Im Westen viel Neues
Im Laufe des 19. Jahrhunderts interessierte sich die deutsche Theologie immer mehr für die religiöse Entwicklung in den USA. Der erste prominente deutsche Theologe, der die USA bereiste, war im Jahre 1904 Ernst Troeltsch. Darüber promoviert der Leipziger Theologe Thomas Linke.
Geboren wurde ich 1990 in der Oberlausitz im Dreiländereck Tschechien – Polen – Deutschland, und ich komme aus einem „gemischtreligiösen“ Elternhaus: Mein Vater ist konfessionslos und meine Mutter evangelisch. Kirche und Glauben haben in meiner Familie keine sehr große Rolle gespielt, aber ich fand das alles schon als Kind sehr interessant. So wurmte es mich, dass alle im Gottesdienst das Vaterunser auswendig konnten – nur ich nicht! Und so habe ich mir das Vaterunser, kaum dass ich lesen konnte, aus meiner Kinderbibel selbst beigebracht.
Später in der Schule waren wir nur drei, vier Leute, die in den Religionsunterricht gingen. Das führte dazu, dass die anderen fragten: „Was macht ihr komischen Christen da denn für seltsame Dinge?“ Auch gab es durchaus noch die eine oder andere DDR-sozialisierte Lehrkraft, die mit Religion nichts anfangen konnte und damit auch nicht groß hinterm Berg hielt. Das alles führte bei mir schon früh zu einer hohen Identifikation mit dem christlichen Glauben und zum Anspruch, ihn auch „intellektuell“ verteidigen zu können.
In der sechsten oder siebten Klasse bekamen wir dann einen sehr guten Religionslehrer: Er zeigte uns, dass es zwischen allgemeiner und religiöser Rationalität eine tragfähige Brücke gibt. In der Oberstufe haben wir Gottesbeweise von Thomas von Aquin studiert und Immanuel Kant gelesen. Schnell war für mich klar, dass ich Religionslehrer werden wollte. Da es als zweites Fach Geschichte sein sollte, begann ich an der Universität Leipzig, denn dort werden beide Fächer in vollem Umfang angeboten. Ich wohnte im Evangelischen Studienhaus in Stötteritz, einem Wohnheim in kirchlicher Trägerschaft. Dort traf ich auf viele Kommilitonen, die – anders als ich, das Handwerkerkind – aus Theologendynastien kamen. Ich erinnere mich an eine Geburtstagsfeier, bei der doch tatsächlich drei (!) Enkel von ehemaligen sächsischen Landesbischöfen da waren.
Im Studium habe ich mich von Beginn an besonders auf Systematische Theologie konzentriert. Ich erinnere mich an ein Proseminar, wo wild diskutiert wurde. Das Tafelbild konnte man am Ende wegschmeißen, aber summa summarum haben solche Seminare einen ins Denken gebracht. Bald belegte ich theologische Veranstaltungen über das festgelegte Curriculum für Lehramtsstudenten hinaus, und meine Bachelorarbeit schrieb ich über das Thema „Die Bewertung des Suizids bei Thomas von Aquin und David Hume“.
Im Masterstudium hatte ich dann die Möglichkeit, dank eines Studienprogrammes der Evangelischen Mission in Solidarität, ein halbes Jahr in Japan zu studieren. Dort kam mir erstmals ernsthaft der Gedanke an eine Promotion. Zunächst aber stand zum Studienabschluss die Masterarbeit an. Ich wollte das Thema „Tillich in Japan“ machen, aber davon riet man mir ab, denn es sei schwierig nachzuweisen, welche Gedanken Tillich wirklich 1960 während seines Aufenthaltes dort entwickelt habe. So widmete ich mich in der Masterarbeit der Kommentierung und Herausgabe eines bis dato unveröffentlichten Aufsatzes von Rudolf Otto, der den Titel „Parallelen und Wertunterschiede im Christentum und Buddhatum“ trägt.
Nachdem ich mein Referendariat in Leipzig absolviert und mich erfolgreich um ein Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung beworben hatte, begann ich 2019 mit der Promotion. Mein Doktorvater Professor Rochus Leonhardt hatte mich auf einen Vortrag aufmerksam gemacht, in dem er sich mit der Amerikarezeption von Schleiermacher und Troeltsch beschäftigt hatte. Sein Vorschlag war, in meiner Dissertation die Entwicklung der USA-Rezeption in der deutschen Theologie im 19. Jahrhundert bis zu Ernst Troeltsch (1865–1923) zu untersuchen. Den Vorschlag habe ich gerne angenommen, denn mich interessierte, dass die deutsche Theologie selbst interkulturelle Impulse empfangen und nicht nur – wie oft erzählt – ihre eigene Theologie exportiert hat. Im Laufe meiner Recherche wurde deutlich, dass die Amerikarezeption bei Troeltsch am ausführlichsten geschehen ist, und ich habe mich daher auf ihn konzentriert. Eine Beschäftigung mit Zeitgenossen und dem 19. Jahrhundert dient vor allem dazu, seinen Standpunkt zu kontextualisieren. Interessant ist aber, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts die Amerikakontakte der deutschen theologischen Fakultäten intensiver wurden, weil die Zahl der Studenten aus den USA immer mehr stieg – schon Friedrich Schleiermacher hatte amerikanische Studenten in Berlin. Allerdings ist niemand der damals prägenden deutschen Theologen selbst in Amerika gewesen. Der erste, der hingefahren und zurückgekommen ist, war der Heidelberger Theologe und Religionsphilosoph Ernst Troeltsch, der 1904 anlässlich der Weltausstellung in St. Louis für fünf Wochen in die USA reiste. Auf diese Erfahrung und die USA allgemein kommt er immer wieder zu sprechen und das werte ich in meiner Dissertation (Arbeitstitel: „Entflechtung von Religion und Politik. Das USA-Bild Ernst Troeltschs“) systematisch aus. Dabei wird immer deutlicher, dass sich meine Ausgangsvermutung bestätigt, dass Ernst Troeltsch die damalige USA als „kritisch gesichtetes Vorbild“ begreift, vor allem wegen der besonderen Ausgestaltung des Verhältnisses von Religion und Staat.
Troeltsch beeindruckt, dass dieses System in den USA zum einen gewährleistet, Kirche und Staat konsequent zu trennen, aber zum anderen nicht dazu führt, dass die Religion an Bedeutung verliert, sondern dass im Gegenteil sogar eine Vitalisierung stattfindet. Diese Trennung schien also religionsproduktiv zu sein – anders als die, die dann 1905 in Frankreich mit der religionsfeindlichen Laicité vollzogen wurde. Zudem erlebte Troeltsch in den USA ein Christentum, das ausgesprochen demokratiefreundlich ausgeprägt war. Das war um 1900 im Deutschen Kaiserreich natürlich ganz anders.
Interessant ist auch, dass die Erfahrungen der USA-Reise die spätere Tätigkeit von Ernst Troeltsch als Politiker in der Weimarer Republik – er war ja einige Zeit Staatssekretär im preußischen Kultusministerium – prägen. Was dieses weiterführende Thema betrifft, werde ich mich allerdings im Rahmen dieser Arbeit beschränken müssen. Vielleicht ergibt sich später noch einmal eine Gelegenheit. Schön wär’s.
Aufgezeichnet von Reinhard Mawick
Thomas Linke
Thomas Linke ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig.
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.