Meine spirituellen Meister

Der Schriftsteller Christian Lehnert (52) blickt auf alte Eichen am Fluss. Eine Projektion.
Foto: picture alliance

Wurzelarme fassen ins Leere, nichts halten sie in den blassen Fingern und Fasern. Die Eichen stehen gerade noch aufrecht in einer Biegung des Flusslaufs. Starke, große Bäume, aber sie sind schon zur Hälfte unterspült und jeder höhere Wasserstand lockert erneut Steine und Erdreich, reißt Brocken, Lehm und Geröll aus dem porösen Hang. Ein breiter Wurzelteller schwebt wie ein dementes Gedächtnis im Dunst, sinnlose Wörter, Geflechte, Gewebe, vergessene Gründe.

Ich sehe die Bäume lange an und versinke in ihrem Anblick. Diese mächtigen Wesen stehen lebenslang an ihrem Ort. Sie haben kein Ziel. Nacktes Dasein – ohne Willen und ohne Warum, ohne Wahl und ohne Maßstäbe, ohne Leistung oder Vergleich. Reines Vegetieren, ein Verharren in Offenheit. Sie teilen nicht die Bewegungen der Rehe und Otter in ihrem Dickicht. Die zielgenauen Flüge der Eisvögel, die in ihren freigeschwemmten Hauptwurzeln nisten, sind sicherlich keine Elemente ihrer Wirklichkeit. Die Eichen öffnen sich an einem einzigen Punkt dem Raum, keimen und wachsen auf und werden dort sie selbst, werden größer in langsamer, doch fortdauernder Überschreitung ihrer Grenzen.

Diese Meister sind dem Schöpfungswillen näher als ich, denke ich nach, denn sie haben keine Wahl. Es scheint, als seien sie ganz „in Gott“, wie ich unsicher sage, wüchsen in ihm auf. Können sie sich einen anderen Zustand als den gegebenen vorstellen? Könnten sie ihr Los beklagen? Existiert die sichere, feste und humusreiche Erde in wenigen Metern Entfernung landeinwärts für sie überhaupt? Kennen sie die Zeit – das vorausgeschaute, das zurückgerechnete Maß, das jeden Zustand für das bewegliche Tier begrenzt? Sie verwirklichen den Wert des Leidens: Im Ausgeliefertsein werden sie durchscheinend für einen Willen, der höher und tiefer ist und undenkbar und fremd und gut. So werden sie sie selbst.

Am Abend bete ich, knie am Boden, schweige lange und starre ins Leere, lausche, atme, dann spreche ich die alten Formeln, Vaterunser, Psalmen, die ich auswendig lernte, Liedverse. Solche Gebete sind oft merkwürdig hohl, aber das schadet ihnen nicht. Diese Hohlheit ist sogar eine Kraft – in ihr zeigen sich die religiösen Formen als flüchtig, gleichnishaft, in die Ungewissheit gestellt, als Bewegungen auf etwas hin, das sich in ihnen allein als Sehnsucht manifestieren kann. In Frage steht, was ich da eigentlich suche. Ich weiß es nicht. Ich lausche in die Ratlosigkeit der Wörter. Sie rauschen fort, sie kreisen wie Krähen am Himmel, sie lassen sich nieder. Dann bin ich ganz ruhig, ohne Vorstellung, ohne Gegenstand – denn nichts steht mir mehr entgegen –, aber doch sind die Dielen und die Kniebank und die geflüsterten und gesungenen Silben fest und dicht und gut. Ich nehme Eichengestalt an. Im Beten – auch wenn ich es nicht gut beherrsche, ständig abgelenkt bin – nähere ich mich einer Pflanze an und gebe Laut, ohne dass ich verstünde, warum. So als knarrte ein Stamm. Das Wort „Gott“ steht mir dann nicht mehr zur Verfügung, liegt sehr fern zurück – und ich habe doch kein anderes, um zurückzukehren in das Denken, das von mir Rechenschaft fordert, und um einen Text wie diesen zu schreiben.

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