Anfrage an die Gesellschaft
Jeder Suizid ist in seiner Widersprüchlichkeit eine Tragödie, die eine Gesellschaft in Frage stellt. Das Bundesverfassungsgericht feiert stattdessen den Suizid undialektisch als einen Akt der „Entfaltung der Persönlichkeit“, kritisiert Rolf Schieder, Johann-Gottfried-Herder-Gastprofessor an der International Studies University Shanghai und Vice Director am Berlin Institute for Public Theology Humboldt-Universität zu Berlin.
"Deaths of Despair and the Future of Capitalism“, so lautet der Titel der Studie, die die Ökonomen Anne Case und Angus Deaton zu Beginn dieses Jahres bei der Princeton University Press veröffentlicht haben. Die Autoren zeigen, dass die Suizidrate bei Arbeitern ohne einen College-Abschluss in den USA in den vergangenen dreißig Jahren um 25 Prozent gestiegen ist – die Suizidrate bei Amerikanern mit einem Hochschulabschluss blieb nahezu gleich.
Die Autoren machen für dieses Scheitern des amerikanischen Traumes für ungelernte Arbeiter ein kapitalistisches System verantwortlich, das kaum soziale Sicherungen und keine flächendeckende Gesundheitsvorsorge kennt. So sind die Lebensumstände von ungelernten Arbeitern oft zum Verzweifeln und dementsprechend hoch ist die Suizidrate, aber auch der Missbrauch von Alkohol, Medikamenten und Drogen.
Die Intuition, dass die Suizidwilligkeit eines Individuums von seiner ökonomischen und sozialen Lage abhängt, hatte bereits der französische Soziologe Émile Durkheim (1858–1917). Er sah den Suizid nicht als ein individuelles Phänomen, sondern als ein soziales, dessen Verbreitung Aufschluss über den Zustand einer Gesellschaft gebe. Durkheim unterschied zwischen einem egoistischen, einem altruistischen und einem anomischen Suizid. Letzteren hielt Durkheim für besonders bedenklich, weil er auf eine moralische Krise einer Gesellschaft hinweise, die nicht mehr imstande sei, verzweifelten Menschen Halt, Orientierung und eine lebenswerte Zukunft zu versprechen.
Suizid, so die selbstverständliche Annahme des Soziologen Durkheim und der Ökonomen Case and Deaton, ist ein Akt der Verzweiflung. Einen Suizid lediglich als höchstpersönliche individuelle Wahl jeden Bürgers zu verstehen, hielten sie für eine unverantwortliche Verkürzung. Jeder Suizid ist in seiner Widersprüchlichkeit eine Tragödie, die eine Gesellschaft in Frage stellt.
Ethisches Dilemma
Der Widerspruch besteht darin, dass der Suizidwillige von seinem Recht auf freie Selbstentfaltung so Gebrauch macht, dass er diese damit zugleich vernichtet. Dieses ethische Dilemma empfindet nicht nur der Suizidwillige, dieses Dilemma empfindet ein subjektivitätssensibles Gemeinwesen gleichermaßen. War der Suizid wirklich unvermeidlich? Wurde wirklich alles getan? Wie kann die Zahl solcher Verzweiflungstaten minimiert werden?
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verweigert sich einer solchen Betrachtungsweise und feiert stattdessen den Suizid undialektisch als einen Akt der „Entfaltung der Persönlichkeit“, die in Artikel 2 Absatz 1 garantiert werde, sowie als „wenngleich letzte(n) Ausdruck von Würde“. Die Richter betonen nicht nur „das Recht auf selbstbestimmtes Sterben als Ausdruck personaler Freiheit“, sondern wollen auch das Recht garantiert sehen, „bei der Umsetzung der Selbsttötung auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen“. Die Richter „verwurzeln“ mit ihrem Urteil das Recht auf Selbsttötung in der Menschenwürdegarantie: „Die Verwurzelung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in der Menschenwürdegarantie des Artikels 1 Absatz 1 Grundgesetz impliziert gerade, dass die eigenverantwortliche Entscheidung über das eigene Lebensende keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung bedarf.“ Der Begriff „Verwurzelung“ suggeriert eine naturhafte Unmittelbarkeit und eine unhinterfragbare Selbstverständlichkeit einer in dieser Eindimensionalität neuartigen und unbefangene Leser verblüffenden Bestimmung.
Irritierend an diesem Urteil ist der ganz und gar abstrakte Begriff individueller Freiheit und Selbstbestimmung. Jeder Mensch habe die Freiheit, sich einer „Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Tod und Leben oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit“ zu entziehen. Was für ein Freiheitsverständnis liegt dieser Bestimmung zugrunde? Es ist die freie Willkür eines Menschen, der sich der Kommunikation mit seinen Mitmenschen entzieht.
Selbstverständlich schließen die Freiheitsgarantien des Grundgesetzes auch das Recht auf willkürliches Handeln mit ein. Es ist aber der abstrakte Wille des bourgeois, dessen einziges Interesse darin besteht, seine privaten Interessen gewahrt zu sehen. Ein citoyen wäre sich seiner sozialen Rolle und der Zumutung, sein Handeln anderen plausibel zu machen, sehr wohl bewusst und würde sich der Begründung seines Handelns gerade nicht entziehen wollen. Und umgekehrt käme es unterlassener Hilfeleistung gleich, wenn wir einen verzweifelten Suizidwilligen nicht danach fragten, ob er sich nicht auch andere Wege aus der Krise vorstellen könne.
Vermittelte Freiheit
Hegel unterscheidet in seiner Rechtsphilosophie zwischen dem abstrakten Willen und dem konkreten sittlichen Willen des freien Subjektes. Einem sittlichen Staat, so Hegel, muss daran gelegen sein, dass der Bürger von der Wahrnehmung seiner abstrakten Willkürfreiheit zur vermittelten, mithin begründeten Freiheit fortschreitet. Und in der Tat sind in der Bundesrepublik Deutschland die Bildungsbemühungen des Staates darauf gerichtet, diese abstrakte Willkürfreiheit in eine das Gemeinwesen fördernde und erhaltende, verantwortliche und damit rechtfertigungsfähige Realisierung der individuellen Freiheit zu transformieren.
Würde man bei den abstrakten Bestimmungen des BVerfG stehen bleiben, dann gäbe es keine guten Gründe mehr, den Gebrauch von Drogen unter Strafe zu stellen. Denn auch der Drogenkonsum wäre demnach durch den „Gewährleistungsgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ umfasst.
Und selbst der Drogenhändler könnte für sich den folgenden Satz aus dem Urteil in Anspruch nehmen: „Das Grundgesetz gewährleistet die Entfaltung der Persönlichkeit im Austausch mit Dritten, die ihrerseits in Freiheit handeln.“ Doch bereits ein Blick auf den ganzen Wortlaut von Artikel 2 Absatz 1 lässt Zweifel aufkommen. Dort heißt es: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
Das Sittengesetz mutet jedem Bürger zu, verantwortlich zu handeln. Die Richter machen demgegenüber das Selbstbestimmungsrecht des Individuums stark. Das Grundgesetz schütze „die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird“. Die Verfassungsordnung begreife „den Menschen als eine zur Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähige Persönlichkeit“.
Aber es wäre doch ein absurder Begriff von Eigenverantwortung, wenn man darunter eine Selbstbestimmung verstünde, die nicht mehr imstande ist, sich mit den Wertvorstellungen und allgemeinen Vernunftgründen zu vermitteln und darüber Auskunft zu geben. Eigenverantwortung heißt auch nicht, dass das Individuum in seinen Gewissens-entscheidungen alle allgemeinen Erwägungen als unzulässige „gesellschaftliche Pression“ willkürlich zurückweisen darf. Eigenverantwortung heißt im Gegenteil, dass das Individuum vor seinem „inneren Gerichtshof“ alle relevanten Fragen, die seine beabsichtigte Entscheidung aufwerfen, zu seiner Zufriedenheit beantworten kann.
Auch Selbstbestimmung ist kein Synonym für Willkür, sondern jene Fähigkeit, zu sich selbst in eine reflektierte Beziehung zu treten. Wer sich selbst bestimmt, der tritt zu sich selbst in ein objektivierendes Verhältnis. Er macht sich selbst zum Gegenstand des Nachdenkens und schreitet gerade so von der Willkür zur Selbstverantwortung voran.
Neoliberaler Geist
Die anfängliche Proklamation abstrakter Freiheit, die vor Begründungs- und Rechtfertigungspflichten höchstrichterlich zu schützen sei, kann freilich von den Richtern im Fortgang der Begründung nicht durchgehalten werden. Der Staat habe durchaus das Recht, solchen Selbsttötungen entgegenzuwirken, „die nicht von freier Selbstbestimmung und Eigenverantwortung getragen sind“. Wie soll der Gesetzgeber dies aber beurteilen, wenn ihm in den Passagen zuvor das Recht abgesprochen wird, sich darüber ein Urteil zu bilden? Auch erkennt das Gericht später an, „dass der Freiheitsanspruch nicht losgelöst von der tatsächlichen Möglichkeit zur freien Willensentscheidung beurteilt werden kann“. Dieser konkrete Freiheitsbegriff steht aber in einem unaufgelösten Widerspruch zur vorher proklamierten abstrakten Freiheit.
Möglicherweise besteht ja das Problem dieses Urteils schlicht darin, dass es die „personale Freiheit“ des Suizidwilligen und die Pflicht des Staates, „das hohe Rechtsgut Leben zu schützen“ als kollidierend auffasst. Wäre es dem Verständnis von einem sittlichen Staat nicht angemessener, sowohl den Staat als auch das Individuum als gemeinsam an der Realisierung der Freiheit des Individuums Interessierte zu bestimmen? Dann müsste es aber Staat und Gesellschaft erlaubt sein, so über die Aporien des Suizids und dessen soziale und ökonomische Bedingungen zu deliberieren, dass allen Beteiligten die Komplexität des Problems vor Augen steht.
Mit dem neoliberalen Gestus, dass man schließlich ein Recht habe, sich gegen staatlichen „Paternalismus“ zu wehren, wird man dem Problem nicht gerecht – auch wenn eben dieser Gestus immer noch breiten Beifall in der Bevölkerung zu generieren vermag.
Die fast mystifizierende, in Wirklichkeit aber eindimensionale Bestimmung des Suizids als „Ausdruck personaler Freiheit“ wird der verzweifelten Lage eines suizidwilligen Menschen nicht gerecht. Ihm ist sehr wohl bewusst, dass ein Suizid nicht der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit dient, sondern deren Vernichtung bedeutet. Das kann angesichts der Notlage, in der sich der Suizidwillige befindet, durchaus der beste aller möglichen Schritte sein. Man möge aber die konkrete Lage, in der sich der Mensch vor dem Suizid befindet, ernst nehmen und sie nicht per Gerichtsbeschluss als Realisierung selbstbestimmter Freiheit feiern, die sich aller Beurteilung entziehe.
Mit dieser Tabuisierung einer vernunftgeleiteten Diskussion der Gründe für einen Suizid nimmt das Gericht nicht nur dem Gesetzgeber, sondern auch der Gesellschaft die Möglichkeit, nicht nur die Zwänge individuellen Leidens, sondern auch die Zwänge, die wirtschaftliche und soziale Lagen erzeugen, anzuerkennen und gegebenenfalls darauf zu reagieren. Hält man das Buch Deaths of Despair and the Future of Capitalism in der einen Hand und das Urteil des BVerfG in der anderen, dann hat man den Eindruck, dass in Karlsruhe ein neoliberaler Geist am Werke war, während die Wissenschaftler aus Princeton die Gefahren des Neoliberalismus nicht nur für das Klima, sondern auch für die konkrete Freiheit des Individuums im Blick haben.
Rolf Schieder
Rolf Schieder ist Professor für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.