Man stelle sich vor: Plötzlich tritt niemand mehr aus der Kirche aus; vor den Pfarrämtern bilden sich lange Schlangen mit Menschen, die eintreten wollen; in die verwaisten Gottesdienste, vor allem in ärmeren Stadtteilen, drängen die Massen; es müssen besondere Feiern angeboten werden, damit all die Kinder getauft werden können; das beschert den Pastoren viel Arbeit, sie sollen ja auch die ungezählten Massenhochzeiten zelebrieren. Eine herrliche Vorstellung! Eine herrliche Vorstellung? Aber das hat es tatsächlich gegeben, nämlich 1933. Der Historiker Manfred Gailus schildert dies zu Beginn seines kundigen, bündigen Buches über die Religionsgeschichte der NS-Diktatur.
Aus heutiger Perspektive kann man dies kaum nachvollziehen, aber in der zeitgeschichtlichen Forschung herrscht seit langem Konsens darüber, dass genau die Jahre, auf die wir heute mit Erschrecken und Abscheu blicken, eben dieses waren: „gläubige Zeiten“. Auch die kirchliche Zeitgeschichte lässt daran keinen Zweifel.
In kurzen Kapiteln geht Gailus die wichtigsten religiösen Felder dieser Zeit durch: die evangelische und die katholische Kirche, die „deutsch-christlichen“ und neuheidnischen Bewegungen und den Nationalsozialismus selbst als Religion. Freikirchen werden beiläufig erwähnt, andere Neubildungen – man denke an Rudolf Steiner – bleiben außen vor, ebenso wie das, was man Kulturprotestantismus oder -katholizismus nennen könnte. Vieles von dem, was Gailus vorstellt, mag denen, die sich schon mit dieser verstörenden Materie beschäftigt haben, vertraut vorkommen. Aber vor allem mit seinen Kenntnissen der Berliner Regionalgeschichte gelingt es dem Autor, eindrucksvolle und verstörende Beispiele zu bringen.
Aber was heißt hier Religion? Und wie verhält sie sich zu Weltanschauung und Ideologie? Man wird den Nationalsozialismus und die Haltung, die Menschen zu ihm oder gegen ihn eingenommen haben, nicht verstehen, wenn man ihn nicht auch als Glauben ernst nimmt und deutet. Die Vorstellung, dass die Moderne bloß eine Epoche fortschreitender Säkularisierung sei – im Sinne einer eindeutigen Tendenz des Bedeutungsverlustes von Religion –, geht hier fehl. Das sieht man generell auch in der Religionssoziologie schon seit langem so. Die Moderne kann mit Erweckungen einhergehen, besonders dann, wenn Menschen durch einen Katastrophenkomplex zutiefst verunsichert sind, sich radikalisieren und nach einem politischen Führer sehnen, der ihnen Heil und Erlösung bringt.
Aber was zeichnet die spezifisch deutsche „Kultur der Niederlage“ (Wolfgang Schievelbusch) aus, die die Massen in Hitlers Glaubenswelt zog? Warum wird aus Kriegstrauma, politischer Verunsicherung und Radikalisierung mitsamt Revanchegelüsten – „Religiosität“? Warum hatten die Kirchen ihr so wenig entgegenzusetzen beziehungsweise waren sie selbst von ihr infiziert? Und wie muss man sich den Glauben an diesen Führer eigentlich „von innen her“ vorstellen? Natürlich war hier eine mächtige Propaganda am Werk, aber viele Menschen haben wirklich an Hitler und ein „ewiges Deutschland“ geglaubt – manchmal in Verbindung mit einem Glauben an Gott und Jesus Christus, manchmal im Widerspruch dazu. Was für eine Frömmigkeit war dies und wie hat sie sich von der Erweckung 1933 bis zum katastrophalen Ende 1945 entwickelt?
An einer Stelle erklärt Gailus, dass das Kernproblem des Nationalsozialismus als Religion darin bestanden habe, dass er zwar Hoffnung, Gemeinschaft und Gefolgschaft stiften konnte, jedoch sprach- und hilflos vor dem Tod gestanden habe. Davon hätte man gern mehr gelesen.
Ungläubig schaut man auf dieses unheimliche Stück deutscher Frömmigkeitsgeschichte zurück. Es scheint weit entfernt zu sein. Bedenkt man aber, dass auch der Antisemitismus ein Glaube sein kann, den Menschen in Krisen annehmen, dann rückt dieses Thema bedrohlich nahe.
Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.