Umkehr zu sich selbst

Manche Entscheidungen verändern das Leben für immer
„Es war viel zu viel, was ich getrunken habe.“
Foto: picture-alliance/Florian Profitlich

Umkehr ist wie Buße ein religiös besetzter Begriff, der meist bedeutungsschwer und moralinsauer daherkommt. Dabei geht es oft um den Ausbruch aus toxischen Verhältnissen, sei es zu Menschen oder Suchtmitteln. Stephan Kosch erzählt zwei Umkehrgeschichten aus dem 21. Jahrhundert.

Immer wieder dieser Traum: Er war zurück im Kloster, in das er als junger Mann eingetreten war. Aber er wollte raus, suchte die Tür ins Freie. Doch es sollte nicht gelingen. Immer wieder träumte er diesen Traum, auch als er das Kloster im wahren Leben schon lange verlassen hatte, längst mit Frau und zwei Kindern als Pädagoge in einer Schweizer Großstadt lebte. Aber ein Teil von ihm steckte offenbar noch immer fest im alten Leben. Doch vor einigen Wochen gelang er endlich, der Gang ins Freie, auch in dem nächtlichen Traum …

Ein Mensch geht ins Kloster. Solche Umkehrgeschichten gibt es immer wieder. Aber manchmal bleibt es nicht dabei, dann folgt der ersten Umkehr eine weitere: Klosterbruder geht ins normale Leben, wird Ehemann und Familienvater. Das war nicht nur bei Martin Luther so, sondern auch bei Urs Meier, der eigentlich anders heißt, aber lieber unerkannt bleiben möchte. Denn das, was war, ist Vergangenheit und soll auch nicht über die Algorithmen der Suchmaschinen wieder mit der Gegenwart in Zusammenhang gebracht werden können.

Ein weiser Mann

Dabei war nicht alles schlecht. Der Anfang war sogar sehr gut. Der Ort in Großbritannien war schon durch die Erzählungen von einer Freundin der Mutter zu einem besonderen geworden: Ein weiser Mann aus Sri Lanka, der junge Menschen um sich versammelt, die miteinander spirituell leben, in Harmonie miteinander und mit der Natur. Jede und jeder könne dorthin kommen, gleich welchen Glaubenssätzen und welcher sexuellen Orientierung er oder sie folgte.

Das alles fiel Urs Meier ein, als er mit 18 in einer Lebenskrise als junger Krankenpfleger in der Ausbildung nach London kam und dort „abstürzte“. Dann der Entschluss: „Ich muss hier raus und will dorthin.“ Nach langer Fahrt übers Land stand er vor dem roten Eisentor und hatte das Gefühl „Ich bin zu Hause.“ Niemandem hatte er angekündigt, dass er kommen wird. In einem kleinen Haus bei dem Tor waren drei Menschen. Einer davon ein charismatischer Mann im blauen Gewand. Er sah Urs an und sagte: „Ich habe den ganzen Nachmittag auf Dich gewartet. Jetzt kann ich gehen.“ Abgang des Gurus, Eintritt des jungen Mannes in sein Kloster … erst nur für zwei Tage, später für ein paar Monate, dann für immer – so zumindest der Plan.

Das Leben im Kloster war streng, fünf Gottesdienste am Tag im Tempel, grundsätzlich hinduistisch geprägt, aber auch mit Elementen anderer Religionen. Chanten, Trommeln, Feuerrituale, dazwischen Arbeiten auf den Feldern oder später als Krankenpfleger in dem Hospiz des Klosters für die Menschen in der Umgebung. Nicht nur deswegen war die Glaubensgemeinschaft sehr respektiert in der Region und in der hinduistischen Community. Tausende kamen zu Besuch, mussten nichts bezahlen, alles lief auf Spendenbasis. Urs machte schnell Karriere, wurde innerhalb von zwei Jahren vom Novizen mit franziskanischem Gelübde zum Priester. Hat die Tiere versorgt, als Landwirt gearbeitet, war bei der Arbeit ganz bei sich. „Ich fühlte mich wohl an dem Ort und mit den meisten Leuten dort – aber zu einem Glauben habe ich nicht wirklich gefunden.“

Agnostiker im Kloster

Zu groß war die Skepsis gegenüber einfachen Wahrheiten, zu sehr war Urs Meier schon damals Agnostiker. Hinzu kam der zunehmende Eindruck, dass an seinem früheren Sehnsuchtsort mit „Love-Bombing“ und anderen manipulativen Techniken gearbeitet wurde. Und zum Schluss irgendwann bestätigte sich für Meier auch der Verdacht der sexuellen Übergriffe innerhalb des Klosters. Doch trotz all dieser Schatten auf dem klösterlichen Leben fiel es Urs Meier schwer zu gehen. Da waren die erneut manipulativen Worte der anderen, die vor göttlicher Strafe warnten. Da war das Gelübde des Gehorsams, das der Mönch Urs sehr ernst nahm. Und jemand aus dem familiären Umfeld, der Urs von Anfang an prophezeit hatte, dass das nur eine Phase in seinem Leben sei. Und diesem Menschen wollte er nicht Recht geben.

Dass er es am Ende doch konnte und seinen Stolz überwand, verdankte er auch einem Kontakt zu Richard Rohr, den er bei einem Seminar in Österreich kennengelernt hatte. Mit dem Franziskanerpater und Autor vieler religiöser Bestseller (Das Eneagram) stand Urs Meier via E-Mail in engem Kontakt, und immer wieder empfahl Richard Rohr ihm dringend, das Kloster zu verlassen. Auch ein Arzt in der Umgebung unterstützte ihn und war ein wichtiger Helfer. Und irgendwann, als psychisch kranke Mitbrüder innerhalb des Klosters plötzlich als von Dämonen besessen angesehen worden seien, war klar, dass es Zeit ist zu gehen – nach zwölf Jahren und viele Jahre nach den ersten Zweifeln.

Raus aus einer – in diesem Falle schädlichen – religiösen Sphäre zurück in die Welt, ist das eine Geschichte, die man auch mit dem biblischen Begriff „Umkehr“ beschreiben kann? Nachfrage bei Michael Utsch, Psychologe, Psychotherapeut und Religionspsychologe in Berlin. „Umkehr ist eine zentrale religiöse Metapher dafür, dass Menschen ihr Leben ändern“, sagt Utsch. Entscheidend dabei sei der Leidensdruck. „Was ich bisher geglaubt habe oder getan habe, führt nicht mehr zu der gewünschten Wirkung.“ Doch Utsch geht noch weiter in seiner Ausdeutung des Begriffs. Umkehr sei „anthropologisch vorgegeben als ein Motiv des Wachstums“. Ohne Veränderungen würden wir auf der Stelle stehen bleiben.

Bei diesen Prozessen können Mentoren hilfreich sein, so wie Richard Rohr im Falle von Urs Meier. Und es sei nicht unüblich, dass dem eigentlichen Schritt der Umkehr ein langes Abwägen vorausgehe. „Es gibt rationale Menschen, die das sehr denkerisch reflektiert angehen, alles auflisten, einen Strich unter die Rechnung machen und dann sagen: ‚Jetzt muss ich was ändern‘. Und es gibt die intuitiven Typen, denen irgendwann plötzlich glasklar vor Augen steht, dass es so nicht weitergeht. Ob man das nun Erleuchtung oder Erwachen nennt, ist nicht entscheidend.“

Bei Janna Ambrosy gab es im Oktober 2019 den Moment, an dem plötzlich die Glühbirne über dem Kopf anging und ihr etwas klar wurde: ihr problematischer Umgang mit Alkohol. Die 28-jährige Schauspielerin wuchs in einer suchtbelasteten Familie auf und ging zu Meetings von Al-Anon, einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von alkoholkranken Menschen. Da fiel ihr auf: „Ich rede hier darüber, wie das Trinken meiner Eltern mein Leben negativ beeinflusst hat, und trinke selber noch.“ Sie würde sich nicht als Alkoholikerin bezeichnen, sagt sie im Gespräch mit dem Autor dieses Textes. Aber der Alkohol spielte eine problematische Rolle in ihrem Leben. Als Jugendliche war er das Mittel, um in einer Gruppe Anerkennung zu bekommen und dazuzugehören – weil alle getrunken haben. Später nutzte sie dann Alkohol zur Entspannung, etwa nach einer harten Theaterprobe. Manchmal, um Gefühle herauszukitzeln, manchmal, um sie zu betäuben. Irgendwann ist es dann gekippt, und der Alkohol hat nicht mehr gutgetan, manchmal eine ganze Flasche Wein allein am Abend. „Es war viel zu viel, was ich getrunken habe.“

Im Podcast „Kater.Sucht.Freiheit“ und auf ihrem gleichnamigen YouTube-Kanal erzählt sie davon, wie sie einmal betrunken ihren besten Freund verprügelt hat, damit er nicht mit anderen halbillegal in ein Gebäude hineingeht. Die Verletzungen waren zum Glück nicht dramatisch, ein paar blaue Flecken, ein blutiges Ohr. Und statt zurückzuschlagen, habe der Freund sie umarmt, als sie geweint hat, um sie zu trösten. Aber die Scham war abgrundtief: „Ich habe gedacht, es kann nicht sein, dass ich einem anderen Menschen Gewalt antue, zudem noch meinem besten Freund. Das bin nicht mehr ich.“

Diese Erfahrung habe gewiss im Unterbewusstsein gewirkt, der bewusste Entschluss zur dauerhaften Nüchternheit kam dann im Al-Anon-Meeting. Danach hat sie viele Informationen aus und über die „Sober-Community“ gesammelt. Drei Monate später hat sie dann ihr Vorhaben umgesetzt und seitdem keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken.

Wie Gott mich gemeint hat

Und wie hat das Umfeld reagiert? Die Welt der Kunst und des Theaters, in dem der Rausch zum guten Ton gehört, weil er angeblich Kreativität freisetzt und Grenzen sprengt? „Ganz am Anfang hat das Umfeld das nicht verstanden“, sagt Janna Ambrosy. „Man hat mir ja nicht angemerkt, dass Alkohol in meinem Leben ein Problem ist. Aber als ich das erklärt habe, haben viele positiv reagiert. Und durch den Podcast und die Videos haben viele selber über ihren Konsum reflektiert. Ich habe viele positive Gespräche geführt.“

Janna Ambrosy spricht sehr offen über ihr früheres Leben mit und ihr jetziges ohne Alkohol, auch im schon erwähnten Podcast mit der Journalistin Nora Karches und in den Videos auf ihrem YouTube-Kanal. Dort haben zum Beispiel mittlerweile knapp 30 000 Menschen das Video über die Vorteile eines Lebens ohne Alkohol angeschaut. Kein Kater, besserer Schlaf, mehr Geld zur Verfügung, besseres Aussehen und noch vieles mehr – aber vor allem: Zufriedenheit mit dem eigenen Leben. „Ich fange langsam an, mich zu mögen.“

Ziel erreicht – denn im besten Falle führe die Umkehr zu sich selber, meint Michael Utsch, „zu dem, was in mich hineingelegt wurde.“ Oder, für die Gläubigen theologisch ausgedrückt: werden, wie Gott mich gemeint hat. „Ich bin auf besondere und einzigartige Weise geschaffen und kann dem Entwurf gerecht werden, wenn ich mein Selbst verwirkliche“, sagt der Religionspsychologe. Insofern sei Umkehr ein Weg zu den Möglichkeiten. „Und die Möglichkeiten Gottes sind größer als das, was ich mir in meinem kleinen Bewusstsein vorstelle.“

Denn oft verhindere die Angst die Umkehr. Die fehlende Zuversicht, dass das, was kommt, besser ist, als das, was ist. Deswegen bleiben Menschen in toxischen Beziehungen, obwohl sie ihnen nicht guttun. Oder in Berufen, die nicht ihren Bedürfnissen und Talenten entsprechen. Dabei, so Utsch, sei Gott „ein genialer und kreativer Schöpfer, der auch uns zur Entfaltung und zum Blühen bringen will.“ Einen ungegangenen Weg zu gehen, das erfordere manchmal Mut. Aber was kann wirklich passieren? Eine Umkehr ist nicht unumkehrbar. „Wir leiden oft am Perfektionismus und suchen den einen Schritt, der alles für immer verändert. Und wenn wir den nicht finden, leiden wir lieber weiter.“ Dabei könne man doch ausprobieren und schlimmstenfalls nochmal umkehren … es sei hier ja nichts für die Ewigkeit festgelegt. „Wir können uns bis ins hohe Alter entwickeln und verändern“, sagt Utsch und zitiert einen Satz der Schriftstellerin Ricarda Huch: „Alles Menschliche will Dauer, Gott will die Verwandlung.“ 

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Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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