Einseitigkeiten helfen nicht weiter

Beim Impfthema geht es um einen reflektierten Freiheitsgebrauch
Superintendent Christian Behr bekommt seine Booster-Impfung in der Unterkirche der evangelischen Frauenkirche in Dresden (28.11.2021).
Foto: epd
Superintendent Christian Behr bekommt seine Booster-Impfung in der Unterkirche der evangelischen Frauenkirche in Dresden (28.11.2021).

Kürzlich klagte der Leipziger Theologieprofessor Rochus Leonhardt an dieser Stelle über die angebliche „Impffrömmigkeit“ der evangelischen Kirche. Auf den Text antwortet nun Karl Tetzlaff, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der theologischen Fakultät in Halle. Er hält Pauschalurteile und Vereinseitigungen in der Impfdebatte für unstatthaft, denn ein reflektierter Freiheitsgebrauch unterliegt auch bei diesem Thema dem Spannungsverhältnis von Selbst- und Nächstenliebe.

„Das Recht auf Gesundheit in der bürgerlichen Demokratie“, schreibt der italienische Philosoph Giorgio Agamben im Jahre 2020,„schlägt nun – weithin unbemerkt – um in eine juridisch-religiöse Gesundheitspflicht, die alle Bürgerinnen und Bürger um jeden Preis zu erfüllen haben.“ Dies rufe „die Philosophen“ auf den Plan, die „erneut in Auseinandersetzung mit der Religion treten“ müssten, wobei sie nun „nicht mehr das Christentum“ zum Gegner hätten, sondern „die Religion namens Medizin“.

Religionskritik ist also aus Agambens Sicht in Corona-Zeiten gefragt. Denn die meisten folgten in frommer Einfalt den Kultvorschriften der virologischen Hohepriester und versuchten sich mit aller Kraft rein zu halten von jedweder Berührung mit dem „das bösartige Prinzip“ verkörpernden Virus. Wer dem „vorherrschenden orthodoxen Diskurs“ widerspreche, gerate jedoch schnell unter Häresieverdacht. Es sei zwar nicht gesagt, dass „die Scheiterhaufen wieder lodern werden und Bücher auf den Index kommen“. Mit Sicherheit aber werde „das Denken derer, die weiterhin nach der Wahrheit suchen und die vorherrschende Irreführung verwerfen, ausgeschlossen und beschuldigt werden, Falschmeldungen zu verbreiten“.

Wir schreiben das Jahr 2022 und es stimmt: Scheiterhaufen haben bislang nicht zu lodern begonnen und keine noch so abseitige Streitschrift wider das staatliche Pandemiemanagement ist auf der Liste der verbotenen Bücher gelandet. Veritable Falschmeldungen hingegen wurden von erklärten Gegnern der Anti-Corona-Maßnahmen zuhauf verbreitet. Ein Beispiel für deren Erfolg findet sich auch in Rochus Leonhardts vor kurzem auf zeitzeichen.net publiziertem Text. Darin wird auf einen „engagierten Redebeitrag“ des nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordneten Hartmut Ganzke (SPD) verwiesen. Dieser habe seine Landesregierung für den massiven Abbau von Intensivbetten kritisiert, deren Mangel man zu Unrecht den Ungeimpften zur Last lege.

Das Problem ist bloß: Nicht Ganzke hat die von Leonhard zitierte Rede gehalten, sondern Markus Wagner, seines Zeichens AfD-Fraktionsvorsitzender im nordrhein-westfälischen Landtag. Sie wurde aber in einem online weit verbreiteten Video dem SPD-Mann zugeordnet, der sich von Wagners Worten längst öffentlich distanziert hat. Offensichtlich wollte man durch den Namenstausch den Eindruck erwecken, die aus dem Rechtsaußen-Bereich des Landtags stammende These sei längst in der Mitte des Parlaments angekommen – anscheinend nicht ohne Erfolg.

Arg verzerrt

Die gern bemühte These eines politisch gesteuerten Abbaus von Intensivkapazitäten, die laut Leonhardt ein „gesamtdeutsches Phänomen“ beschreiben soll, stellt im Übrigen ebenfalls eine waschechte Falschmeldung dar. Wahr ist vielmehr, dass unter anderem ein Personalrückgang zur Verminderung der ITS-Bettenzahl in deutschen Krankenhäusern geführt hat, die sich im weltweiten Vergleich laut verfügbaren Statistiken aber immer noch sehen lassen kann. Zweifellos weist ein solcher Exodus von Pflegekräften auch auf „gesundheitspolitische[s] Versagen“ hin, das ja seit Beginn der Pandemie am Beispiel der prekären Arbeitssituation im immer weiter durchökonomisierten Pflegebereich häufig diskutiert wurde. Daraus nun aber zu folgern, die, wie Leonhardt schreibt, „seitens der Politik erpresserisch vorgetragene Solidaritätsforderung“ an die Adresse der Ungeimpften habe „auch das Ziel, vom eigenen gesundheitspolitischen Versagen abzulenken“, scheint mir die Sache doch arg zu verzerren.

Das gegenwärtige Hauptargument für die Corona-Schutzimpfung ist bekanntlich, sie mindere die Gefahr schwerer Krankheitsverläufe. Deren massenhaftes Auftreten würde zu einer Überlastung der Intensivstationen führen, was neben Triage-Szenarien auch das Verschieben anderer notwendiger Behandlungen mit sich brächte. Letzteres ist unterdessen längst geschehen und es ist mehr als wahrscheinlich, dass höhere Intensivkapazitäten einer ungehinderten Verbreitung des Corona-Virus auch nicht standgehalten hätten.

Prognosen lassen sich natürlich anzweifeln, zumal ja nicht die Gegenprobe einer ungebremsten Durchseuchung der Bevölkerung ohne Immunschutz gewagt wurde. Gott sei Dank, möchte ich einwerfen. Aber so bleibt eben das Manko aller am Schreibtisch erstellten Prognosen: Sie zeigen nur an, was geschehen könnte oder hätte geschehen können, wenn keine wirksamen Gegenmaßnahmen, etwa in Form der von einer Mehrheit genutzten Impfung, ergriffen würden oder worden wären.

Versuche der Vereinfachung

Umso schwerer wiegt es angesichts des nötigen Vertrauensvorschusses, den Prognosen und Statistiken uns allen abfordern, wenn sich der Eindruck ihrer bewussten Verzerrung einstellt. Leonhardt verweist auf den in Hamburg und weiteren Bundesländern eingetretenen Fall, dass Corona-Patienten mit ungewissem Impfstatus fälschlicherweise als Nicht-Geimpfte gezählt wurde. Dadurch kam der Verdacht auf, man würde die Wirksamkeit der Impfung künstlich stärken wollen, um die These „von der Pandemie der Ungeimpften“ zu untermauern. Allerdings ist die aktuelle Statistik des Robert-Koch-Instituts und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin frei von diesem Malus: Die Zahlen aus dem Januar, für die nur Intensivpatienten mit klarem Impfstatus berücksichtig wurden, belegen die These eindeutig, dass die überwiegende Mehrheit der hospitalisierten Covid-Patienten (knapp zwei Drittel) entweder über gar keinen oder nur teilweisen Impfschutz verfügt.

„Die Wirklichkeit ist deutlich komplexer“, schreibt Leonhardt gegenüber Versuchen der Vereinfachung und Vereindeutigung, die „die fehlende Solidarität der Ungeimpften“ zur Quelle allen gegenwärtigen Übels erklären. Seiner Forderung, Simplifizierungen zu wehren und sich auf differenzierte Weise mit der aktuellen Corona-Lage auseinanderzusetzen, kann ich mich nur anschließen. Eine fatale Komplexitätsreduktion wird aber auch und insbesondere durch die in den Weiten des Internet sowie unter trommelnden Spaziergängern umlaufenden Falschmeldungen betrieben. Hinter diesen stehen nicht selten Kräfte, denen es um eine ausdrücklich demokratiezersetzende Aushebung und Vertiefung gesellschaftlicher Gräben geht. Wenigstens einen Hinweis darauf vermisse ich bei Leonhardt, der die im Brennglas der Pandemie exemplarisch vor Augen tretenden „Verfallserscheinungen […] der demokratischen Kultur“ einseitig einer in Politik, Medien und Kirche grassierenden Moralisierungsrhetorik zu Lasten legt.

Damit bin ich beim im engeren Sinne theologischen Thema von Leonhardts Text angekommen. Agambens oben skizzierte Diagnose, dass gegenwärtig eine pandemiepolitisch befeuerte „Gesundheitsreligion“ ihre opiatische Macht entfalte, findet in den Ausführungen des Leipziger Systematikers deutliche Analogien. Sein Name für dieses Phänomen lautet „Impf-Frömmigkeit“. Er hat dabei ein primär „politisches und insofern säkulares Phänomen“ vor Augen, dem allerdings „[b]reite Kreise des evangelischen Christentums in Deutschland […] den religiösen Segen“ spendeten.

Religiöse Überhöhung des Politischen

Um darüber hinwegzutäuschen, so legt es sein Gedankengang nahe, dass die „eilig entwickelten […] Impfstoffe“ nicht den versprochenen „nachhaltigen Infektionsschutz sicherstellen“, würden sie umso mehr zum allein seligmachenden Heilmittel erklärt. Diese „Sakralisierung der Impfung“ gehe mit einer „politisch initiierten sowie medial breit flankierten und gesellschaftlich vielfach gestützten Stigmatisierungs- und Diskriminierungskampagne“ einher, „die sich gegen die oft pauschal als ‚Corona-Leugner‘ bezeichneten Impf-Skeptiker“ wende.

Dergleichen gehöre zwar leider „zum Geschäft der Politik“, „vielleicht gerade […] in Situationen größter Unsicherheit“. Doch solle sich der kirchlich verfasste Protestantismus an diesem Geschäft nicht beteiligen, wenn denn im Sinne der Demokratiedenkschrift von 1985 nicht nur die Bejahung des freiheitlich-demokratisches Rechtsstaates, sondern ebenso eine kritische Distanz zu dessen immer auch gebrochener Realität geboten sei. Sonst betreibe man eine „religiöse[] Überhöhung des Politischen“ und ebne die zu den reformatorischen Grundüberzeugungen gehörende Differenz zwischen Irdischem und Geistlichem, zwischen Reich Gottes und Reich der Welt ein.

Genau dies aber geschieht Leonhardt zufolge gegenwärtig. Mit ihrer vorbehaltlosen Aneignung der politisch-medial verbreiteten „Impf-Frömmigkeit“ beweise die evangelische Kirche einmal mehr ihre Demokratieunfähigkeit, weil sie sich so an der Untergrabung der für ein demokratisches Gemeinwesen unentbehrlicher weise „vielstimmige[n] Kontroverse und Auseinandersetzung“ beteilige.

Leonhardts Rede von den „breiten Kreisen des Protestantismus“ mag ebenso pauschal erscheinen, wie die Unterstellung eines von eindeutigen Interessen (Kaschierung staatlicher Hilflosigkeit) geleiteten politisch-medialen Komplexes der Vielstimmigkeit des öffentlichen Diskurses nicht gerecht wird. Die Reihe der zum Beleg angeführten O-Töne, von Heinz Bude und Winfried Kretschmann über Peter Dabrock und Wolfgang Huber bis hin zur EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus und vielen anderen mehr aber spricht eine seine Analyse unterstreichende Sprache.

Unverfügbarkeit freier Gewissenseinsicht

Es ist kaum zu bestreiten, dass sich in diesen Wortmeldungen ein teils religiös grundierter Moralismus ausdrückt, der eher die Fronten des Diskurses verhärtet, als echte Überzeugungsarbeit zu leisten. Denn Überzeugungen lassen sich nicht erzwingen, sondern sie stellen sich ein, wenn mich etwas überzeugt: Argumente zum Beispiel, die mir den Sinn einer Impfung nachvollziehbar machen, sodass ich sie selbst für gut befinde. Der Unverfügbarkeit freier Gewissenseinsicht entspricht theologisch gewendet die Unvertretbarkeit des individuellen Gottesverhältnisses – beides sind Grundmotive reformatorischen Denkens, die bisweilen hinter dem vielbeschworenen Vorrang des Kollektiven zu verschwinden drohen. Sich ihrer zu erinnern, aber heißt nicht, das Ich nun umgekehrt gegen das Wir auszupielen, sondern sich klar zu machen, dass moralische Wir-Einstellungen der Abstützung im inneren Überzeugtsein des Ich bedürfen. Diese Begrenztheit muss man sich bei allen noch so gut gemeinten Solidaritäts- und Nächstenliebeforderungen bewusst machen.

Die fromme Botschaft „Impfen ist Nächstenliebe“, von der man gegenwärtig tatsächlich an vielen Kircheneingängen begrüßt wird, hat dagegen ebenso wie ihr säkulares Pendant „Impfen ist Solidaritätspflicht“ etwas Zwangvolles an sich. Wer dem darin ausgedrückten Anspruch nicht nachgibt, so insinuieren es diese Slogans, ist per se egoistisch, der verstößt gegen göttliche Gebote und das Gemeinwohl. Geimpfte hingegen können sich durch sie in ihrer moralisch hochstehenden Gemeinschafts- und Gottestreue bestätigt finden.

Das von Leonhardt markierte Problem am kirchlichen Gebrauch solcher Formeln lässt sich darauf zuspitzen, dass hier eine Frage des stets strittigen Gemeinwohls, dessen Bestimmung in der Demokratie Produkt ergebnisoffener Abwägungs- und Aushandlungsprozesse sein sollte, im Umweg über Gott vereindeutigt wird. Angesichts eines solchen „Absolutismus des Konkreten“ (Paul Tillich) regt sich völlig zurecht der religionskritische Muskel des Theologen. Auch aus meiner Sicht sind die Dimensionen des Göttlich-Absoluten und des Irdisch-Relativen gerade im Namen der Freiheit deutlicher zu unterscheiden, als es politische Äußerungen kirchlicher Akteure häufig vermuten lassen.

Allerdings scheint im kritischen Insistieren auf dieser Unterscheidung gegenüber jedweder „politischer Sakralisierungstendenz“ für Leonhardt bereits der theologischen Weisheit letzter Schluss zu liegen. Das „wahrhaft gelebte Christentum“, von dem bei ihm die Rede ist, weist auf den ersten Blick geradezu quietistische Züge auf, wie sie bestimmten Spielarten des Luthertums zueigen sind. Das von ihm für kirchlich-theologische Wortmeldungen eingeforderte „Maß an Distanz zu politischen Orientierungen“ hat einen Hang zum Übermaß, jedenfalls wenn es um die kritisierten Aufrufe zum Impfen geht.

Latent bleibender Ruf zur Nächstenliebe

In Spannung dazu stehen seine entschiedenen politischen Stellungnahmen, etwa zur Illegitimität der 2G-Regel, die ja auch nicht ohne Analogien im politischen Meinungsstreit sind. Sie zeigen sich bei näherem Hinsehen bestimmt durch die unausgesprochene Maxime, niemandes Freiheit sei grundlos einzuschränken und kommen so selbst als implizite Solidaritätsforderungen zu stehen. Allerdings soll dieser latent bleibende Ruf zur Nächstenliebe allein denen zugutekommen, die sich nicht impfen lassen wollen (oder aus gesundheitlichen Gründen nicht können) und dafür mit sozialer Ausgrenzung bestraft werden. Was aber spricht dagegen, den Blick auch (!) auf jene Menschen zu erweitern, denen zukünftig keine medizinische Behandlung zuteilwerden kann, weil die Krankenhäuser womöglich aufgrund einer zu niedrigen Impfquote überfüllt sind? Oder auf die, deren Freiheitsrechte weiterhin beziehungsweise erneut beschnitten werden müssen, wenn die Lage auf den Intensivstationen und/oder neue Virusvarianten Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens nötig machen?

Die Reihe der Fragen ließe sich, geht man verschiedene Bevölkerungs- und Interessengruppen durch, weiter fortsetzen. Wer sie etwa im kirchlichen Kontext in aller Offenheit stellte, huldigte keiner Gesundheitsreligion oder Impffrömmigkeit, sondern mutete es dem Einzelnen schlichtweg zu, die Freiheit und das Lebensrecht der anderen in die Reflexion des eigenen Freiheitsgebrauchs mit einzubeziehen. Nichts geringeres als das ist im Übrigen die Pointe des „Doppelgebots der Liebe“, jedenfalls wenn man es mit Falk Wagner, der darin „die Quintessenz des Christentums“ entdeckt, „im Sinne des sozialen Freiheitsverhältnisses“ auslegt. Was folgt daraus für die kirchlich-theologische Haltung zum Impfthema?

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das göttlich zu nennende Übereinkommen von Selbst- und Nächstenliebe, das Sich-Finden in der Beziehung zu anderen, eine unerzwingbar freie Angelegenheit darstellt. Sie ist in ihrem Unbedingtheitscharakter nur anzubahnen und anzuregen, nicht aber auf direkte Weise hervorzurufen. Diese ethisch-religiöse Einsicht wäre gegenüber der in der Impfdebatte grassierenden Zwangs- und Ausschlussrhetorik geltend zu machen. Positiv gewendet lässt sich daraus ein Plädoyer für ungezwungene Formen der „individuellen Aufklärung und eine zugewandte Art der Vermittlung“ im Blick auf das Für und Wider des Impfens ableiten, wie sie Petra Bahr kürzlich gefordert hat. Dies kommt der Freiheitsreflexion zugute, die leer bleibt, wenn es gar nichts gibt, worüber man reflektieren könnte. Sie wird in Gang gesetzt durch Anstöße von außen, die ihr dann aber – freilich behutsam – zuteilwerden müssen. Hier kann religiöse Kommunikation auch beim Impfthema das ihre zur individuellen Selbstaufklärung beitragen.

Forderung nach zustimmungsfähigen Begründungen

Mithin ist aus kirchlich-theologischer Perspektive vor überschwänglichen Konsenserwartungen zu warnen, die ihrerseits zwanghaft werden können. Denn es ist aufgrund der Unverfügbarkeit individueller Einsichten nie gesagt, dass die wechselseitige Überzeugungsarbeit gelingt und bleibende Resultate schafft. Doch muss der politische Diskurs natürlicherweise irgendwann in konkreten Entscheidungen übergehen, die im Falle der projektierten Impfpflicht mit sanktionsbewehrter Strenge, wenn auch nicht mit unmittelbarem Zwang, durchgesetzt würden. Hier wäre aus kirchlich-theologischer Sicht darauf zu drängen, dass das entsprechende Gesetz in der Öffentlichkeit zustimmungs- und einsichtsfähig begründet wird, so dass sein Gehalt zumindest potenziell durch alle Betroffenen angeeignet werden kann.

Nachvollziehbar darzulegen wäre meines Erachtens dann insbesondere, dass und inwiefern eine allgemeine oder auf besondere Gruppen beschränkte Impflicht das mildere und effektivere Mittel darstellt, um den Schutz der Gesundheit für die Gesamtbevölkerung zu gewährleisten. Dabei wird der massive staatliche Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, den sie zweifellos bedeuten würde, gegenüber weiteren, auf andere Art massiv freiheitseinschränkenden Mitteln der Pandemiebekämpfung, wie zum Beispiel neuerliche Lockdowns oder Kontaktbeschränkungen mit all ihren Nebenfolgen, sorgfältig abzuwägen sein.

Klar aber ist: Die Durchsetzung auf rechtsstaatlichem Wege erlassener Gesetze erfolgt unabhängig davon, ob einzelne ihnen zustimmend oder ablehnend gegenüberstehen. Zwangsmaßnahmen etwa im Sinne von ansteigenden Bußgeldern oder ähnlichem werden im Falle einer gesetzlichen Impfpflicht nicht ausbleiben. In der darin aufscheinenden und unüberwindlichen Spannung zwischen rechtsstaatlicher Freiheitseinräumung auf der einen und nötigenfalls gewaltsamer Rechtsdurchsetzung auf der anderen Seite, zeigt sich zu guter Letzt noch einmal deutlich, warum der „geistliche Auftrag der Kirche und de[r] weltliche Auftrag des Staates“ zu unterscheiden sind – ohne dass dies freilich eine völlige Bezugslosigkeit bedeutete.

Auf einen auch aus meiner Sicht wichtigen Aspekt des genuin geistlichen Auftrags der Kirche weist Leonhardts ekklesiologisches Idealbild hin, das er anhand der aktuellen Jahreslosung vor Augen malt. Den Vers „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ (Johannes 6,37b) deutet er im Sinne einer kirchlichen „Geselligkeit“, in der zur Sphäre des Politischen gehörende Differenzen relativiert werden. Denn hier ist es um das zu tun, was uns nicht nur peripher betrifft, sondern unbedingt angeht – um Gott und göttliche Dinge eben. Hier hat, mit Leonhardts Worten gesagt, das „wahrhaft gelebte[] Christentum“ seinen Ort, das nicht in der je eigenen „Impfbereitschaft“ aufgeht. Hier ist nicht geimpft noch ungeimpft, sondern hier sind „alle eins in Christus“ (Gal 3,28) – angesichts der polarisierten Gemengelage der Gegenwart hat diese Perspektive etwas Tröstliches.

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Karl Tetzlaff

Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.


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