Höchste Zeit für Solidarität
Die Corona-Pandemie geht für Menschen auf aller Welt mit massiven Einschränkungen individueller Freiheiten inher. Es sind dabei vor allem die Alten, die unserer Solidarität bedürfen, und es sind insbesondere die Jungen, die olidarität üben müssen. Beim Klimawandel ist es genau umgekehrt, sagt Christian Berg, Professor für Nachhaltigkeit an der TU Clausthal. Deshalb müssen wir eigene Freiheiten auf den Prüfstand stellen.
Die Corona-Krise hat uns allen viel Solidarität abverlangt – und tut es noch heute. Menschen nehmen Rücksicht aufeinander und bieten einander Hilfe an. Viel Solidarität wird geübt, die über wohlverstandenes Eigeninteresse hinausgeht und keine Gegenleistung erwartet. Wer sich solidarisch verhält, leistet Hilfe ohne Berechnung – aber im Vertrauen darauf, dass der Andere in ähnlicher Situation ähnlich handeln würde.
Doch wer ist hier eigentlich mit wem solidarisch? Natürlich kann Covid-19 letztlich jeden von uns treffen, aber aus medizinischer Sicht gehören vor allem die älteren Menschen zur Risikogruppe – grob gesagt, je älter, desto gefährdeter. Genau umgekehrt verhält es sich bei den Jungen. Und gerade deshalb ist ihre Solidarität gefordert.
Obwohl sie selbst kaum gefährdet sind, mussten und müssen junge Menschen erhebliche Einschränkungen hinnehmen – sei es durch bewusste Entscheidung oder durch staatliche oder elterliche Anordnung: kein Spielplatzbesuch, kein Treffen mit Freunden, kein Besuch bei Oma und Opa, nicht der gewohnte Sport, keine Urlaubsreise, keine Konfirmationsfeier, kein Abiball, kein Auslandsaufenthalt – ganze Lebensabschnitte müssen umgeschrieben werden. Dabei kann schon eine Woche unendlich lang sein, wenn man etwas herbeisehnt. Und während die Zeit für die Alten nur so vorbeifliegt, dehnt sie sich für die Kleinsten un–end–lich in die Länge! Erfahrungen weniger Monate können prägen für ein Leben. Und ein Ende ist noch nicht wirklich in Sicht. Freiheiten werden (zu Recht) beschränkt, um anderen Menschen das Risiko eines totalen Freiheitsverlusts, nämlich den Tod, zu ersparen.
Freiheit der Anderen
Dieser Zusammenhang von eigenen und fremden Freiheiten ist nicht Corona-spezifisch, er begleitet jede menschliche Freiheit. Denn wäre die eigene Freiheit nicht durch die Freiheit der Anderen begrenzt, wäre Freiheit nicht mit Gerechtigkeit vereinbar. Die eigenen Freiheiten auf Kosten Anderer auszudehnen, wäre eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung. Freiheiten werden auf vielerlei Weise begrenzt, durch Sitte, Moral und Recht, oder auch durch ökonomische Zwänge – denn was nützte eine Freiheit, die nie realisiert werden kann, weil dafür die finanziellen Mittel fehlen? Diese Einsicht war grundlegend für die Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland, die eine „sozial gesteuerte Marktwirtschaft“ (Müller-Armack) sein sollte.
Doch wer sind die „Anderen“, die meine Freiheit begrenzen? Zunächst sind es die Menschen in meiner Umgebung, in meinem Gemeinwesen, meiner Gesellschaft. Hier wird individuelle Freiheit letztlich durch die staatliche Ordnung geschützt. Doch hört meine Verantwortung für die Folgen meines Handelns an der Staatsgrenze auf? Muss mein Handeln nicht in genau dem Maße seiner Reichweite auch mit den Freiheiten anderer verträglich sein, selbst wenn dies jenseits des aktuellen Gemeinwesens läge? Zumindest für eine ethische Beurteilung des Handelns müsste dies wohl bejaht werden, denn diese ist kaum von zufälligen Staatsgrenzen abhängig zu machen. Der liberale Philosoph John Rawls fordert denn auch in dem ersten seiner beiden Grundprinzipien der Gerechtigkeit, dass jeder „das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten“ haben müsse, „das für alle möglich ist“. Aus der Logik des Rawls’schen Ansatzes geht klar hervor, dass er in diesem „alle“ buchstäblich alle Menschen eingeschlossen sehen will, sogar solche anderer Generationen. Rawls diskutiert sein Prinzip unter anderem auch hinsichtlich der Frage intergenerationeller Gerechtigkeit und argumentiert, dass die bloße zeitliche Nähe eines gegenwärtigen Guts doch wohl keinerlei Bevorzugung gegenüber einem größeren zukünftigen Gut rechtfertige.
Gestiegene Verantwortung
Wenn nun der Wirkungsradius unseres heutigen Handelns gegenüber früher stark gestiegen ist, was sich den Fortschritten der Technik sowie den globalisierten Märkten verdankt, dann wächst damit auch unsere Verantwortung. Jede einzelne Handlung wirkt zwar nur sehr geringfügig über die Grenzen unseres Rechtssystems hinaus, in der Summe tragen aber die Konsum- und Produktionsmuster der reichen Staaten dazu bei, die menschlichen Lebensgrundlagen zu gefährden oder gar zu zerstören und damit die Freiheiten von Menschen in anderen Weltgegenden einzuschränken, bis zur Bedrohung ihrer physischen Existenz. Unser Handeln wirkt sich ermöglichend oder begrenzend auf die Freiheiten von Menschen andernorts aus.
Ganz Analoges gilt in zeitlicher Hinsicht. Was wir heute tun, hat Auswirkungen auf das Leben unserer Kinder und künftiger Generationen. Wenn unser Handeln die Lebensgrundlagen der Menschheit gefährdet oder zerstört, schränken wir Freiheiten und Grundrechte ein – zum Beispiel das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Deshalb ist unser heutiges Handeln auch im Horizont künftiger Freiheiten zu betrachten, der Freiheiten künftiger Generationen, aber auch schon der künftigen Freiheiten heute lebender Menschen.
In einem rechtlichen Sinne kann man zwar Menschen, die erst in der Zukunft geboren werden, noch keine Rechte zusprechen – denn die Rechtsfähigkeit beginnt mit der vollendeten Geburt (BGB §1). Für eine ethische Beurteilung ist das in diesem Zusammenhang aber auch gar nicht erforderlich. Denn schon die heutigen Neugeborenen haben eine Lebenserwartung, die über 2100 hinaus reicht und damit einen Zeithorizont umfasst, der wichtiger Referenzpunkt langfristiger Klimaszenarien ist. Zum Beispiel werden die im Zusammenhang mit dem Pariser Klimaabkommen abgegebenen nationalen Selbstverpflichtungen der Staaten bis dahin mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Klimaerwärmung von etwa drei Grad führen, wenn wir so weitermachen wie bisher, sogar zu vier Grad Erwärmung oder mehr gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter.
Schon heute, bei einer Erwärmung von etwa einem Grad, sehen wir in vielen Regionen der Erde erhebliche Veränderungen, schon heute treibt die Klimakrise viele Menschen in die Flucht. Es ist eine schaurige Vorstellung zu überlegen, welche Verwerfungen sich ergeben werden, wenn eine Erwärmung um drei oder vier Grad zu hunderten von Millionen Klimaflüchtlingen führen wird, die in den globalen Norden drängen, weil sie in ihrer Heimat keine Lebensgrundlage mehr haben. Das ist keine Schwarzmalerei, sondern nach besten wissenschaftlichen Erkenntnissen eine zwar künftige, aber sehr wahrscheinliche Bedrohung bereits heute lebender Menschen, deren Freiheiten wir damit massiv einschränken würden, wenn wir einfach weitermachten wie bisher.
Asymmetrische Solidarität
Angesichts dessen kann man sich bezüglich der gegenwärtigen Klima- und Nachhaltigkeitspolitik, aber auch bezüglich mancher öffentlicher Diskussionen nur verwundert die Augen reiben. Etwa wenn schon die Aufnahme von ein paar Dutzend minderjähriger Geflüchteter aus griechischen Flüchtlingslagern im Jahre 2020 in Deutschland gesellschaftliche Debatten provoziert. Unsere Klima- und Nachhaltigkeitspolitik grenzt deshalb entweder an Realitätsverweigerung oder ist der Jugend gegenüber in erheblichem Maße unsolidarisch – oder beides zugleich. Und weil viele junge Menschen das spüren, gehen sie für den Klimaschutz auf die Straße.
Es gibt also eine gravierende Asymmetrie zwischen der Solidarität, die wir angesichts der Corona-Krise den Jungen abverlangen, und der Solidarität, die wir angesichts der Klimakrise als Gesellschaft den Jungen gegenüber an den Tag legen. Für die Mittelalten und Älteren kommt erschwerend hinzu, dass wir ja am Zustandekommen der Klimakrise nicht unbeteiligt waren; denn es waren und sind ja unsere Entscheidungen, unsere Politik und unsere Unterlassungen, die zur Klimakrise beigetragen haben. Und zudem ist die Wahrscheinlichkeit, im Jahr 2100 ganz unbeschadet und ohne Freiheitseinbußen durch die Klimakrise zu kommen, wohl sehr viel geringer als diejenige, eine Corona-Infektion unbeschadet zu überstehen.
Die zahllosen Akte der Solidarität angesichts der Pandemie können unseren Blick schärfen für Situationen, in denen unsere Solidarität gefragt ist. Angesichts der Pandemie hat unsere Solidarität besonders den Alten und Kranken zu gelten. Angesichts der Bedrohungen durch das Überschreiten planetarer Belastungsgrenzen ist diese Solidarität vor allem mit den Jungen gefordert – und zwar schon jetzt und nicht erst „nach Corona“. Und angesichts der klaffenden Lücke zwischen Arm und Reich brauchen gerade die Schwachen und Benachteiligten unsere Solidarität, hier und weltweit.
Nur eine solidarische Welt kann eine gerechte und friedvolle Welt sein, sagte der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker einmal. Solidarität ist mit Aufwand, Mühen und auch mit Einschränkungen von Freiheit verbunden. Das widerspricht aber nicht dem Gedanken der Freiheit – erst dadurch wird es, im Gegenteil, möglich, Freiheit und Gerechtigkeit zu vereinen. Es ist ungerecht, vermeintliche Freiheiten auszuleben, wenn anderer Menschen Freiheiten dadurch beschränkt werden.
Um abzuwenden, dass die Menschheit planetare Grenzen überschreitet und die Generation unserer Kinder und Enkel massive Beeinträchtigungen ihrer Freiheiten erfahren muss, wird es einer Kombination von staatlicher Regulierung, marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und moralischer Verpflichtung bedürfen. Die Erfahrungen mit der sozialen Marktwirtschaft haben gezeigt, dass der gesellschaftliche Rahmen durchaus so gestaltet werden kann, dass Freiheit und Gerechtigkeit vereinbar werden. Dies gilt es, weiterzuentwickeln und konsequent um eine globale, ökologische und auf Zukunft ausgerichtete Perspektive zu ergänzen.
Wenn wir vermeiden wollen, dass unsere heutigen Kita-Kinder in ihrem Lebensabend Einschränkungen werden hinnehmen müssen, die mit denen der Corona-Krise vergleichbar sind, für die es allerdings keinen Impfstoff geben wird, dann gilt es, jetzt zu handeln. Es ist höchste Zeit für Solidarität.
Literatur:
Christian Berg: Ist Nachhaltigkeit utopisch? Wie wir Barrieren überwinden und zukunftsfähig handeln. Oekom-Verlag, München 2020, 458 Seiten, Euro 32,–.
Christian Berg
Christian Berg ist Professor für Nachhaltigkeit an der TU Clausthal.