Kein sicherer Ort

Kann man sexuelle Gewalt aufarbeiten?
Foto: EKDKultur/Schoelzel

Kein anderes Thema beschäftigt die Kirchen und die mediale Öffentlichkeit in Deutschland so sehr wie die Frage, wie sexualisierte Gewalt aufzuklären sei. Zurzeit richtet sich die Aufmerksamkeit vor allem auf die katholische Kirche, besonders das Kölner Bistum. Aber die grundsätzliche Frage geht die evangelische Kirche natürlich genauso etwas an – wie auch Sportvereine, Schulen oder Kultureinrichtungen. Wie kann man so traumatisierende und schambesetzte Gewalterfahrungen "aufarbeiten"? Wie kann man das Unrecht nach dem Unrecht, nämlich das jahrzehntelange Schweigen und Vertuschen, "bewältigen"? Was bedeutet eigentlich dieses ebenso gängige wie unklare Wort "Aufarbeitung" (um von "Vergangenheitsbewältigung" gar nicht erst zu sprechen)? Wie macht man es – ganz praktisch: Wer erteilt den Auftrag, wer führt ihn aus, wie werden schriftliche Quellen, so es sie denn gibt, ausgewertet, wie werden Betroffene gehört und beteiligt, wie schreibt man darüber und für wen, welche Folgen sollte das Ganze haben und wie lang wird so etwas dauern?

Um von all diesen Fragen nicht erdrückt zu werden, ist es das Beste, jemanden zu befragen, der es versucht hat. Gerade hat die Historikerin Ulrike Winkler eine beeindruckende Studie über einen besonderen, exemplarischen Fall veröffentlicht. In den 1970er und 1980er Jahren widerfuhr Kindern und Jugendlichen in einer evangelischen Einrichtung massiv sexualisierte Gewalt. Das Besondere an den Ereignissen im Margarethenhort, in einem Wohnheim in Hamburg-Harburg für Kinder und Jugendliche aus prekären Verhältnissen, bestand nun darin, dass die Täter keine Erwachsenen (Mitarbeiter oder Leitungspersonen) waren, sondern andere – minderjährige – Jugendliche aus dem Heim oder aus der Nachbarschaft. 2016 wurden diese Straftaten bekannt. Der Kirchenkreis Hamburg-Ost leitete daraufhin eine umfassende Reformierung dieser Einrichtung ein. Ein wesentlicher Bestandteil war es, Ulrike Winkler damit zu beauftragen, eine historische Studie über die Vorkommnisse selbst, die Faktoren, die sie ermöglichten, das "System Margarethenhort" sowie das lange Schweigen zu schreiben. Nun, nach fünf Jahren, liegt das Ergebnis vor: ein überaus konzises, eindringliches, aber gar nicht reißerisches Buch mit dem Titel "Kein sicherer Ort. Der Margaretenhort in Hamburg-Harburg in den 1970er und 1980er Jahren".

In einem Werkstattgespräch habe ich Ulrike Winkler über ihre Arbeitserfahrungen befragt. Man kann von ihr sehr viel darüber lernen, was für eine angemessene Aufklärung notwendig ist: ein präziser Auftrag und wissenschaftliche Freiheit, eine gute Zusammenarbeit mit allen kirchlichen Stellen, besonders dem betreffenden Archiv, ausreichende Mittel und Geduld, vor allem aber die Möglichkeit, verbindlich und sensibel mit Betroffenen zu sprechen und ihre Erfahrungen seriös auszuwerten. Die Begegnungen mit ihnen waren für Ulrike Winkler das wichtigste an dieser Arbeit: "Das sind Frauen, die vom Leben noch etwas wollen". Aber es bricht einem das Herz, wenn sie als eine Art Fazit erklärt: "Es wäre so wichtig gewesen, wenn die Kinder und Jugendlichen, denen damals Gewalt angetan wurde, auch nur einen Menschen gefunden hätten, der ihnen geglaubt hätte und der ihnen zu einem ‘sicheren Ort’ geworden wäre."

Diese Untaten und Versäumnisse kann man nachträglich nicht ungeschehen machen. Aber man kann den Betroffenen jetzt zuhören und in einer wissenschaftlich haltbaren Studie darüber öffentlich Auskunft geben, so dass man daraus lernen kann. Wie das möglich ist, kann man in meinem Podcast-Gespräch mit Ulrike Winkler erfahren. Wer daran Interesse hat, klicke hier.

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Johann Hinrich Claussen

Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.


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