Unter den Hauben von Halberstadt
Die jüdische Gemeinde in Halberstadt war im 18. Jahrhundert eine der bedeutendsten im mitteleuropäischen Raum. Heute zählt die ehemalige Bischofsstadt zu den wenigen Orten in Deutschland, die mit einem umfassend erhaltenen Ensemble baulicher Zeugnisse an diese Tradition erinnern. Im Tor zum Harz in Sachsen-Anhalt treffen Kathrin Jütte und Hans-Jürgen Krackher auf ein einzigartiges Quartier.
Im Herzen der Kreisstadt Halberstadt, auf dem Platz zwischen Dom, Liebfrauenkirche und Petershof, steht ein Mahnmal aus Basalt-Stelen. Direkt vor der Westfassade des Domportals eine aus Eisen geformte Menora. Hier begann die Geschichte der Halberstädter Juden, hier endete sie. Der Petershof am Domplatz war über sechshundert Jahre die Hauptresidenz der Bischöfe, die in Halberstadt Juden ansiedelten. Es ist auch ein bestürzender Ort. Am 12. April 1942 mussten sich hier vor dem damaligen Einwohnermeldeamt die arbeitsfähigen Juden zur Deportation einfinden. Die Namen von Ida Baer, Miriam Lundner, Helene Königshofer, Willi Cohn sind in die Stelen eingraviert. „KEINER VON IHNEN KEHRTE ZURÜCK“, heißt es auf einer im Boden eingelassenen Tafel.
Halberstadt, heute Kreisstadt mit knapp 40 000 Einwohnern, im nördlichen Harzvorland gelegen, hat eine reiche jüdische Geschichte. In der ersten Blütezeit unter dem Hofjuden Berend Lehmann (1661 – 1730) Anfang des 18. Jahrhunderts wuchs die Gemeinde auf über tausend Mitglieder. Im 19. Jahrhundert galt Halberstadt neben Frankfurt am Main als das Zentrum der Neo-Orthodoxie. Und heute? Das einstige Gemeindezentrum liegt unterhalb des Domplatzes mit seinen erhabenen Hauben der Kirchtürme. Die Peterstreppe geht es hinab in die sogenannte Unterstadt, die die Halberstädter auch heute noch so nennen. Es gab eine Zeit, da spielte sich das Leben der Ärmeren dort ab, auch das der Juden. Unweit des Domplatzes und doch eine Welt entfernt, schmale Gassen, schmuck sanierte Fachwerkhäuser, die Fassaden leuchten: Dort spürt man den Wandel der Zeiten. Euphemistisch „Altstadt“ bezeichnet heute das Stadtmarketing dieses Viertel.
Wer die ganze jüdische Geschichte erfahren will, der gehe in die Klaus, im Rosenwinkel 18. Ein hochaufragender Ziegelbau mit Rundbogenfenstern, die Klaussynagoge, errichtet Anfang des 18. Jahrhunderts vom in Halberstadt ansässigen Hoffaktor August des Starken, Berend Lehmann. Ursprünglich war die Klaus ein jüdisches Lehrhaus, in dem Gelehrte dem Torastudium nachgingen. Heute birgt das Haus die Moses-Mendelssohn-Akademie mit dem Berend Lehmann Museum, wieder ein Ort des Lernens, der Begegnung und des Austausches.
Es empfängt die Direktorin Jutta Dick, Vorstand der Stiftung Moses-Mendelssohn-Akademie Halberstadt, die das Museum trägt. Die Mittsechzigerin ist offiziell seit Anfang des Jahres im Ruhestand, nach 27 Jahren. Doch da sie auch weiterhin der Stiftung vorstehen wird, führt sie durch die seit kurzem neu gestalteten Ausstellungsräume mit Dauerausstellung. Hier riecht es nach frischem Holz. Das Entree markiert ein Gebot: Liebe Deinen Nächsten. Der Blick fällt auf die Schriften der drei monotheistischen Weltreligionen. „Dieser Satz ist das Verbindende“, sagt Jutta Dick dazu. Im Nachbarzimmer hat die Historikerin mit Tafel und Holztisch ein Schulzimmer inszeniert, angelehnt an die um 1800 in Halberstadt gegründete Religionsschule. Der ausgestellte Lehrplan verweist auf weltliche Fächer wie Mathematik, deutsche Sprache, Erd- und Geschichtskunde, Französisch. Und darauf, dass in der Religionsschule nach preußischem Schulgesetz Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet wurden.
Die Museumsfrau erzählt zu ausgestellten Objekten, den vielen Schenkungen aus jüdischen Familien, deren Vorfahren in Halberstadt gelebt haben. Von einem Poesiealbum, das Ruth Oppenheimer gehört, die 93-jährig in New York lebt. Elfjährig entkam sie den Nazi-Schergen im Frühsommer 1939 mit einem Kindertransport. Von einem Tintenfass mit Federkiel zum Schreiben der Tora. Es stammt von Izchak Auerbach, dem Sohn des letzten in Halberstadt wirkenden Gemeinderabbiners Benjamin Hirsch Auerbach. Im Hauptberuf Optiker, im Ehrenamt Sofer, also Toraschreiber. Dazu ein letzter Bogen für eine Torarolle, die er geschrieben hatte – die Schöpfungsgeschichte. „Er selbst ist der letzte Jude, der in Halberstadt geboren wurde, 1938“, ergänzt Jutta Dick.
Es sind eindrucksvolle Geschichten, die sich hinter den Objekten verbergen. Wie bei der Torarolle. Sie wurde 1912 für eine Privatsynagoge der Familie Nussbaum in Halberstadt geschrieben. Die Nussbaums waren Bankiers, finanzierten landwirtschaftliche Unternehmungen. Nachdem sie früh antisemitischen Attacken ausgesetzt waren, zogen sie nach Berlin und weiter nach Palästina. Die Rolle immer im Gepäck, landete diese schließlich bei einem Sohn in Hollywood. Die heutigen Vertreter der Familie haben entschieden, dass sie am besten in Halberstadt aufgehoben sei. Wie die Torarolle haben viele der ausgestellten Objekte eine lange Reise hinter sich.
Geschichten aus Fragmenten
Dick spricht in den hallenden Raum: „Jede Familie, die in der Klaus lebte, hatte ihre eigene Sukka, wie die Baupläne zeigen.“ Heute können die Besucher im Laubhüttenzimmer an einem Modell das Dach öffnen und schließen, um zu verstehen, wie der Raum ursprünglich gebaut war. Überhaupt erlebt man in diesem Gebäude die Grundlagen des Judentums anhand von Objekten, Fotografien und Tondokumenten. Auch multimedial interaktiv und jugendgerecht inszeniert. Dafür, dass nur wenige Exponate überlebt haben, öffnen sich heute aus Fragmenten ganze Welten. Dass Halberstadt in der jüdischen Welt so bekannt ist, hat auch mit der Klaussynagoge zu tun, an der viele Generationen von Rabbinern ausgebildet wurden. Aber es stammte auch Israel Jacobson, der Begründer des Reformjudentums, aus der Halberstädter Gemeinde. Nicht zu vergessen die Familie Hirsch, die hier ein weltweit agierendes Metallunternehmen gründete und Förderer des Gemeindelebens wurde.
Zurück auf den Alten Judenplatz im Zentrum des Quartiers: Nur wenige Schritte durch den Tordurchgang des Kantorhauses, aufwändig ausgestattet mit einem repräsentativen Holztor mit der Inschrift „Israelitisches Gebetshaus“, öffnet sich der Ort der zerstörten Synagoge. Hier, umfasst von den Häusern der Baken- und der Judenstraße, stand einst eine der prachtvollsten Barocksynagogen Deutschlands. Noch heute lässt sich erahnen, wie sie die Häuser weithin sichtbar überragte. In der Nacht des 9. November 1938 wurden die Torarollen aus dem Schrein entrollt, Bänke umgeworfen. Vor einem Brand schützte nur das umgebende Fachwerkensemble. Keine zehn Tage später folgte der systematische Abriss. Heute erinnert ein Kunstobjekt an den zerstörten Ort des Gebets.
Jutta Dick geleitet zum zweiten Teil der Dauerausstellung, in das im 16. Jahrhundert errichtete Fachwerkhaus der Judenstraße 26 mit der Gemeinde-Mikwe, dem jüdischen Ritualbad. Noch heute ist es mit Quellwasser gespeist, digitales Wassergurgeln verinnerlicht die Szenerie. Eine schmale Treppe führt zu den Familiengeschichten der Halberstädter Juden. Weitflächig sind an einer Wand gerahmte Fotos ihrer Familien platziert. An interaktiven Videostationen kann man in die Biografien der Cohns, Nussbaums, Hirschs in Englisch oder Deutsch eintauchen.
Und die Historikerin macht auf einen besonderen Fund aufmerksam: das Geschäftsbuch von Melcher Isaac aus dem Jahr 1748. In einen Lappen gewickelt hatte es 270 Jahre in der Stadt überdauert und war bei der Restaurierung des Hauses in der Bakenstraße 55 a vor sieben Jahren gefunden worden. Zweihundert Seiten in hebräischer Schreibschrift geschrieben, dem sogenannten Judendeutsch. Aus den Notizen zeigt sich, dass der Kaufmann mit „Ellenwaren“, also mit Leinen, Wolle, Strümpfen und Spazierstöcken handelte.Ein bedeutsames Ausstellungsobjekt, denn das Museum verfügt nur über wenige Gegenstände aus dem jüdischen Alltags- und Geschäftsleben. Rastlos weltweit sammelnd haben Jutta Dick und ihr Team daraus eine Neugestaltung des Berend Lehmann Museum möglich gemacht, das die Geschichte der Juden am Ort augenfällig macht.
Weiter durch die Unterstadt, vorbei an der ehemaligen Jüdischen Schule, Westendorf 15, und dem Altenheim. Überall finden sich Tafeln an den Häusern, die über die ehemaligen Bewohner informieren. Das Tor zum ältesten jüdischen Friedhof am Roten Strumpf schließt Brigitte Radtke auf. Sie ist eine der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen im Berend Lehmann Museum. An zwei Tagen in der Woche transkribiert sie seit 2008 alte Schriften, beschäftigt sich mit Personenstandsakten, füllt Exceltabellen aus, recherchiert über Familien und deren Stammbäume und beantwortet Anfragen aus aller Welt.
Anfragen aus aller Welt
Im Staatsarchiv Jerusalem liegen die Akten der jüdischen Gemeinde Halberstadts vom Mittelalter bis 1934. „Wir haben nur Nachweise, wenn Geburten, Heiraten und Todesfälle stattgefunden haben“, sagt die pensionierte Lehrerin. Über die Friedhofslisten hat sie schon das eine oder andere Grab der Vorfahren gefunden und fotografiert. Auf dem Friedhof mit 1 600 Grabstätten sind prächtige barocke Grabsteine erhalten. Der von Berend Lehmann lehnt an der nördlichen Friedhofsmauer. Zu erkennen die Levitenkanne, welche die Zugehörigkeit zum Stamm der Leviten andeutet.
Das Schicksal der Menschen liegt Brigitte Radtke am Herzen. Bei ihren Recherchen erhält die pensionierte Lehrerin Kontakt zu den Nachfahren. Manche erneuern den Stein der Vorfahren, und ein Enkelsohn wollte neben seiner Großmutter begraben werden. Durch Besuche und Gespräche lernt sie die Menschen hinter den Akten kennen. Zu ihren Lieblingsobjekten in der neuen Ausstellung zählen deshalb auch die Bilder und Fotografien.
Die Geschichte kehrt immer wieder. Der Gedenkkalender bestimmt die Zyklen der offiziellen Erinnerung. Zwar gibt es in Halberstadt keine jüdische Gemeinde mehr. Doch engagierte Menschen sorgen dafür, dass ihre Geschichte nicht in Vergessenheit gerät.
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.
Hans-Jürgen Krackher
Hans-Jürgen Krackher ist freier Fotograf. Er lebt in Potsdam.