Konformismus oder Kritik?

Zur Kulturtechnik Offener Briefe
Foto: epd

Offene Briefe oder andere demonstrative öffentliche Positionierungen zur Rettung der staatlichen Souveränität der Ukraine und zur Verteidigung der von uns in Anspruch genommenen Werte häufen sich derzeit. Doch was bewirken solche Aktivitäten? Tragen Sie dazu bei, dass der verbrecherische Krieg Russlands gegen die Ukraine beendet werden kann? Ein Denkanstoß von Hagen Findeis, Religionssoziologe an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

In Krisenzeiten, so heißt es, haben Sinnstifter und Propheten Hochkonjunktur. Solidaritätsbekundungen und Offene Briefe auch. Zwei solche Briefe zur Frage deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine wurden jüngst breit diskutiert. Obwohl sie sich diametral widersprechen, geht es beiden darum, noch schlimmeres Leiden zu vermeiden.
 

Doch was bewirken diese Aktivitäten? Tragen Sie dazu bei, dass der verbrecherische Krieg Russlands gegen die Ukraine beendet werden kann? Zu fragen wäre, was die demonstrative öffentliche Positionierung zur Rettung der staatlichen Souveränität der Ukraine und zur Verteidigung der von uns in Anspruch genommenen Werte beiträgt.

Dass Krisen einen Bedarf an Überprüfung und Vergewisserung des eigenen Handelns erzeugen, dass sie emotionale Vergemeinschaftung befördern und mitunter neue Problemlösungen ermöglichen, ist eine alte Erfahrung. Doch sind all die blau-gelben Solidaritätsbekundungen wirklich auf gemeinsam geteilte Werte ausgerichtet? Welche Werte sollten das sein? Und worin liegen die konkreten Effekte zur Durchsetzung dieser Werte? Oder könnte es sein, dass der Bezug auf die Ukraine vorrangig gar nicht deren Freiheit und unsere gemeinsam geteilten Werte meint, sondern instrumenteller Natur ist und nicht zuletzt dem Marketing unserer je eigenen Interessen dient?

Besseres Selbstbild

In den Verhaltenswissenschaften spricht man von der Einstellungs-Verhaltens-Differenz, die auf soziale Erwünschtheitseffekte zurückzuführen ist. Menschen wollen anerkannt werden und sagen deshalb bei weitem nicht immer das, was sie wollen, sondern das, was ankommt und sozial honoriert wird. Dies kann zu erheblichen sozialen Verzerrungen führen. Man sagt dann, dass man für die Freiheit der Ukraine, für Frieden und gegen Putin ist. Man meint dies vielleicht sogar so, wie man es sagt. Aber zugleich meint man noch etwas Anderes, das man nicht sagt und vielleicht auch gar nicht sagen muss, das aber mit dem Gesagten auf eine vorteilhafte Weise verknüpft ist: dass man eine ethisch akzeptierte Werthaltung vertritt und dass man sich dadurch mit anderen scheinbar Gleichgesinnten emotional verbindet - und dass dieser Zusammenschließungseffekt zugleich die Aufmerksamkeit für die eigene politische Agenda erhöht.

Für den einzelnen kommt natürlich noch dazu, dass seine Beteiligung an einer sozialmoralischen Kampagne, wie einer Unterschriftensammlung, ihm dazu verhilft, sich von Anderen abzuheben. Es dient auch dazu, ein besseres Selbstbild zu gewinnen, dass es ihm ermöglicht, mit sich selbst zufrieden zu sein. Doch wie sehr hilft all das den Menschen in der Ukraine? Zweifellos beleben die neu in Gang gekommenen Debatten über die Sozialfigur des Intellektuellen, über Pazifismus, unser Verhältnis zu Russland und die Bedingungen der Möglichkeit der Bewahrung einer liberalen Moderne auch das Bewusstsein der politischen Verantwortungsträger. Aber auch wenn dies unsere politische Kultur belebt, der Ukraine selbst helfen die paradoxen, an die Verantwortungsträger in Deutschland adressierten Handlungsaufforderungen wenig. Und eine Fahne aus dem Fenster zu hängen oder Likes in der eigenen digitalen Blase zu verteilen, kostet nahezu nichts. Der dadurch erzeugte Ethizismus, dass man eine Fassade aufbaut, die Diskursformationen hervorbringt, die ihrerseits eine Scheinrealität abbilden, beinhaltet sogar eine beträchtliche Gefahr.

Als Ostdeutscher, der in der DDR aufgewachsen ist, weiß ich, wovon ich spreche. Wollte man in der DDR seine Stimme erheben, war es ratsam, sich auf ideologisch halbwegs sicherem Terrain zu bewegen. Man sprach dann zum Beispiel von Sozialismus, um noch etwas ganz Anderes mit zu meinen, etwa die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Die Gefahr einer solchen Scheinkommunikation liegt auf der Hand. Sie behindert, das zu sagen, worum es eigentlich geht, und vernebelt das Gesagte bis zur Unkenntlichkeit.

Zahlungsbereitschaft erklären

Gewiss würde es auch helfen, die moralischen Grundlagen des eigenen Handelns offenzulegen. Dies ist schwer, denn in einer offenen Gesellschaft, in der die Dinge ja auch immer im Fluss sind, sind wir es gewöhnt, unser Handeln mit Sachgründen zu erklären, die uns in unserer eigenen Existenz eher selten berühren, oder aber moralische Argumente identitätspolitisch und damit zumeist selbstreferenziell zu gebrauchen.

Genau das ändert sich jetzt. Darin liegt eine Chance. Jede politische Positionierung hat einen Preis. Den gilt es zu benennen und die eigene Zahlungsbereitschaft zu erklären. Während viele Menschen mental noch damit beschäftigt sind, den Zusammenbruch jahrzehntelang eingespielter Diskursroutinen auf der politischen Klaviatur der Bundesrepublik zu verarbeiten, haben andere auf die Frage, was wirklich zu tun ist, nicht die ultimative, aber eben mehr als eine symbolische Antwort gegeben. Der soziale Zeigecharakter der Solidaritätsbekundungen, die mittlerweile in keiner Sonntagsrede mehr fehlen, darf sich nicht im Pathos erschöpfen. Auf die konkrete Tat kommt es an.

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