Irgendwo habe ich mal gelesen, der Teil Berlin-Kreuzbergs, in dem ich wohne, sei einst als „Bermuda“-Dreieck voller Kneipen berühmt-berüchtigt gewesen – Motto: „Kreuzberger Nächte sind lang“ und so. Nun, den schwachen Song habe ich gottseidank schon sehr lange nicht mehr gehört, und es mag kein Zufall sein, dass hier im „Kiez“, wie man berlinerisch-hässlich sagt, nur noch ein muffiger „Späti“ diese Zeile im Namen trägt.
Egal, Tatsache ist, dass man in dieser Ecke jedenfalls nicht in die Kneipe gehen sollte, wenn man statt Depressionen lieber Spaß haben will. Das ist für die Nachtruhe von Vorteil, keine Frage, aber schon beim Herzug fiel mir auf, dass es in meiner Straße mal eine Kneipe in dem Keller eines Hauses gegenüber gegeben haben muss. Von der ist nur noch die gusseiserne Halterung des Etablissement-Schildes übrig geblieben. Sie ist, ungelogen, von Efeu überwachsen. Ein schlechtes Omen.
Doch Halt! Es gibt noch eine Kneipe am Ende der Straße, die erst „Zum gemütlichen Eck“ (eine freche Lüge!), dann „Bei Icke“ und nun schon seit ein paar Jahren „Albtraum“ heißt, was mal nicht gelogen ist. Die Vorläufer-Wirtin soll Suizid begangen haben, hieß es im Nachbarschaftsklatsch. Jetzt sei der eigentliche Besitzer hinter dem Wirt eine kleine Nummer in einem Verbrecher-Clan der Stadt.
Ob das stimmt? Keine Ahnung. Jedenfalls wurde eine große Scheibe des „Albtraums“ trotz zweier handgroßer Löcher etwa zwei Jahre lang nicht repariert. Die Absteige hatte den Ruf, dass hier Jugendliche Schnäpse billig und ungefragt ausgeschenkt bekommen. Dafür sprachen im Sommer juvenile Schnapsleichen in den Hauseingängen unserer Straße. Als knallhart recherchierender Journalist habe ich mal einen besoffenen Jungmann danach gefragt. Er sagte: Klaro, isso.
Nun ist der „Albtraum“ geschlossen. Vielleicht hat es der Wirt doch etwas zu wild getrieben. Oder er war am Ende ein Ehrenmann, ein alter Nostalgiker und Lokalpatriot, der nur wiederbeleben wollte, was angeblich früher mal wahr war: „Kreuzberger Nächte ...“
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.