Realismus und Friedenssehnsucht

Radikaler Pazifismus kann sich nicht auf Luther berufen
„Denn wer das Schwert nimmt …“ (Matthäus 26,52): „Die Gefangennahme Jesu“ von Julius Schnorr von Carolsfeld (1794 – 1874).
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„Denn wer das Schwert nimmt …“ (Matthäus 26,52): „Die Gefangennahme Jesu“ von Julius Schnorr von Carolsfeld (1794 – 1874).

Seit Jahren fördert die Leitung der badischen Landeskirche Initiativen, deren Ziel unter anderem die Propagierung konsequenter Abrüstung und eine „Kirche des gerechten Friedens“ ist. Doch was ist nun von all den Wunschvorstellungen übriggeblieben? Um trotz des russischen Überfalls das Weltbild aufrechtzuerhalten, müsse man unhaltbare Erklärungen zusammensuchen. Christoph Strohm, Professor für Kirchengeschichte in Heidelberg, kritisiert diese Art von Realitätsverweigerung.

Wir weigern uns zu glauben, dass keine Chancen mehr auf Verständigung und für einen gerechten Frieden bestehen“ (Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der EKD am 24. Februar). Dieser Satz, gesprochen am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, findet sich am Anfang der Internet-seite „Frieden & Gerechtigkeit“ der badischen Landeskirche. Er dient noch Wochen später als Rechtfertigung dafür, sich der Wirklichkeit zu verweigern.

Seit vielen Jahren fördert die Kirchenleitung der badischen Landeskirche – unter anderem durch eigens dafür geschaffene Stellen – Initiativen, deren Ziel die Propagierung konsequenter Abrüstung, eine Neukonzeption der Sicherheitspolitik ohne Militär und Waffen sowie die Verwandlung der badischen Landeskirche in eine „Kirche des gerechten Friedens“ ist.

In verschiedenen Schriften, die von Angehörigen der Kirchenleitung erstellt worden sind, werden „im Auftrag des Evangelischen Oberkirchenrats“ weitreichende positive wie negative Szenarien bis zum Jahr 2040 erläutert. Es wird gefordert, dass sich Deutschland innerhalb der NATO „als rein ziviler Akteur“ versteht und sich auch aufgrund seiner besonderen Geschichte entscheidet, „bis zum Jahr 2040 als Mitglied der NATO konsequent militärisch abzurüsten und seinen Teil zur gemeinsamen Sicherheit im Rahmen der auszubauenden zivilen Fähigkeiten der OSZE beizutragen“. Abschreckung eines potenziellen Angreifers durch militärische Fähigkeiten wird abgelehnt. Zahlreiche weitere Vorstellungen dieser Art werden formuliert. Sogar der friedenserhaltende Einsatz von Militär unter der Verantwortung der UNO wird problematisiert.

Spätestens seit dem 24. Februar 2022 stellt sich die Frage, was von all den Wunschvorstellungen und Visionen übrigbleibt. Um trotz des russischen Überfalls das Weltbild aufrechtzuerhalten, musste man sich unhaltbare Erklärungen zusammensuchen. So hat einer der Autoren der Texte, Ralf Becker von der Landeskirche Baden und Koordinator der Initiative „Sicherheit neu denken“, in einem Interview im Deutschlandfunk zur Erläuterung des Ungeheuerlichen beigetragen, dass sich Russlands Präsident Putin vom Westen „seit dreißig Jahren zu Recht betrogen“ fühle (siehe auch Beitrag Seite 23).

Die Erschütterungen haben in breiten Teilen der Gesellschaft und insbesondere in der Regierung zu einem Umdenken und der Einschätzung geführt, dass konsequente Abschreckung und eine damit verbundene erhebliche und teure Aufrüstung nottut. Die Bundesregierung sieht sich angesichts eines skrupellosen Gewaltherrschers, der jede Schwäche des Westens ausnutzt, gezwungen, konsequent in die (Wieder-)Herstellung der Wehrhaftigkeit und Abschreckungsfähigkeit Deutschlands und der Europäischen Gemeinschaft zu investieren.

In der badischen Kirchenleitung verschließt man sich diesem Erkenntnisprozess. Der Landesbischof distanzierte sich am 3. März 2022 in einer Rede anlässlich der Eröffnung des Studiengangs Friedenspädagogik des „Friedensinstituts“ der Evangelischen Fachhochschule Freiburg mehr oder weniger klar von der in einem breiten Konsens formulierten Neuorientierung. Der flehentlich geäußerten Bitte, den Kampf der von der russischen Militärmaschinerie Niedergewalzten durch Lieferung von Verteidigungswaffen zu unterstützen, wird eine Absage erteilt. In einer Pressekonferenz am 9. März 2022 forderte der Landesbischof „einen sofortigen Stopp des Ukraine-Kriegs .... Allerdings habe er Zweifel, dass die von der Bundesregierung geplanten Waffenlieferungen geeignet seien, den Krieg zu beenden“. Die Presseerklärung wurde mit der Überschrift „Landesbischof sieht Waffenlieferungen an Ukraine kritisch“ veröffentlicht.

Am 15. März 2022 ist ein weiterer Text veröffentlicht worden. Der Titel formuliert den Anspruch, die Position der badischen Landeskirche wiederzugeben: „Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. Stellungnahme zum Ukrainekrieg auf der Basis der friedensethischen Positionierung der Evangelischen Landeskirche in Baden.“ Verfasst hat ihn die „Fachgruppe Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens in der Evangelischen Landeskirche in Baden“. Trotz mancher wortreicher Erläuterungen wird an den alten Positionen festgehalten. Es findet sich kein Wort des Bedauerns, dass man den glasklaren Warnungen vor der russischen Aggression, wie sie seit vielen Jahren formuliert worden sind, kein Gehör schenkte, weil sie den eigenen Wünschen und Sehnsüchten widersprachen. Auch die Erfahrungen ausbleibenden Erfolgs gewaltfreien Widerstands in jüngerer Zeit (Hongkong, Belarus, Kasachstan) scheint man nicht wahrnehmen zu wollen.

In einer der Reformation verpflichteten Kirche müssen drei grundlegende Einwände erhoben werden. Erstens ist es irreführend, sich aus der Bibel einzelne Texte herauszusuchen und dann sein Anliegen einer strikt pazifistisch-gewaltfreien Positionierung damit zu begründen. Wenn man wollte, könnte man hier bei Martin Luther lernen. Im Jahr 1523 beantwortete der Reformator entsprechende Fragen in einer Schrift mit dem Titel „Von weltlicher Obrigkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei“. Ein Jurist, der in führender Position tätig war und der Reformation anhing, hatte sich angesichts bedrängender Gewissensnöte an Luther gewandt. Er sah sich einerseits den Geboten der Bergpredigt nach Matthäus 5 verpflichtet, in denen ja strikte Gewaltlosigkeit gefordert wird („die andere Wange hinhalten“). Andererseits las er in Römer 13, dass die Obrigkeit mit ihren Gewaltmitteln von Gott sei und man ihr zu gehorchen habe.

Luther antwortete ihm, dass er für sich selbst den Verheißungen der Bergpredigt trauen könne und sich nicht wehren müsse. Wenn er aber ein Amt innehabe, das heißt, als Vater Verantwortung für seine Kinder und alten Eltern habe oder als Ministerin die Verantwortung für ein Gemeinwesen trage, dann ist es die elementare Pflicht, die anvertrauten Menschen gegen den Gewalttäter auch mit Gewaltmitteln zu schützen. Das verlangen schon das natürliche Recht und das Gebot der Nächstenliebe.

Der Reformator verbindet die Unterscheidung „für sich – für andere“ beziehungsweise von Person und Amt mit der Unterscheidung von zwei Regimenten. Aufgabe des geistlichen Regiments ist es, das Evangelium zu verkünden. Aufgabe des weltlichen Regiments ist es, für Recht, Ordnung und Frieden zu sorgen. Angesichts der Macht des Egoismus und der Sünde in der Welt schien das dringend notwendig, und ohne ein funktionierendes weltliches Regiment wäre ja auch keine Evangeliumsverkündigung möglich.

Notfalls mit Gewalt

Luther hatte ein waches Bewusstsein für den Wert des Rechts, das mit Sanktionen durchgesetzt wird. In seiner Jugendzeit war es endlich gelungen, durch die Schaffung des Reichskammergerichts 1495 das Fehdewesen im Reich zu überwinden. Fehdewesen bedeutete ein sich aufschaukelndes, manchmal schier endloses gegenseitiges Strafen. Jetzt gab es eine übergeordnete Instanz, die Urteile fällte und Reichsstände beauftragen konnte, diese Urteile – notfalls mit Gewaltmitteln – zu exekutieren.

Der Wittenberger Professor hat die Unterscheidung der beiden Regimente den Radikalen in den eigenen Reihen entgegengehalten. Hier war man der Auffassung, dass die Bibel ernst zu nehmen bedeute, sich im Sinne der Bergpredigt nicht an obrigkeitlichem Handeln, das ja mit Gewaltanwendung verbunden war, zu beteiligen. Gegen eine Abwertung der weltlichen Obrigkeit unter Berufung auf das Evangelium haben Luther und ebenso die anderen Reformatoren wie Philipp Melanchthon und Johannes Calvin entschieden protestiert.

Die Barmer Theologische Erklärung vom Mai 1934 vertrat in ihrer fünften These die gleiche Position. Luthers Unterscheidung der beiden Regimente führte die mittelalterliche Zwei-Schwerter-Lehre fort. Ein besonderes Gewicht erhielt das weltliche Regiment bei Luther durch die Verbindung mit der Überzeugung vom Priestertum aller Getauften. In der mittelalterlichen Welt gab es die selbstverständliche Unterscheidung des besseren Christentums der Priester oder Mönche und der einfachen Christen. Letztere galten als in die Geschäfte der Welt verstrickt und entsprechend weit entfernt vom Weg der Heiligen.

Ganz anders Luther: Welche Aufgabe auch immer der Christ oder die Christin in einem Gemeinwesen übernimmt, alle haben ihre Würde, auch die Tätigkeit der Magd. Es handelt sich hier nicht einfach um einen Job, sondern um einen Beruf im vollen Sinne einer Berufung. Der Polizist und die Soldatin, die notfalls die Waffe in die Hand nehmen muss, ist hier selbstverständlich genauso zu würdigen wie die Bischöfin oder der Theologieprofessor, der seine Erklärungen vorträgt.

Luthers Unterscheidung der beiden Regimente ist durch missbräuchliche Interpretationen insbesondere in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Misskredit geraten. Man nutzte sie, um Gewalttätigkeiten im weltlichen Regiment theologisch zu legitimieren. In der Nachkriegszeit setzte darum aus gutem Grund eine ausgesprochen kritische Debatte über die erst im 20. Jahrhundert sogenannte Zweireichelehre Luthers ein.

Einige der Autorinnen und Autoren der pazifistisch-gewaltfreien Positionierung der badischen Landeskirche sind durch diese Kritik geprägt und vertreten ihre Positionen seit den 1980er-Jahren ungebrochen bis heute. Veränderte Realitäten werden nicht wahrgenommen, wo doch Wirklichkeitsgemäßheit dringend notwendig wäre. Das ist das, was der Theologe Dietrich Bonhoeffer, den man in Sonntagsreden so gerne zitiert, all den Vertretern einer starken Gesinnungs- und Prinzipienethik entgegengehalten hat. Er wusste, dass da manchmal genau das Gegenteil des gut Gewollten herauskommt.

Zweitens ist der Kirchenbegriff, der den badischen Friedenstexten zugrundeliegt, kritisch zu hinterfragen. In zahlreichen Texten und Verlautbarungen wird davon gesprochen, dass die badische Landeskirche auf dem Weg ist, eine Kirche des gerechten Friedens zu werden. Man wird in der Kirchengeschichte viele Beispiele dafür finden, dass die Kirche sich nicht entschieden genug für den Frieden eingesetzt oder gar Kriege befördert hat. Gleichwohl ist hier Sorgfalt geboten. Die Rede von den täuferischen Kirchen der Reformationszeit als „Friedenskirchen“ hat sich eingebürgert und suggeriert dabei, dass die reformatorischen Landeskirchen keine Friedenskirchen seien. Das ist zu einfach.

In der radikalen Reformation hat man keine Verantwortung für ein Gemeinwesen getragen, so dass sich hier andere Probleme stellten. Grundlegend für die sogenannten Friedenskirchen der Reformationszeit war das Konzept der reinen Kirche. Hier sollte und musste nicht nur die Verkündigung, sondern auch die Lebensführung strikt am Bibeltext orientiert sein. Wer dem nicht gerecht wurde, war nach zweimaliger Ermahnung zu exkommunizieren. Beteiligung an Gewaltmaßnahmen des Staates, nicht nur als Soldat oder Polizistin, sondern auch als Richter und Politikerin waren als nicht mit der Bibeltreue vereinbar angesehen. Insofern stellte sich das Problem der Verantwortungsübernahme und der dann notwendigen Kompromisse nicht.

Die reformatorischen Landeskirchen hingegen hatten im Allgemeinen nicht den Anspruch der Bildung der reinen Gemeinde mit strenger Kirchenzucht. Beide Modelle hatten besondere Chancen und Risiken. In jedem Fall ist es schon soziologisch gesehen fragwürdig, heute in Deutschland ein Theologie- und Kirchenmodell zu vertreten, das Christinnen und Christen, die in der Politik Verantwortung übernehmen, vor unlösbare Probleme stellt oder sogar tendenziell ausgrenzt.

Drittens ist die Rede vom „gerechten Frieden“ zu problematisieren. Der Begriff hat sich etabliert, weil wir vom Frieden Verwöhnten damit den im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen unpassend erscheinenden Begriff „gerechter Krieg“ vermeiden konnten. Die Rede vom gerechten Frieden verschleiert jedoch die Notwendigkeit, dass man über die Frage des gerechtfertigten Krieges diskutieren muss, wenn einem durch einen Aggressor ein Angriffskrieg aufgezwungen wird. Man verabschiedet sich moralisch stolz aus einer in der westlichen (nicht der östlichen!) Christenheit über Jahrhunderte geführten Debatte. Ertrag dieser gerade auch von protestantischen Juristen vorangetriebenen Erörterungen waren völkerrechtliche Bestimmungen, unter welchen sehr eng (!) begrenzten Kriterien Krieg geführt werden darf (ius ad bellum) und welche Regeln – wenn es zum Krieg kommt – unbedingt einzuhalten sind (ius in bello). Es ging hier nicht darum, Gewalt „zur Lösung von Konflikten“ zu propagieren, sondern die in der unerlösten Welt reale Gewalt zu begrenzen.

Gewaltsamer Widerstand möglich

Einzelne Bibelworte zur Bestärkung eigener Vorurteile heranzuziehen, reicht nicht. Vielmehr bieten die Texte die Chance, gemeinsam das Gewissen zu prüfen. In einem badischen Friedensgottesdienst am Sonntag nach dem Kriegsbeginn hörte ich eine Predigt, die zu dem Ergebnis kam, dass Hilfeleistung in Gestalt von Waffenlieferungen abzulehnen sei. Predigttext war Jesu Wort aus dem Matthäusevangelium: „Wer das Schwert nimmt, der wird durchs Schwert umkommen“ (Matthäus 26,52). Mit diesen Worten lehnt Jesus ab, seine Verhaftung mit Gewaltmitteln zu verhindern.

Hans von Dohnanyi hat im Ringen um die Frage eines gewaltsamen Widerstands gegen Hitler seinen Schwager, den Theologen Dietrich Bonhoeffer, gefragt, ob das Wort nicht auch für die am Widerstand Beteiligten gelte. Bonhoeffer lehnte den gewaltsamen Widerstand bekanntlich nicht ab, sondern entfaltete stattdessen seine vielzitierte Verantwortungsethik. Der Christ, die Christin sind zum Wagnis der verantwortlichen Tat bereit im Vertrauen auf die Vergebung der Schuld – um Schlimmeres zu verhüten. 

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Christoph Strohm

Christoph Strohm ist Professor für Reformationsgeschichte und neuere Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg und ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.


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