Bitte keine Ausgrenzung!
Vor knapp zwei Wochen veröffentlichte der Leipziger Theologieprofessor Rochus Leonhardt auf zeitzeichen.net eine harsche Kritik an der vorgeblichen „Impffrömmigkeit“ der Kirchen. Ihn korrigierte und um ihm widersprach der Hallenser Theologe Karl Tetzlaff. Darauf geht Leonhardt ein und verdeutlich seine Argumentation.
Am 16. Februar machte mich ein zeitzeichen.net-Leser per E-Mail auf einen sachlichen Fehler in meinem eine Woche zuvor veröffentlichten Beitrag „Demokratieunfähigkeit reloaded?“ aufmerksam: Ich hatte aus einer Rede des nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordneten Markus Wagner (AfD) zitiert, das Zitat aber, einer unzuverlässigen Quelle folgend, als von Wagners SPD-Kollegen Hartmut Ganzke stammend ausgewiesen. Der Leser beschloss seine Nachricht mit dem Satz: „Ich hoffe, Sie können das noch korrigieren, bevor Ihnen jemand ‚Fake News‘ zur Last legt und den gesamten Text zu diskreditieren versucht.“ – Korrigiert habe ich nicht, und so schlimm, wie in der Zuschrift befürchtet, ist es nicht gekommen. Aber immerhin: Karl Tetzlaff hat, ebenfalls auf zeitzeichen.net, die fehlerhafte Stelle meines Beitrags als Beispiel für den Erfolg jener veritablen Falschmeldungen identifiziert, die derzeit „von erklärten Gegnern der Anti-Corona-Maßnahmen zuhauf verbreitet“ werden.
Natürlich ist die Kritik an meinem Fehlgriff vollauf berechtigt. So etwas hätte nicht passieren dürfen. Dass ich nicht genauer recherchiert habe, ist ein Versäumnis, über das ich mich sehr ärgere.
Tetzlaff hat aber auch unabhängig von diesem Fehlgriff Probleme mit meiner Kritik am staatlichen Corona-Management. An seinen Vorhaltungen ist richtig, dass ich mich nicht gleichermaßen gegen alle Tendenzen gerichtet habe, die auf eine „demokratiezersetzende Aushebung und Vertiefung gesellschaftlicher Gräben“ zielen. Auch der Hinweis auf eine faktisch gegebene „Vielstimmigkeit des öffentlichen Diskurses“, der ich pauschalisierend nicht gerecht geworden sei, ist diskussionswürdig. Festhalten möchte ich allerdings an der Behauptung eines (auch von Tetzlaff nicht bestrittenen) gesundheitspolitischen Versagens staatlicher Verantwortungsträger, das – so muss ich konkretisieren – in die Zeit vor der Pandemie zurückreicht, dessen Folgen aber erst durch die Pandemie wirklich offensichtlich wurden.
„Wir müssen aufhören, auszugrenzen“
An einer weiteren Behauptung halte ich ebenfalls fest: Die nach wie vor akute moralische Herabwürdigung und gesellschaftliche Diskriminierung der Menschen, die von dem – bis heute nicht verpflichtenden! – Impf-„Angebot“ keinen Gebrauch machen, dient auch dazu, vom gesundheitspolitischen Versagen abzulenken. In einem (hoffentlich authentischen) offenen Brief hat Uwe Scheler, Bürgermeister der thüringischen Kleinstadt Neuhaus am Rennweg, im November 2021 auf diesen Zusammenhang hingewiesen; jenen Notstand, für den aktuell vielfach exklusiv die Ungeimpften verantwortlich gemacht werden, hätten wir „in unserem Land selbst geschaffen“. Scheler fordert deshalb: „Wir müssen aufhören, auszugrenzen“.
Nun zu Tetzlaffs Bemerkungen zur Impf-Frömmigkeit, dem „theologischen Thema“ meines Textes. Der Kritik an den entsprechenden „Äußerungen kirchlicher Akteure“ stimmt er grundsätzlich zu. Seine Monita sind nicht leicht zu sortieren. Das mir vor Augen stehende Christentum weise „auf den ersten Blick quietistische Züge“ auf; das von mir für kirchlich-theologische Wortmeldungen eingeforderte Maß an Distanz zu politischen Orientierungen habe „einen Hang zum Übermaß, jedenfalls wenn es um die kritisierten Aufrufe zum Impfen geht“. Schließlich: „In Spannung dazu“ – zum Quietismus oder zum Übermaß? – stünden meine „entschiedenen politischen Stellungnahmen, etwa zur Illegitimität der 2G-Regel, die ja auch nicht ohne Analogien im politischen Meinungsstreit sind“.
Hier sind ein paar Klarstellungen nötig. Die in der EKD-Demokratie-Denkschrift von 1985 betonte kritische Solidarität, durch die evangelische Christen dem Staat des Grundgesetzes verbunden sind, verstehe ich so, dass sie immer auch ein gewisses Maß an Distanz zu politischen Orientierungen impliziert, insbesondere dann, wenn diese Orientierungen mit moralischem Druck propagiert und mit dem Gestus der Alternativlosigkeit vorgetragen werden. Genau dieser Fall einer moralisierenden Alternativlosigkeits-Propaganda scheint mir in der Impfdebatte gegeben zu sein. Deshalb kann hier kirchlich-theologische Kritik an staatlichem Handeln als ein angemessener Ausdruck der grundsätzlich geschuldeten Solidarität gelten. Dem muss aber eine kirchlich-theologische Selbstklärung vorangehen.
Gute und schlechte Christen?
In meinem Vorschlag zu dieser Selbstklärung spielt die Kritik an der in den Landeskirchen der EKD weit verbreiteten Impf-Frömmigkeit eine wichtige Rolle. Noch ein Beispiel gefällig? Eine von dem Braunschweigischen Landesbischof Christoph Meyns verbreitete Erklärung vom 1. Dezember 2021 endet mit dem Satz: „Impfen ist Christenpflicht!“ Ich kenne mehrere langjährige Kirchenmitglieder, die in den letzten Monaten genau wegen solcher Voten ausgetreten sind. Ich kenne auch zahlreiche andere Kirchenmitglieder, die die am Impfstatus festgemachte Einteilung in gute und schlechte Christen schlicht unchristlich finden. Nach meiner Auffassung ist besonders problematisch, dass hier, in Tetzlaffs Worten, die „zur Sphäre des Politischen gehörende[n] Differenzen“ nicht nur nicht „relativiert“, sondern, im Gegenteil, unmittelbar in die kirchliche Agenda übernommen werden. Stattdessen sollte, so meine Idee, die Kirche mit Entschiedenheit nach rechtlich gangbaren Handlungsoptionen suchen, durch die verhindert wird, dass die desaströsen Folgen der auch politisch lancierten gesellschaftlichen Spaltung weiter in die Gemeinden hineingetragen werden.
Allerdings, so fragt Tetzlaff, müssen wir unseren christlichen Blick nicht auch auf jene Menschen erweitern, „denen zukünftig keine medizinische Behandlung zuteilwerden kann, weil die Krankenhäuser womöglich aufgrund einer zu niedrigen Impfquote überfüllt sind“? Dies ist erneut eine gesundheitspolitische (oder auch: medizinstatistische) Frage – dünnes Eis für Theologen. Den von mir erwähnten politischen Fehlleistungen von Ende 2021 hat Tetzlaff RKI- und DIVI-„Zahlen aus dem Januar“ 2022 entgegengehalten.
Diese Daten ändern allerdings nichts an meiner Skepsis bezüglich der Überlastungsbehauptung. Es kam in der Tat während der Pandemie zu einem Rückgang der ITS-Betten-Kapazität, der vor allem durch veränderte Erhebungsmaßstäbe bedingt war. So werden zum Beispiel in der DIVI-Statistik inzwischen nur noch wirklich betreibbare Intensivbetten ausgewiesen; die vorpandemische Statistik war demgegenüber, freundlich formuliert, nur bedingt realitätsbereit. Trotzdem sollte man, so hat der Gesundheitsökonom Reinhard Busse im letzten Dezember formuliert, „nicht so tun, als stünde in der Pandemie die gesamte Krankenhausversorgung […] im Feuer.“ Denn: „übers Jahr verteilt machen die Covid-Kranken bei allen Kapazitäten, die wir haben, einen kleinen einstelligen Prozentsatz aus.“ Und was die vermeintlich zu niedrige Impfquote angeht: Es deutet derzeit manches darauf hin, dass sich angesichts der jüngeren Virus-Varianten (insbesondere Omikron) der bislang behauptete Zusammenhang zwischen Virusverbreitung und Impfstatus lockert. – Da sind womöglich „Alternativlosigkeitsalternativen“ greifbar: Sachargumente sowohl gegen die Überfüllungshypothese als auch gegen die das Nächstenliebe-Argument tragende Fremdschutz-Theorie.
„Analogien im politischen Meinungsstreit“
Mit meiner Ablehnung der innerkirchlich dominanten religiösen Überhöhung einer bestimmten gesundheitspolitischen Option korrespondiert die Kritik an jenem staatlichen Handeln, das dieser Überhöhung Vorschub leistet. Dabei spielt die Behauptung einer Illegitimität der 2G-Regel ebenso eine Rolle wie der Hinweis auf den der 2G+-Regel inhärenten Widerspruch. Damit wird, so jedenfalls verstehe ich das, Tetzlaffs allgemeine Forderung nach zustimmungsfähigen Begründungen seitens der Politik auf konkrete Entscheidungen im Corona-Tagesgeschäft angewendet. Und Gott sei Dank gibt es zu dieser Kritik auch „Analogien im politischen Meinungsstreit“. Grundsätzlich gilt jedenfalls: Einen dem Staat des Grundgesetzes kritisch-solidarisch verbundenen Christen sollte es nicht gleichgültig lassen, wenn, wie es derzeit der Fall ist, die „Bekämpfung der Pandemie zu einer gefährlichen Hypothek für den Wert der Freiheit“ wird (Michael Bröning).
Dass hier „quietistische Züge“ und ein „Hang zum Übermaß“ erkennbar sein sollen, kann ich eben so wenig nachvollziehen wie Tetzlaffs Behauptung einer „Spannung“ in meiner Argumentation. Ungeachtet dessen ist sein Beitrag deshalb wichtig, weil er zeigt, wie vielschichtig und uneindeutig die Debattenlage in Sachen Corona ist, namentlich „in Zeiten des Informationsoverkills“ (Michael Bröning). Ich hätte Lust darauf, mit Tetzlaff über das uns beide offenbar interessierende Thema weiter im Gespräch zu bleiben.
Rochus Leonhardt
Rochus Leonhardt, Jahrgang 1965, ist seit 2011 an der Theologischen Fakultät der Universität seiner Geburtsstadt Leipzig Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik.