Es gab eine Zeit, da hatte die lateinamerikanische Literatur Hochkonjunktur in Deutschland. Unterhaltungsautorinnen wie Isabel Allende beherrschten die Bestseller-Listen, anspruchsvolle Autoren wie Gabriel García Márquez wurden von vielen intensiv gelesen. Um einige Autoren wie Julio Cortázar oder den älteren Jorge Luis Borges bildeten sich regelrechte Kultgemeinden. Zugleich erschien jüngeren Deutschen Lateinamerika als ein Sehnsuchtsziel, das Hoffnung weckte und Engagement inspirierte. Zudem zog die Befreiungstheologie nicht nur aus Brasilien viele in ihren Bann. Sie besaß selbst eine literarische Seite, fand einen künstlerischen Ausdruck in den Werken zum Beispiel von Ernesto Cardenal, katholischer Priester und sozialistischer Politiker und Dichter aus Nicaragua.
Das alles scheint lange her zu sein. Die Euphorie von damals ist verraucht. Die deutsche Leserschaft orientiert sich wieder stärker an US-amerikanischen Schreibmustern oder konzentriert sich auf heimische Produkte. Und wenn es darum geht, aktuelle Debatten über Postkolonialismus und Rassismus literarisch gespiegelt zu sehen, sind es eher Bücher aus Afrika, die hierzulande Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dabei ist die Literatur des riesigen, geschundenen, vielfältigen, geschichtsträchtigen, jungen Lateinamerikas immer noch höchst vital und theologisch reizvoll.
Es ist ein Glück, dass der kolumbianische Schriftsteller und Theologe Juan Esteban Londoño in seiner deutschen Dissertation an einem exemplarischen Thema mit Blick auf drei Autoren deutlich macht, was es hier zu entdecken gibt. Er verbindet dabei Grundintentionen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie mit kulturtheologischen Ansätzen aus Deutschland. Säkulare Literatur als eine Realisation des Christentums und die Bibel als offenes Kunstwerk zu verstehen – auf diese Spur lässt er sich von Paul Tillich und Dorothee Sölle bringen. Die Solidarität von Gott und Mensch im Leiden, die Verbindung des menschlichen Leidens mit dem Gekreuzigten als Kern des Christlichen zu verstehen – dieses Motiv verdankt er der Befreiungstheologie.
Dass dies immer noch inspirierende Impulse für ein Gespräch zwischen Theologie, Kultur und Politik sein können, zeigt Londoño am Beispiel von drei Autoren, die hierzulande kaum bekannt sind. Sie sind sehr unterschiedlich, zugleich aber vergleichbar in ihrer Grundintention. Da ist der argentinische Hugo Mujica, der nach langen Aufenthalten in der US-amerikanischen Hippie-Szene und anschließend in einem Trappistenkloster heute in Buenos Aires als Priester arbeitet und zugleich ein immenses Werk von hoher mystischer Intensität geschaffen hat. Es sind Gedichte und kurze Prosastücke, die immer wieder um dieselben Motive kreisen und Gott im Schmerz und in der Abwesenheit zu finden versuchen. Da ist der chilenische Raúl Zurita, der als Performance-Künstler selbst in die Rolle eines Propheten schlüpft, um in der Kunst eine Quelle der Hoffnung zu finden. Und da ist der kolumbianische Pablo Montoya, der in seinen Werken einen gebrochenen, überkonfessionellen Existentialismus vorstellt.
Es ist sehr anregend, sich von Londoño durch die anspruchsvollen, eigenwilligen Kreuzesdarstellungen dieser drei Autoren führen zu lassen. Blickt man aus der Ferne auf Lateinamerika, stellt sich noch eine andere biblische Assoziation ein. Man wird ja nicht behaupten können, dass die Befreiungstheologie heute die religiöse Situation dominieren würde. Viele Menschen scheinen weniger nach einer Gottesbegegnung im Leiden zu suchen als nach Erfahrungen der Begeisterung, einem „Empowerment“ im Heiligen Geist. Ob sich dazu Assoziationen in der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur finden ließen, könnte eine interessante Folgefrage sein.
Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.