Gottes Dialektik

Klartext

Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Jürgen Kaiser. Er ist Pfarrer i.R. in Stuttgart.

Wie Geschwister

10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag), 16. August

Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. (Römer 11, 32)

Die Juden sind an allem schuld!“ Dieser Satz, verfügte Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels, sei in jedem Zeitungsartikel unterzubringen, egal um was es gehe. Und wie wir wissen, fiel die Saat auf fruchtbaren Boden. Gegen die Juden waren schon Päpste, Kreuzritter und Martin Luther eingestellt. Aber begonnen hatte das bei Paulus. Als Jude verstand er nicht, warum die anderen Juden den Juden Jesus nicht als Messias ansahen. So begann mit Römer 11 eine Auslegung, die das katastrophale Verhältnis zwischen Juden und Christen begründete. Und die Folgen sind bekannt.

Den heutigen Sonntag begehen die evangelischen Kirchen als „Israelsonntag“. Sie bedenken ihre geistigen und geistlichen Wurzeln im jüdischen Glauben. Und an sie muss immer wieder erinnert werden. Denn Goebbels’ Satz wirkt immer noch nach. Auch in Verschwörungstheorien in Corona-Zeiten. Antisemitismus ist leider wieder gesellschaftsfähig geworden.

Paulus beschreibt eine Dialektik, die Christen aushalten müssen. Die Juden sind und bleiben das erwählte Volk Gottes. Die Christen aus den nichtchristlichen Völkern, die „Heidenchristen“, sind zwar zusätzlich erwählt. Aber sie haben dies nicht verdient, sondern verdanken es allein Gottes Gnade und Tat.

Das müssen Christen aushalten bis zum Jüngsten Tag, dürfen es nicht in die eine oder andere Richtung auflösen. Was der Mensch aber gerne tut – siehe die Geschichte des Fanatismus. Nur Gott kann jene Dialektik auflösen – nicht der Mensch.

Das stehen zu lassen, eröffnet Christen die Freiheit, mit den Juden geschwisterlich umzugehen. Das Alte Testament gilt in beiden Religionen, auch wenn Christen und Juden es anders auslegen. Auch das müssen Christen aushalten. Und den Mund aufmachen, wann und wo immer der Antisemitismus auflebt und laut wird. Das sind Christen den jüdischen Geschwistern schuldig.


Erster Schritt

11. Sonntag nach Trinitatis, 23. August

Der Pharisäer … betete bei sich selbst so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute … auch wie dieser Zöllner … Der Zöllner … sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! (Lukas 18, 11+14)

Veganer gegen ausbeuterischen Kapitalisten“ – könnte man das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner vielleicht aktualisieren. Die Pharisäer bemühten sich mit ihrer ganzen Kraft, die Gebote Gottes einzuhalten, ja sie über zu erfüllen. Stellvertretend für Andere, die das nicht konnten oder wollten. Die Pharisäer trieb eine Idee an: Wenn alle Menschen zur gleichen Zeit die Gebote Gottes erfüllen, würde der Messias kommen.

Daneben die Zöllner: Sie waren Franchise-Nehmer der römischen Besatzungsmacht. Sie besaßen die Lizenz, im Namen der Besatzer Steuern zu erheben und einzutreiben. Und dabei durften sie nach eigenem Gutdünken den Zoll erhöhen, um Gewinn zu machen. Ein Zöllner gehörte also zu der Sorte Mensch, mit der niemand etwas zu tun haben will.

Beide stehen nun im Tempel und beten zu Gott. Und der fällt über sie ein Urteil. Es überrascht, dass es dabei nicht darum geht, wer gut oder schlecht lebt. Es geht vielmehr darum, wer erkennt, dass er allein von der Gnade Gottes abhängig ist. Und Gott lässt sich bei seinem Urteil nicht beeinflussen.

Ein junger Mann ging zum Rabbi und fragte ihn: „Wie kann ich Gott zum Lachen bringen? “ Der Rabbi antwortete: „Das ist einfach, erzähle ihm von Deinen Plänen!“ Ja, Gott urteilt nach eigenen Regeln, nicht nach menschlichen Maßstäben. Das schließt nicht aus, sich Gott zu nähern. Aber dies beginnt mit aufrichtiger Selbsterkenntnis. Und damit hatte der Zöllner schon mal angefangen.

 

Vorsicht Eisenbahn

12. Sonntag nach Trinitatis, 30. August

Wenn aber jemand auf den Grund baut Gold, Silber, Edelsteine, Holz, Heu, Stroh, so wird das Werk eines jeden offenbar werden. Der Tag des Gerichts wird es ans Licht bringen; denn mit Feuer wird er sich offenbaren. Und von welcher Art eines jeden Werk ist, wird das Feuer erweisen. (1. Korinther 3, 12–13)

Ohne dass er es gewollt hätte, hat Paulus mit diesen Sätzen zweitausend Jahre Angst begründet. Denn alle Angstpädagogen griffen und greifen auf diesen Text zurück. Das Fegefeuer, das Höllenfeuer, die Qualen beim Jüngsten Gericht, hier sind sie angelegt, lassen sich mit Paulus begründen. Und wie trefflich lässt es sich damit gegen „die Welt“ und „die Sünde“ und für eine eigene Moral streiten.

1867 ließ die Mitbegründerin der Stuttgarter Diakonissenanstalt Charlotte Reihlen (1805 – 1868) das nach ihren Entwürfen gefertigte Gemälde vom „Breiten und Schmalen Weg“ drucken, das als Poster zu einer Art Ikone in pietistischen Wohnstuben wurde. Dort war vorgezeichnet, wo der „breite Weg“ endet: im Höllenfeuer beim jüngsten Gericht. Zum Weg, der dorthin führt, gehörten die Eisenbahn und ein Haus, an dem die schwarz-rot-goldene Fahne der Demokraten flatterte. Später wurde sie durch eine weiße Fahne mit der Aufschrift „Weltsinn“ ersetzt.

Aber auf 1. Korinther 3 kann sich nicht berufen, wer die Existenz von Hölle und Fegefeuer propagiert. Denn Paulus hat seiner Gemeinde in Korinth einen Liebesbrief geschrieben, keinen Drohbrief. Die Mitglieder der Gemeinde waren verunsichert, kamen doch immer wieder Wanderprediger vorbei, die sich widersprachen. Und ihre Anhänger bildeten in der Gemeinde Parteiungen. Ein Neues Testament zur Orientierung gab es noch nicht. Denn es ist das Jahr 55 nach Christus. Erst 22 Jahre sind seit den Osterereignissen in Jerusalem vergangen.

Paulus war Handwerker. Also drückt er sich durch handwerkliche Bilder aus. So macht er klar, dass Jesus Christus der Grundstein ist, auf dem das neue Haus, die Gemeinde ruht und woran jeder seinen Glauben ausrichten soll. Jeder Christ ist Gottes Mitarbeiter beim gemeinsamen Bau. In diesem Sinne predigt jeder das Evangelium mit seinem Handeln und seiner Art zu leben. Das ist die Berufung, der Auftrag von Christen. Und am Ende der Tage wird sich erweisen, was Gold oder Heu und Stroh war.

Aber auch da will Gott seine Barmherzigkeit zeigen. Das wissen und glauben wir, weil Jesus Christus der Grundstein ist. Nur Mut, sagt Paulus: Solange ihr auf diesem Grund baut, braucht ihr weder Tod noch Teufel, Hölle und Feuer fürchten.

 

Keine Frauensache

13. Sonntag nach Trinitatis, 6. September

Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. (Apostelgeschichte 6, 3)

Die Jerusalemer Urgemeinde wuchs. In ihr trafen sich Juden und Griechen, Arme und Reiche, und Menschen wie Nikolaus, der sich dem jüdischen Glauben angeschlossen hatte, aber nicht beschnitten war und vom jüdischen Gesetz nur das einhielt, was ihm einleuchtete.

Also lag in Jerusalem jede Menge Zündstoff in der Luft. Die einen waren von einem streng jüdischen Gesetzesverständnis geprägt. Sie würden niemals das Haus eines Nichtjuden betreten. Aber genau das geschah. Diese Vielfalt muss verstörend und zugleich faszinierend gewesen sein. Aber beim Wachstum der Gemeinde ging etwas schief: Bei der Verteilung des Essens wurden die griechischen Witwen übersehen. Aber eine Lösung wurde gefunden: Für den Tischdienst wurden sieben Männer berufen und eingesegnet. Sie waren die ersten Diakone. Alle trugen griechische Namen, Nikolaus war auch dabei.

Die kleine Erzählung hat es in sich: Ein Problem wurde benannt, statt zur Seite geschoben. Es wurde eine pragmatische Lösung gesucht und umgesetzt und eine Struktur geschaffen, die dem Wachstum der Gemeinde entsprach. Und es wurde richtig erkannt: Glaube und Leben, Verkündigung und tätige Nächstenliebe gehören zusammen. Und diese Entwicklung ist weiter-gegangen. Heute schauen Nichtchristen auf das Leben und Tun von Christen und schließen daraus auf deren Glauben und was er wert ist. Die Tat der Christen wird also zum Träger der Botschaft.

Christus hat in der Kirche den Männern das Dienen aufgetragen. Aber die haben das, nicht das Leiten, an die Frauen delegiert. Da wäre in manchen Kirchen wieder eine pragmatische Lösung fällig.

 

Jesu Seitenhieb

14. Sonntag nach Trinitatis, 13. September

Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil wider-fahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams. Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. (Lukas 19,9–10)

Zachäus, ist klein gewachsen, aber im Nehmen ganz groß. Er ist der Obersteuereintreiber von Jericho und damit eine ideale Projektionsfläche für alles Hassenswerte. Denn er kollaboriert mit der Besatzungsmacht und verdankt seinen Reichtum unlauteren Geschäftspraktiken. So ist Zachäus für seine Landsleute und Religionsgenossen die Verkörperung des Unreinen, obwohl sein Name auf Deutsch „der Reine“ bedeutet. „Der Reine und sein schmutziges Geld“ könnte man seine Lebensgeschichte also überschreiben.

Als Jesus nach Jericho kommt, wollen ihn alle sehen, auch Zachäus. Und weil der kleine Mann nichts sehen kann, klettert er auf einen Baum und wartet. Jesus sieht Zachäus, nennt ihn beim Namen, reißt ihn also aus seiner Anonymität und stellt klar, dass er bei ihm einkehren wird. Und die Menge ist entsetzt.

Zachäus erlebt buchstäblich eine Umkehr, nachdem Jesus im Umgang mit ihm alles umgekehrt hat, was für den Umgang mit „Unreinen“ galt. Der Zöllner will ein anderes Leben führen und neu beginnen, weil er Gott begegnet ist. Das wollte er eigentlich gar nicht, er war nur neugierig. Aber Gott wollte es. Der nennt ihn beim Namen. Stellt keine Bedingungen. Er liebt den Menschen eben. Zugegeben: Das ist eine Zumutung und für manche schwer auszuhalten.

Und Jesus hat auch einen Seitenhieb parat, der noch heute sitzt: Egal wie man Zachäus beurteilt, er ist Abrahams Sohn. Und das bleibt, kann ihm keiner nehmen. Hätte die Kirche das gelesen und nicht vergessen, sondern im Umgang mit den Juden beherzigt, wäre den Juden und der Menschheit viel Unheil erspart geblieben. Denn wer Abrahams Sohn ist, bleibt immer gesegnet.

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