Gegen Mauern rennen
Der digitale Ökumenische Kirchentag in Frankfurt kam an dem Thema Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt in den beiden Volkskirchen nicht vorbei – und bemühte sich einigermaßen redlich, diesem Dauerskandal auch nicht auszuweichen. Neue Erkenntnisse gab es dabei kaum. Dafür zwei erstaunliche Aussagen eines evangelischen und eines katholischen Bischofs.
Dies ist keine Zeit zum Feiern, wirklich nicht. Wer die ersten beiden Ökumenischen Kirchentage (ÖKT) erlebt hat, 2003 in Berlin mit über 200.000 Dauergästen, ebenso den zweiten 2010 in München mit immerhin noch 125.000 Gästen, der wird mit einem großen Seufzer auf den nun dritten ÖKT schauen – und in die Röhre: Denn das sonst so große und in der Regel anregende, ja oft einigermaßen euphorisierende Treffen der Basis der beiden Volkskirchen fand dieses Mal, mit Ausnahme von ein paar Präsenzveranstaltungen und Gottesdiensten in Frankfurt am Main, wegen Corona nur digital statt. Was für ein Jammer!
Aber die zwangsläufig fast durchgehende Freudlosigkeit und Nüchternheit der Veranstaltung hatte in diesem Jahr auch mit der Schwere eines Themas zu tun, das kirchlich unausweichlich anlag, und zwar, eher überraschender Weise, in beiden Volkskirchen: das Dauerthema sexualisierte Gewalt an Minderjährigen. In der römisch-katholischen Kirche kochte der Skandal im Frühjahr noch einmal richtig hoch, weil der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki nach einem quälenden Prozess von etwa einem Jahr endlich ein Gutachten über diese Verbrechen in seinem Erzbistum vorlegte – eine Studie, die viele Fragen offen ließ und ihn allenfalls streng kirchenjuristisch mit einem blauen Auge davon kommen ließ. In der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wurde das Thema sexualisierte Gewalt plötzlich überaus dringend, weil erst vor wenigen Tagen der mit ziemlich Aplomb eingesetzte Betroffenenbeirat der Opfer sexualisierter Gewalt auf EKD-Ebene von Seiten der Kirchenleitung ausgesetzt wurde. Ein fürchterlicher Schlag für die Bemühungen um Aufarbeitung der Verbrehen auf evangelischer Seite, darin sind sich alle Beteiligten einig.
Aber evangelische Kirchentage und Katholikentage, erst recht aber ein ÖKT, sind genau die richtigen Foren, um sich diesen Fragen selbstkritisch zu stellen – was denn auch auf drei digital verbreiteten Veranstaltungen geschah. Auf der einen Veranstaltung mit dem Titel „Macht ist nicht gleich Autorität! Eine Stunde zu Kirche und Macht“ konnte Katharina Kracht digital auftreten. Die Betroffene sexualisierter Gewalt im Raum der EKD zeigte sich entsetzt über die Aussetzung des Betroffenenbeirats: Fürchterlich sei, sagte sie, was die EKD gemacht habe – „und ein sehr gutes Beispiel von Machtmissbrauch“. Außerdem kritisierte sie, dass ihr und einer anderen Betroffenen nur insgesamt sieben Minuten zur Darstellung der gegenwärtigen Situation der Opfer sexualisierter Gewalt gegeben worden sei - von tausenden Minuten Online-Kirchentagszeit, wie sie vorrechnete. Dass es dann ausgerechnet in dieser digitalen Veranstaltung auch noch technische Probleme gab, machte die Sache auch nicht besser.
Erstaunliche Aussagen
Dem Thema sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch war auch die Veranstaltung „Tatort Glaubensraum. Stolpersteine der Macht im kirchlichen Missbrauch“ gewidmet. Vor der Kamera zu sehen waren der Trierer Bischof Stephan Ackermann, der der Missbrauchsbeauftragte der römisch-katholischen Deutschen Bischofskonferenz ist. Daneben saß der Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig, Christoph Meyns, der zugleich Sprecher des Beauftragtenrates zum Schutz vor sexualisierter Gewalt der EKD ist (nicht zu verwechseln mit dem „Betroffenenbeirat“) – und die Münchner Autorin Petra Morsbach, die sich intensiv mit dem Thema „Macht“ in ihrem schriftstellerischen Werk auseinander gesetzt hat.
Hier wurde lang, vielleicht einen Tick zu lang über die Macht und ihre Grenzen in den beiden Volkskirchen geredet – die sexualisierte Gewalt kam dabei etwas zu wenig zur Sprache. Immerhin gab es aber zwei Aussagen, die aufhorchen ließen: Zum einen musste Landesbischof Meyns dank der guten Nachfragen von Claudia Keller, der stellvertretenden Chefredakteurin von „chrismon“, zugeben, dass die offizielle Nachricht, der Betroffenenbeirat der EKD sei nach eigenem Wunsch ausgesetzt worden („einem Antrag auf Auflösung aus dem Gremium heraus“, so hieß es in der EKD-Pressemitteilung), nur halb richtig war: Nur drei von sieben im Gremium am Ende verbliebenen Mitglieder des Beirats hatten diesen Wunsch nach Aussetzung der Arbeit geäußert, räumte Landesbischof Meyns ein. Die andere erstaunliche Aussage traf auf römischer Seite Bischof Ackermann: Er erklärte ohne Not, dass in dem Beirat der Betroffenen für die katholischen Bistümer nach seinem Verständnis keine „Aktivisten“ der Bewegung zur Aufarbeitung des Skandals um sexualisierte Gewalt zugegen sein sollte – sondern andere Opfer, was eine einigermaßen absurde Stellungnahme war, die auch noch nach mehreren Erklärungsversuche von Seiten des Bischofs in sich so unlogisch wie skandalös blieb.
Das Ganze wurde aber in dem üblichen höflichen Kirchentagssound geäußert, so dass diese beiden sehr zweifelhaften Aussagen fast nicht weiter auffielen. Der gleiche sanfte Sound wollte auch bei der dritten Veranstaltung zum Thema sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch in den großen deutschen Kirchen auf dem digitalen ÖKT nicht weichen. Unter dem Titel „Wie glaubwürdig sind die Kirchen?“ diskutierten unter der Moderation des WDR-Redakteurs und Theologen Arnd Henze: Christiane Florin, Redakteurin für Religion und Gesellschaft beim Deutschlandfunk, Katrin Göring-Eckardt MdB, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen und ehemalige Präses der EKD, Wolfgang Rösch, Generalvikar des Bistums Limburg, und schließlich Ulrike Scherf, die stellvertretende Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.
Pflichtschuldig abgehandelt
Auch in dieser Veranstaltung äußerten alle Beteiligten ihre Bestürzung und Betroffenheit über die Verbrechen der sexualisierten Gewalt in den Kirchen – zugleich jedoch mit der durchgehenden Mahnung aneinander und an ihre Kirchen, dass es dabei ja nicht bleiben dürfe. Das war leider alles ziemlich vorhersehbar, und vielleicht ist das einfach so nach elf Jahren Diskussion, wenn am Ende alle auch alles schon einmal gesagt haben (müssen). Unerwartet, aber zu einem anderen Thema, war höchstens eine Aussage des Generalvikars Rösch, der sagte, es habe ihn stolz gemacht, dass die katholische Jugend anlässlich der jüngsten Segensgottesdienste für homosexuelle Paare in über hundert katholischen Gemeinden unter dem Motto #liebegewinnt in seinem Bistum die Regenbogenfahne gehisst habe. Wie das vereinbar ist mit der öffentlichen Äußerung seines Chefs, des Limburger Bischofs Georg Bätzing, der als Vorsitzender der Bischofskonferenz erklärt hatte, die Aktion sei „nicht hilfreich“, das blieb weitgehend das Geheimnis von Rösch.
So hat der ÖKT die Themen Missbrauch und Macht ziemlich pflichtschuldig abgehandelt – neue Erkenntnisse waren kaum zu vermelden, aber das ist ja auch, wie gesagt, nach mehr als einem Jahrzehnt der mehr oder weniger schleppenden Aufarbeitung nicht sehr wahrscheinlich. In Erinnerung bleiben werden vielleicht nur zwei bedenkenswerte Analysen: Christiane Florin erklärte, es sei nun endgültig klar geworden, dass die Kirchen die Skandale um sexualisierte Gewalt einfach nicht von sich aus aufarbeiten könnten, das gehe „systemisch“ nicht, und auch die dann öffentlich werdenden Erkenntnisse wären für die Kirchen „zu schrecklich“. Hilfe von außen, etwa von der Politik, sei bei der Aufarbeitung wahrscheinlich nötig. Und der Appell der Autorin Petra Morsbach hallte noch länger nach: Sie rief die Opfer sexualisierter Gewalt dazu auf, in ihrem langen Kampf um eine wirkliche Aufarbeitung des Skandals in den Kirchen nicht locker zu lassen, auch wenn sie womöglich das Gefühl hätten, gegen eine unüberwindbare Mauer zu rennen. Sie sollten sich nicht der Frustration hingeben, erneut verletzt worden zu sein, wenn die Erfolge ihres Engagements ausblieben oder kaum sichtbar seien. Denn: „Sie erreichen mehr, als es scheint.“
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.