Man kann es fast ein Lebenswerk nennen – und die Radikalität sowie die darin versteckte Leidenschaft faszinieren ungemein, wohl auch die dafür notwendige Freundschaft. Die beiden französischen Schriftsteller und Cineasten Jérôme Prieur und Gérard Mordillat, beide vor rund siebzig Jahren in Paris geboren, haben in 17 Jahren, von 1998 bis 2015, gemeinsam ein Doku-Meisterwerk geschaffen, das seinesgleichen sucht und nun komplett (und kostenlos) angesehen werden kann.
In insgesamt 41 Folgen à rund fünfzig Minuten, aufgeteilt in vier Serien, haben sie die Geschichte der ersten Jahrhunderte des Christentums und des frühen Islam ausgeleuchtet. Es ist ein kirchen- und religionsgeschichtlich einmaliges Werk des europäischen Fernsehens öffentlich-rechtlicher Natur.
Wobei „europäisches Fernsehen“ durchaus wörtlich zu nehmen ist, denn Prieur und Mordillat haben ihre vier Doku-Serien für arte produziert – und alle 41 Folgen dieser Serien sind derzeit in der Mediathek des deutsch-französischen TV-Senders und auf YouTube abrufbar. Wer sich für das Christentum, den Islam sowie ihre gemeinsamen Wurzeln im Judentum interessiert, wird hier überaus Lehrreiches und Anregendes finden.
Was ist das Radikale an dem Doku-Meisterwerk? Es ist minimalistisch, ja gewagt konzipiert. Denn es sind, anders als es der Zeitgeist lange zu fordern schien, in diesen TV-Dokumentationen keinerlei Spielszenen oder Animationen zu sehen, sondern – bis auf sehr kurze Aufnahmen von Archiven – nur: Köpfe! Köpfe und Oberkörper, meist vor einem schwarzen Hintergrund gefilmt. Es sind die Charakterschädel von mehreren Dutzend Fachleuten, die im Laufe der knapp zwei Jahrzehnte dieses Großprojekts interviewt wurden.Manche Interviewten, die in mehreren Serien vorkommen, sieht man sogar altern.
Die Fachleute – mehr Männer als Frauen, zugegeben –, die die beiden stumm bleibenden Filmemacher befragen, sind in der Regel Expertinnen und Experten der Theologie, der Religionswissenschaft und der Kirchengeschichte. Man lauscht überwiegend Professorinnen und Professoren aus der ganzen westlichen Welt und, vor allem in der Doku-Serie über die Frühzeit des Islam („Jesus und der Islam“), auch aus dem Mittelmeerraum.
Das Faszinierende ist: Die Fachleute sitzen vor der Kamera, etwas ausgeleuchtet, und erzählen einfach nur, was sie oder die Forschung in ihrem Fach über die ersten Jahrzehnte oder Jahrhunderte des Christentums und des Islam herausgefunden haben. Sie tun dies ohne Manuskript, frei von der Leber weg und meist in einfachen, schlichten Worten. Dann folgt ein Schnitt, und der nächste Fachmann, die nächste Expertin kommt zu Wort – und widerspricht vielleicht dem vorher Gesagten, bekräftigt oder ergänzt es. Es ist wie eine ins Mündliche übertragene Forschungsdiskussion, als sei man wortwörtlich mitten in einer Forschungsdebatte mit den besten Fachleuten der Welt.
So werden Religions- und Kirchengeschichte zu einem ungemein aufregenden Thema, denn klar ist: So viel ist gar nicht klar, fast alles kann mit guten Gründen diskutiert werden – wenn man denn die Quellen richtig zu lesen und zu interpretieren weiß. Historische Charaktere werden sichtbar (etwa von Paulus, Petrus oder Mohammed), die großen Geschichten von Liebe und Verrat, Streit und Solidarität lebendig. Und deutlich wird natürlich: Geschichte ist ein offener Prozess. Alles hätte auch ganz anders enden können.
Hinweis
„Corpus Christi“ (1998 – 12 Folgen) und „Apokalypse“ (2008 – 12 Folgen) sind auf YouTube – am besten mit dem Zusatz „arte“ – zu finden. In der arte-Mediathek sind derzeit „Geburt des Christentums“ (2003 – 10 Folgen) und „Jesus und der Islam“ (2015 – 7 Folgen) abrufbar.
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.