Ein Gott für alle
Sonntag Miserikordias Domini, 18. April
So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selber weiden! Sollen die Hirten nicht die Herden weiden? …Denn so spricht Gott der Herr: Ich will meine Herde selber annehmen und sie suchen. (Hesekiel 34,2+11)
Wer täglich von Umtrieben im Vatikan und dem Umgang der Kirchen mit Missbrauchsvorwürfen hört und liest, bekommt beim Lesen der Hirtenpredigt von Hesekiel den Eindruck, dass dieser Text nicht schon zweitausendfünfhundert Jahre alt ist, sondern sehr aktuell.
Hesekiel, der Sohn eines Priesters, gehörte zu den ersten, die in die „Babylonische Gefangenschaft“ gerieten. Nach der Besetzung Israels 598 vor Christus durch Nebukadnezar II. wurde Israels Oberschicht nach Babylon deportiert. Die einfachen Leute blieben im Land. Sie mussten dort den neuen Herrschern dienen, säen, ernten und – den Ertrag abliefern.
Die Führungsschicht ließ es sich dagegen in Babylon gut gehen. Denn das babylonische Reich war ein Multi-Kulti-Staat, offener als das heutige Deutschland. Von wegen „Babylonische Gefangenschaft“: Den Israeliten stand sogar der Staatsdienst offen. So fanden Archäologen vor einigen Jahren das Grab eines Juden, der als General in der babylonischen Armee gedient hatte. Kein Wunder also, dass sich viele Israeliten in Babylon so gut assimilierten, dass sie nach Ende der „Gefangenschaft“ im Lande blieben und dort die größte Gemeinde der jüdischen Diaspora bildeten.Aber die Assimilierung brachte das Judentum in Gefahr. Und Hesekiel merkte das als einer der Ersten. Er forderte von der israelitischen Priesterkaste Führung ein. Aber die erfolgte nicht. Sie kümmerten sich um den Kult und die Politik, statt ihre Herde zu weiden. In den Auseinandersetzungen mit den Priestern entwickelte Hesekiel Denkstrukturen, die das Überleben des Judentums sicherten, indem er die Alleinstellung des Tempelkultes in Jerusalem abschaffte. Die Verehrung Gottes war also nicht mehr an einen Ort gebunden. So wurde Gott zu einem Gott für die ganze Welt. Und Hesekiel verkündete, dass man sich direkt an Gott wenden kann, so wie dieser sich direkt an den Menschen wendet. Und so kann man die Hirten, die nichts taugen, umgehen. Und an diesem Punkt ist dieser Text aus dem Alten Testament brandaktuell.
Höhle des Löwen
Sonntag Jubilate, 25. April
Paulus aber stand mitten auf dem Areopag und sprach: Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt. Denn ich bin umhergegangen und habe eure Heiligtümer angesehen und fand einen Altar, auf dem stand geschrieben: Dem unbekannten Gott. Nun verkündige ich Euch, was ihr unwissend verehrt. (Apostelgeschichte 17,22–23)
Die Predigt des Paulus auf dem Areopag in Athen ist eine Sternstunde der Rhetorik, wenn man diese als ein ganzheitliches Reden begreift und nicht nur als Ansammlung von Kniffen. Geistliches Reden beginnt damit, dass man die Realität wahrnimmt, analysiert und sich dazu in Beziehung setzt. Und genau das macht Paulus, als er in Athen unterwegs ist. Er kommuniziert in den Sprachen der jeweiligen Milieus, denen er begegnet. Er spricht in einer anderen Sprache zu den Gläubigen in der Synagoge als zu den Leuten, die auf den Plätzen stehen.
Das muss man erst einmal können, sich in der Sprache den jeweiligen Milieus
anzupassen, ohne dabei den Inhalt zu verraten. Und Paulus konnte das. Zumal er auch mutig war. Der Apostel nahm die Einladung an, auf dem Areopag zu sprechen, dem Marktplatz der Weltanschauungen. Griechenland war zwar seit hundertfünfzig Jahren von den Römern besetzt, aber Athen war immer noch die Hauptstadt des Geistes, der Philosophie und der Auseinandersetzungen darüber. Für einen Prediger des Evangeliums glich die Stadt also der Höhle des Löwen. Und der Areopag war immer gut besucht. Schließlich war er Umschlagplatz für Neuigkeiten und Nachrichten. Luther hätte in seinem Deutsch „Zeitungen“ dazu gesagt. Und wie redet Paulus dort?
Er holt die Menschen erst einmal ab – indem er sie lobt. Denn wer gelobt wird, ist bereit, zuzuhören und Neues aufzunehmen. Und diese Bereitschaft braucht Paulus. Denn er hält keine gefällige Rede, sondern verkündet das Wort Gottes. Der Völkerapostel macht also genau das, was Luther später so definiert hat: Predigen heißt, zum Glauben reizen, Lust am Glauben wecken. Da kommen Emotionen hoch, positive und negative. Denn wer zum Glauben reizt, dem kann auch Ablehnung und Hass entgegenschlagen. Paulus befriedigt auch die Neugierde. Wer diese ansprechen kann, holt den Menschen ab. Der Apostel hat entdeckt, dass die Athener alle Götter abbilden, keinen übersehen wollen. So haben sie zur Sicherheit auch „Dem unbekannten Gott“ einen Altar errichtet. Genau über den rede er, sagt Paulus. Und er tut es in einer Art und Weise, die reizt. Die Zuhörer lachen oder verdrängen, was der Apostel sagt, oder lehnen es ab oder wollen „ein andermal weiterhören“ (Vers 32) oder „schlossen sich ihm an und wurden gläubig“ (Vers 33).
Schreiende Steine
Sonntag Kantate, 2. Mai
Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! Und einige von den Pharisäern in der Menge sprachen zu ihm: Meister, weise doch Deine Jünger zurecht! Er antwortete und sprach: Ich sage Euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien! (Lukas 19,38–40)
Vom steinigen Ölberg geht es hinunter nach Jerusalem. Und jetzt geht es um alles, Showdown bei Lukas. Dabei ertönt dem Inhalt nach das gleiche Lied wie einst auf dem Feld bei Bethlehem, des Nachts bei den Hirten: „Euch ist heute der Heiland geboren! Fürchtet Euch nicht!“ Und das ist kein Zufall. Für Lukas, den griechischen Arzt aus dem syrischen Antiochia, gehören beide Lieder zusammen: Heute bricht das Heil in die Welt ein. Und mag diese noch so grausam sein und sich nicht vorbereitet, darauf gewartet haben. Das Heil bricht mit Jesus von Nazareth an – Gott in Menschengestalt.
Darauf hat die Welt damals nicht gewartet. Und sie tut es auch heute nicht. Deshalb müssen Christen davon singen, reden, bekennen und handeln. Denn sie sind die Übersetzer der Frohen Botschaft, des Evangeliums. Nur sie. Denn auf kirchliche Institutionen mit ihren Heiligen und Dogmen war noch nie Verlass. Das hat nicht nur Martin Luther erkannt. Der Tübinger Neutestamentler Hans-Joachim Eckstein drückt es so aus: „Wir Christen sind die einzige Bibel, die heute noch von einer breiten Bevölkerungsschicht gelesen wird – aber ich fürchte, wir sind die schlechteste Übersetzung.“
Und wenn diese Übersetzung gar nichts mehr taugt, werden die Steine schreien: sogar die des Kölner Doms. Gregorianische Gesänge werden da laut, scholastische Streitgespräche („Was geschieht mit einer Maus, wenn sie eine geweihte Hostie angeknabbert hat?“), reformatorische Gedanken („Was geschieht in der Eucharistie, Christi Blut in echt oder real nur für die Gläubigen? Oder symbolisch?“), Klagen und Schreie („30 Jahre Krieg und jetzt noch Pest und Cholera“), Verfolgung und Vertreibung („Die Franzosen! Die Preußen!“), Unterdrückung und Ausbeutung („Bismarcks Kulturkampf! Sozialistengesetze“), Rassismus („Gegen die Kölner Juden“), und – ganz aktuell – die Klagen der Missbrauchsopfer. Die Steine des Kölner Doms haben das alles gehört und schreien.
Umso wichtiger ist, Ihr Christen: Das Heil ist gekommen! Erhebt Eure Stimmen. Denn Ihr seid die Übersetzer der Frohen Botschaft.
Neue Theologie
Sonntag Rogate, 9. Mai
Neige Deine Ohren, mein Gott, und höre, tu Deine Augen auf und sieh an unsere Trümmer und die Stadt, die nach Deinem Namen genannt ist. Dennwir liegen vor Dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf Deine große Barmherzigkeit. (Daniel 9,18)
Es hat vierzig Jahre gedauert, bis zur Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker, als viele Deutsche begriffen, dass der 9. Mai ein Tag der Befreiung war. Dabei hätte man schon am 9. Mai 1945, als man von Trümmern umgeben war, fragen können, was man selber dazu beigetragen hat. Aber das hätte den Mut zur Ehrlichkeit erfordert.
Eine Trümmerlandschaft waren um 167 vor Christus auch Israel und Jerusalem. Bis weit hinein in die Priesterkaste Jerusalems war griechisch-philosophisches Denken und hellenistischer Lebensstil üblich. Das führte sogar so weit, dass in der Theologie Gott mit Zeus gleichgesetzt und im Jerusalemer Tempel eine Zeus-Statue aufgestellt wurde.
Aber so viel Assimilierung erzeugte Widerstand. Und so kam es zum Aufstand der Makkabäer. Theologisch tarnten sich einige ihrer Anhänger unter dem Sammelnamen „Daniel“ und schufen eine neue Theologie. Ihnen war klar: Nur die alten Dogmen zu wiederholen, bringt nichts. Auch hier galt es, Trümmer beiseitezuräumen und Neues zu errichten. Und dazu wandten sie einen Trick an: Sie taten so, als ob Daniel seine Erkenntnisse zu Beginn der Babylonischen Gefangenschaft geäußert hätte. Und an der Geschichte des Exils konnte man dann sehen, ob er recht gehabt hatte. Hatte er natürlich!
Die Erkenntnisse dieser Trümmertheologie waren klar und eindeutig: Gott ist Gott, und der Mensch hat nichts, auf das er stolz sein, nichts, womit er vor Gott glänzen könnte. Keine Leistungen, keine Werke, keine eigene Gerechtigkeit. Also bleibt nur noch die Erinnerung an das, was Gott versprochen hat. Und darum zu bitten und zu beten, dass er das Versprochene auch weiterhin hält. Das ist der Maßstab für das zukünftige Leben. Das allein. Und darauf hat sich auch Jesus berufen und den von Daniel eingeführten Begriff „Menschensohn“ auf sich bezogen.
Das Danielbuch eignet sich mit seinen Geschichten – Löwengrube, Feuerofen etc. – nicht nur für Kinder. Es zwingt uns vielmehr, über das Wesentliche unseres Glaubens nachzudenken und in einer Zeit, in der von allen Seiten tolle Glaubensangebote gemacht werden, das Eigentliche des Christentums zu entdecken. Und zu erkennen, dass Gott es ist, der handelt, und wir darum bitten, dass wir an seinem Handeln mitwirken dürfen.