbst bestimmen können? Im Blick auf die biologische Geschlechtszugehörigkeit ist ein solcher Gedanke absurd. Diese ist durch die Natur festgelegt. Doch wie verhält es sich mit dem sozialen Geschlecht? Liegt die Bedeutung des standesamtlichen Eintrags nicht darin, dass mit ihm festgelegt ist, was die betreffende Person in sozialen Kontexten ist, ob sie als Mann oder als Frau anzusprechen ist, ob von ihr im Maskulinum oder im Femininum zu sprechen ist und so weiter? Kann man nicht argumentieren, dass dem Willen einer Transperson, ihren Geschlechtseintrag beim Standesamt zu ändern, der Wunsch zugrunde liegt, sozial als das anerkannt zu werden, was sie zu sein wünscht beziehungsweise als was sie sich fühlt oder versteht. Warum soll man diesem Wunsch nicht stattgeben und Transpersonen diese Möglichkeit einräumen?

Dagegen spricht, dass die soziale Welt eine Welt ist, die wir mit anderen teilen. Wer wir in dieser Welt sind, das hängt daher nicht allein von uns und unserem Willen und Selbstverständnis ab. Das hängt vielmehr von sozialen Regeln ab, die für alle gelten. Die soziale Welt ist durch eine Vielzahl von Anerkennungs- und Achtungsregeln strukturiert, die festlegen, wem aufgrund welcher Kriterien welche Anerkennung und Achtung geschuldet ist. Man mag sich dies an der elementarsten sozialen Kategorie verdeutlichen, nämlich dem Menschsein. Mensch zu sein im Sinne der Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft heißt, ein Wesen zu sein, dem aufgrund seines natürlichen Menschseins die Anerkennung und Achtung als Mensch geschuldet ist.

Die Verankerung des sozialen Menschseins in nicht bloß faktischer, sondern in geschuldeter Anerkennung ist dabei von alles entscheidender Bedeutung. Wäre es in faktischer Anerkennung fundiert, dann wäre es von der Willkür anderer abhängig. Menschen könnten durch die Nichtanerkennung als Menschen entmenschlicht und zu Nichtmenschen oder „Untermenschen“ gemacht werden. Damit jedoch, dass das soziale Menschsein in geschuldeter Anerkennung fundiert ist, kann es einem Menschen durch faktische Nichtanerkennung nicht genommen werden. Die Anerkennung bleibt ihm geschuldet, und darin ist seine Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft begründet.

Im Übrigen hat die Verankerung in geschuldeter Anerkennung und Achtung die Pointe, dass im sozialen Menschsein die Menschenwürde enthalten ist. Denn Menschenwürde zu haben, heißt nichts anderes als ebendies: ein Wesen zu sein, dem die Anerkennung und Achtung als Mensch geschuldet ist. Mensch zu sein und Menschenwürde zu haben, ist ein und dasselbe.

Man kann sich an diesem Beispiel zugleich verdeutlichen, wie die soziale Welt mit der natürlichen Welt verknüpft ist und dass sie sich von dieser durch ihre Seinsweise unterscheidet. In der natürlichen Welt sind die Dinge aufgrund ihrer Eigenschaften das, was sie sind: ein Stuhl, ein Tisch, eine Rose oder eben ein Mensch im biologischen Sinne. In der sozialen Welt hingegen sind die Dinge aufgrund geschuldeter Anerkennung und Achtung das, was sie sind: Menschen, Kollegen, Geschwister und so weiter. Die Anerkennung und Achtung ist dabei geschuldet aufgrund von Regeln, die die soziale Zugehörigkeit an natürliche Sachverhalte binden. Im Falle des Menschen ist dies das natürliche Menschsein, im Falle des Kollegen eine bestimmte Arbeitsbeziehung, im Fall der Geschwister biologische Verwandtschaft und so weiter.

Von Willkür unabhängig

Dieselbe Verknüpfung von Sozialem und Natürlichem zeigt sich bei der sozialen Geschlechtszugehörigkeit: Frau beziehungsweise Mann im Sinne sozialer Zugehörigkeit (gender) zu sein heißt, ein Mensch zu sein, dem aufgrund seiner natürlichen Geschlechtszugehörigkeit (sex) die Anerkennung und Achtung als Frau beziehungsweise Mann geschuldet ist. Die Verankerung in nicht bloß faktischer, sondern in geschuldeter Anerkennung hat auch hier die Pointe, dass die soziale Geschlechtszugehörigkeit einer Person von der Willkür ihrer Mitmenschen unabhängig ist. Sie ist willkürlichen Festlegungen entzogen.

Somit hat sich ergeben, dass niemand seine soziale Geschlechtszugehörigkeit selbst bestimmen kann. Die soziale Geschlechtszugehörigkeit kann daher auch nicht durch ein Selbstbestimmungsgesetz geregelt werden. Sie ist vielmehr an Regeln geknüpft, die für alle gelten. Was bedeutet dies im Blick auf Transpersonen? Gemessen an der überkommenen Geschlechtszuordnung müssten Transpersonen demjenigen sozialen Geschlecht zugeordnet werden, das ihrem biologischen Geschlecht entspricht. Dass sie nicht in dieser Weise, sondern als Transpersonen zugeordnet werden, beruht auf einer sozialen Anerkennungsregel, die ihre soziale Zuordnung an einen anderen natürlichen Sachverhalt bindet als an ihr biologisches Geschlecht, nämlich an ihr von ihrem biologischen Geschlecht abweichendes Selbstverständnis. Sie sind sozial Personen, denen aufgrund ihres Selbstverständnisses die Anerkennung und Achtung geschuldet ist als Menschen, die sich abweichend von ihrem biologischen Geschlecht als Frau oder als Mann verstehen. Das Transperson-Sein stellt damit eine eigene soziale Kategorie neben dem Frau- und dem Mann-Sein dar. So gesehen müsste der standesamtliche Eintrag eigentlich das Trans-Sein dokumentieren und nicht ein Mann- oder Frau-Sein.

Das allerdings entspricht nicht der geschlechtlichen Selbstzuordnung von Transpersonen. Einerseits möchten sie nicht dem sozialen Geschlecht zugeordnet sein, das ihrem biologischen Geschlecht entspricht. Andererseits aber möchten sie auch nicht Transfrauen oder Transmänner sein. Sie möchten vielmehr ihrem Selbstverständnis entsprechend Frauen oder Männer sein, und das soll der standesamtliche Eintrag dokumentieren. Können sie das? Es liegt zumindest nicht außerhalb des Bereichs des Möglichen. Voraussetzung hierfür ist, dass eine Anerkennungs- und Achtungsregel in sozialer Geltung steht, die das soziale Frau- beziehungsweise Mann-Sein an das Selbstverständnis bindet. Frau beziehungsweise Mann zu sein heißt dann dieser Regel zufolge, ein Mensch zu sein, dem aufgrund seines vom biologischen Geschlecht abweichenden Selbstverständnisses die Anerkennung und Achtung als Frau beziehungsweise Mann geschuldet ist.

Diese Regel würde zu der überkommenen, am biologischen Geschlecht orientierten sozialen Geschlechtszuordnung ergänzend hinzukommen und das Verständnis des Frau- beziehungsweise Mann-Seins so erweitern, dass es auch Transpersonen umfasst. Im Vergleich mit den anderen sozialen Anerkennungsregeln hat diese Regel eine Besonderheit. Jene binden die soziale Anerkennung als X an den natürlichen Sachverhalt X, so die Anerkennung als Mensch an das natürliche Menschsein. Diese Regel bindet die Anerkennung als X nicht an X, sondern an das Selbstverständnis als X. Doch diese Besonderheit muss nicht gegen die Regel sprechen. Denn es geht bei der Anerkennung als Frau oder als Mann um die soziale, nicht um die biologische Zuordnung. Dass die Anerkennung an das Selbstverständnis gebunden ist, hat die Implikation, dass sie nicht von körperlichen Voraussetzungen abhängig ist. Transpersonen mögen es ihrem Selbstverständnis schulden, wenn sie sich einer operativen Geschlechtsumwandlung unterziehen. Sie schulden es gemäß dieser Regel nicht ihrer sozialen Geschlechtszugehörigkeit.

Doch was kann diese Regel in soziale Geltung setzen? Woher soll die Einsicht in ihre Geltung kommen? Es gibt hierfür wohl nur eine einzige Quelle, nämlich Empathie mit dem Schicksal der Menschen, um die es geht. Es ist die Wahrnehmung dessen, welche Härte es für eine Transperson bedeutet, sozial nicht das zu sein, was sie ihrem eigenen Selbstverständnis nach ist, aus der die Einsicht erwachsen kann, dass einer Transperson ihrem Selbstverständnis entsprechend die Anerkennung und Achtung als Frau beziehungsweise als Mann geschuldet ist. Noch kann man nicht davon sprechen, dass diese Regel allgemein in Geltung steht. Aber es könnte sein, dass wir gegenwärtig einen Wandel in diese Richtung erleben.

Auf jeden Fall braucht ein solcher Wandel Zeit. Auch wer diese Regel grundsätzlich akzeptiert, kann sich doch dabei entdecken, dass er sich schwer damit tut, eine Transperson als Frau oder als Mann anzuerkennen. Das gilt insbesondere für nahe Angehörige, die die betreffende Person noch in ihrem früheren Geschlecht erlebt haben. Überhaupt ist die soziale Wahrnehmung tief durch die überkommene Geschlechterzuordnung geprägt. Deshalb können Transpersonen zwar von ihren Mitmenschen erwarten, in ihrem Selbstverständnis als Frau oder als Mann respektiert zu werden, aber sie können von ihnen nicht die Anerkennung als Frau oder Mann einfordern. Es geht um einen Lernprozess, dessen Tempo sich nicht erzwingen lässt.

Anerkennung und Achtung

Was aber den standesamtlichen Eintrag betrifft, so kann er – die Geltung dieser Regel vorausgesetzt – mit dieser Regel begründet werden. Transpersonen können sich als Mann oder als Frau eintragen lassen, weil sie aufgrund dieser Regel das sind, als was sie sich eintragen lassen. Sie sind es nicht deshalb, weil sie es zu sein wünschen, und nicht deshalb, weil sie sich so fühlen oder verstehen, sondern deshalb, weil ihnen aufgrund ihres Selbstverständnisses die entsprechende Anerkennung und Achtung geschuldet ist. Dabei kann von ihnen verlangt werden, dass sie sich mit diesem ihrem Selbstverständnis in geeigneter Form ausweisen, nicht zuletzt, um Missbräuche in Bezug auf den standesamtlichen Eintrag auszuschließen. Das kann ein psychologisches Gutachten sein. Dass der von der Ampelkoalition vorbereitete Gesetzentwurf dies nicht vorsieht, beruht wie gesagt auf dem Missverständnis, es ginge bei der standesamtlichen Festlegung des sozialen Geschlechts einer Person um deren Selbstbestimmung. Das ist nach dem Gesagten unsinnig. Niemand kann sein soziales Geschlecht selbst bestimmen. Es wird vielmehr durch Regeln bestimmt, die für alle gelten. Daher kann von jedem, der Anspruch auf eine bestimmte geschlechtliche Zuordnung erhebt, verlangt werden, dass er sich vor den dafür geltenden Regeln ausweist.

Realität nicht verändert

Zum Schluss die Frage: Hätte man das alles nicht auch einfacher haben können? Es gibt die Meinung, dass die Geschlechtszugehörigkeit eine soziale Konstruktion ist. Ob Transpersonen Männer oder Frauen sein können, hängt dann lediglich davon ab, wie das Mann- oder Frau-Sein konstruiert wird. Diejenigen, die so denken, haben in der Regel keinen Begriff von der Lebenswelt, das heißt von der Welt, wie wir sie erleben und in welcher sich unser Leben realiter vollzieht. Für sie fällt die Welt mit der Tatsachenwelt des urteilenden Denkens zusammen, und so glauben sie, die Welt verändern zu können, indem sie im Denken die Dinge dekonstruieren und anders konstruieren.

Doch damit, dass man im Denken die Dinge anders konstruiert, hat man nicht die Realität der Lebenswelt verändert. Die Meinung, man hätte dies, hat etwas von intellektuellem Größenwahn. Die Anerkennungs- und Achtungsregeln, die die soziale Welt strukturieren, lassen sich nicht per Entschluss oder Entscheidung in soziale Geltung oder außer Kraft setzen. Aber man kann doch immerhin hoffen, dass die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Menschen, die aus dem Raster geltender Anerkennungs- und Achtungsregeln herausfallen, sowie die Empathie mit ihnen zu neuen Einsichten darüber führen können, was diesen Menschen geschuldet ist.

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Johannes Fischer

Johannes Fischer (Jahrgang 1947) war von 1993 bis 1997 Professor für Systematische Theologie in Basel und von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich und Leiter des dortigen Instituts für Sozialethik.


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