„Gott zieht in die Nachbarschaft“

Wie man Leute erreicht, die der Kirche fern sind – eine neue Initiative aus England
Ein Fresh X-Projekt: das Stadtteilgebet in Minden.
Foto: Sabine Meyer
Ein Fresh X-Projekt: das Stadtteilgebet in Minden.

In Deutschland bilden sich immer mehr christliche Initiativen, die Menschen erreichen wollen, denen Glaube und Kirche fremd sind. Das Konzept dafür heißt „Fresh X“ und stammt ursprünglich aus England. Eine Reportage des Journalisten Thomas Krüger.

Alle haben etwas für das gemeinsame Essen mitgebacht: Brot, Wurst, Käse, Frikadellen, Salatzutaten, in der Küche wird eine Suppe warmgemacht. Das kulinarische Angebot ist so bunt zusammengewürfelt wie die Tischgemeinschaft in der „SimeonsHerberge“ im ostwestfälischen Minden: Das Geschwisterpaar aus Syrien ist da, ein Fotograf aus der Nachbarschaft, die Frau aus Nigeria mit ihren drei Kindern, das junge Arzt-Ehepaar, der evangelische Jugendleiter.

15 Gäste kann Jonathan Löchelt heute zum „FeierAbend“ begrüßen, zu dem er mit seiner Familie jeden Mittwoch in das ehemalige Pfarrhaus in der oberen Altstadt einlädt. Das Tischgebet wird gerappt: „Für dich und für mich ist der Tisch gedeckt. Wir danken Dir, dass es uns gut schmeckt. Dank sei Dir!“

„Das ist ein bunter Stadtteil, bevölkert von ganz unterschiedlichen sozialen Schichten“, berichtet Löchelt, der seit Januar 2019 die SimeonsHerberge leitet. Das neben der mittelalterlichen St. Simeonis-Kirche gelegene 120 Jahre alte Haus ist – wie der Name signalisiert – auch ein Ort für Übernachtungen, aber zugleich Treffpunkt für Menschen aus dem Viertel und ein Experimentierfeld für neue Formen von Kirche.

Projekte wie die SimeonsHerberge haben sich bundesweit zu einem Netzwerk zusammengeschlossen: „Fresh X“. Die Idee der „Fresh Expressions of Church“ (frei übersetzt: neue Ausdrucksformen von Gemeinde) stammt aus England, wo seit 2004 über dreitausend solcher Initiativen entstanden sind. Damit reagierten die anglikanische und die methodistische Kirche auf den Traditionsabbruch seit den 1990er-Jahren. Nach dem Selbstverständnis des deutschen „Netzwerks Fresh X“ geht es darum, Formen von Gemeinde vor allem für Menschen zu entwickeln, „die noch keinen Bezug zu Kirche und Gemeinde haben“.

Die traditionellen Kirchen hätten häufig eine „Komm-Struktur“ entwickelt, machten Angebote und hofften dann auf Zulauf, erklärt Katharina Haubold, Projektreferentin an der CVJM-Hochschule in Kassel. „Fresh X-Initiativen fragen zuerst nach den aktuellen Bedürfnissen der Menschen und entwickeln sich dann mit ihnen gemeinsam“, so Haubold. Den bestehenden Ortsgemeinden wolle man keine Konkurrenz machen: „Es geht um ein Miteinander von bewährter und neuer Gemeindearbeit“, betont die CVJM-Referentin, die eine Aus- und Weiterbildung für „Fresh X-Pioniere“ leitet – Menschen, die neue Formen von Kirche entwickeln wollen.

Vor knapp zehn Jahren wanderte das Konzept über eine „Gemeinde 2.0“-Konferenz in Württemberg nach Deutschland ein und findet immer weitere Verbreitung. Hierzulande gibt es nach Schätzung von Haubold inzwischen bis zu 150 solcher Reform-Initiativen. „Missional, kontextuell, lebensverändernd und gemeindebildend“: Mit diesen Schlagworten beschreibt das Netzwerk Merkmale einer Fresh X-Initiative. Dabei reicht die Bandbreite von der Stadtteilarbeit „raumzeit“ in Neubauvierteln wie in Stade über Café-Initiativen wie „Bohnenheld“ in St. Georgen bis zu sportlichen Interessen wie in der Kletterhalle „h3“ im württembergischen Metzingen oder Tischgemeinschaften wie beim „bistro connected“ in Siegen.

Unaufdringlich ermutigen

Christen, die Fresh X-Initiativen ins Leben rufen, wollen den Glauben über ihren Lebensstil ins Gespräch bringen, sagt Andreas Isenburg vom Institut für Gemeindeentwicklung und missionarische Dienste der Evangelischen Kirche von Westfalen: „Es geht um die Frage: Wie kann man Menschen unaufdringlich ermutigen, einen eigenen Zugang zum christlichen Glauben zu entdecken?“ Katharina Haubold vom CVJM bringt es auf die Formel „Gott zieht in die Nachbarschaft“.

Eine der Fresh X-Pionierinnen, die die Ausbildung in Kassel durchlaufen hat, ist Janette Zimmermann aus Springe. Vor zwei Jahren schuf der Kirchenkreis Laatzen-Springe eine halbe Stelle für ein Projekt mit dem sperrigen Namen „Glaube durch Partizipation“. Der Auftrag lautete, mit Menschen zwischen 25 und 45 ins Gespräch zu kommen, die zwar an kirchlichen Themen interessiert, aber in der Ortsgemeinde nicht beheimatet sind.

Am Anfang versuchte Zimmermann zu erfahren, was Leute aus ihrer Zielgruppe bewegt: „Das ist der kontextuelle Schwerpunkt von Fresh X: zuhören, hinspüren, nicht mit fertigen Plänen kommen oder aus Aktionismus irgendwas machen“, sagt die Mutter zweier Kinder. Sie setzte sich auf den Marktplatz, ging durchs Neubauviertel und führte viele Gespräche. Dabei kam ihr zugute, dass sie selbst Teil der Generation ist, um die es geht.

Zwei Themen vor allem brannten den jungen Familien in Springe unter den Nägeln: Es gibt zu wenig Kindergartenplätze – und kaum Orte, an denen sich Eltern mit ihren Kindern zwanglos treffen können. Daraus entstand die Idee eines „pop-up-cafés“: Zum ersten Mal in der Adventszeit 2018 verwandelte Zimmermann mit einem Kreis von Ehrenamtlichen ein leerstehendes Ladenlokal für zwei Wochen in das Familiencafé „Kleine Pause“ – mit großem Spielbereich für die Jüngsten, Kaffee und Keksen für die Mütter und Väter.

Weil die Idee so gut ankam, erlebte das Gratis-Café im Sommer auf einem Sportplatz und dann Ende 2019 in einer ehemaligen Sparkassen-Filiale weitere Auflagen. Vor Weihnachten kamen täglich rund einhundert Besucher, schildert die Diakonin, an den Nachmittagen wurde es fast schon zu eng. Den offenen Treff ergänzten besondere Angebote: Der Bürgermeister las Geschichten vor, die städtische Energieberatung war da, und gemeinsam mit einer Pädagogin vom Biobauernhof stellten Eltern und Kinder Vogelfutter her.

Zugleich wurde Diakonin Zimmermann zu einer „religiösen Kontaktfläche“ für die Gäste: „Die Leute fragen nach religiösen Kinderbüchern oder wie man sein Baby taufen lassen kann.“ Manchmal war sie auch als Seelsorgerin gefragt, sprach mit Menschen über Ängste oder Verluste. Den missionalen Ansatz im Konzept von Fresh X definiert sie für sich so: „Ich stelle meinen Glauben zur Verfügung, habe aber nicht die Verantwortung, dass Menschen zum Glauben kommen oder gar Mitglieder der Gemeinde werden.“

Dass die Diakonin damit Menschen erreicht, bestätigt die junge Mutter Vanessa: „Kirche spielte in unserem Leben bisher gar keine Rolle. Die verbindet man eher mit alten Leuten.“ Weil sie aber die Idee mit der „Kleinen Pause“ gut fand, half sie mit. Letztes Jahr war sie mit ihrem kleinen Sohn erstmals im „Klitzekleinen Gottesdienst“ am Heiligen Abend: „Das war ganz toll.“

In Siegen findet sich ein anderes Ladenlokal, ein anderer Ansatz: „frei:RAUM“ heißt der Veranstaltungsort für Kunst, Kultur und christliche Spiritualität. Mitgründerin Ingeborg Otterbach legt Wert auf die finanzielle und strukturelle Unabhängigkeit von Kirchen und anderen Sponsoren: „Wir sind bewusst autark und unabhängig“, sagt die gelernte Buchhändlerin, die dem Vorstand des Trägervereins angehört. Anders als viele andere Fresh X-Initiativen arbeitet frei:RAUM ausschließlich mit Ehrenamtlichen. Der Verein bringt Lesungen, Workshops, Ausstellungen oder Flohmärkte an den Start – „je nachdem, was Bürgerinnen und Bürger anbieten und umsetzen wollen“, so Otterbach. Freie Theater proben hier, und auch Poetry Slam hat im frei:RAUM eine Bühne.

Ohne Denkverbote

frei:RAUM steht laut Otterbach zugleich für inneren Freiraum: In theologischen Formaten wie „Forum Glauben & Denken“ oder „Wortwechsel“ werden Glaubensfragen „ohne Denk- und Redeverbote“ zur Diskussion gestellt. Glaubende und nichtglaubende Menschen nehmen teil. „Manche haben gebrochen mit der Kirche oder ihrer Gemeinde, andere sind skeptisch“, so die Mitgründerin des Vereins. Viele Vorurteile und Hemmnisse hätten durch persönliche Kontakte schon abgebaut werden können. Wer den frei:RAUM besucht, sei oft gesellschaftlich oder auch politisch aktiv. In dem Lokal an der Siegener Löhrstraße treffen sich verstärkt Menschen aus der öko-sozialen Bewegung.

„Was Fresh X will, passiert hier auch“, sagt Otterbach, nämlich mit Menschen ins Gespräch über den Glauben kommen, die von traditionellen Gemeinde-Angeboten nicht erreicht werden. frei:RAUM sei nicht „im landläufigen Sinne missional“, man wolle auch keine Gemeinde gründen. Doch auch hier sind überzeugte Christinnen und Christen am Werk, betont sie, die Arbeit werde vom Vorstand „im Gebet getragen“. Und: „Das Reich Gottes wird auch gebaut, indem wir Menschen Gutes tun.“

Der frei:RAUM legt Wert auf seine Unabhängigkeit, hat aber laut Otterbach gute Kontakte zum Kirchenkreis Siegen wie auch zu einigen der in der Region weit verbreiteten freikirchlichen Gemeinden. Die Kreissynode hat vergangenes Jahr einen Fonds aufgelegt, aus dem „innovative, missionarische und diakonische Angebote“ von Gemeinden, kirchlichen Einrichtungen und freien Initiativen gefördert werden sollen. Die Grundidee sei von der Fresh X-Bewegung inspiriert, erklärt Pfarrer Jochen Wahl, der das Auswahlgremium für den mit 300 000 Euro bestückten Fonds leitet.

Zweimal reiste Wahl nach England und lernte dort auch Fresh X-Initiativen in ländlichen Regionen kennen – in Deutschland sind diese zumeist in mittleren und größeren Städten angesiedelt. „Wie können wir Christen auch dienend für unsere Dörfer da sein?“, fragt Wahl. Bewusst habe der Kirchenkreis dem Fonds aber nicht das Etikett „Fresh X“ aufgeklebt, ausdrücklich gehe es auch um Vorhaben mit diakonischem Akzent. Innovativ heiße nicht, dass ein Projekt etwas „komplett Neues“ sein müsse, sondern dass es bisher in der Region nicht vorhanden sei, so der Pfarrer aus Burbach. Das könne auch ein Dorfladen oder ein „Worship Café“ sein – Kirche müsse „rausgehen aus ihren Gebäuden“, um neue Leute zu erreichen.

In den Landeskirchen wird mehr und mehr die Notwendigkeit erkannt, Menschen auf neue Art den Glauben nahezubringen. So werden in Mitteldeutschland bereits seit 2015 „Erprobungsräume“ gefördert, die neue Formen von Kirche im säkularen Raum austesten. Die hannoversche Landeskirche hat den Fonds „Missionarische Chancen“ aufgelegt, der auch Fresh X-Projekte fördert. Die westfälische Kirche brachte den Fonds „Teamgeist“ an den Start und definiert ihn als „kreativen Weg hin zu neuen Gemeinschaften, welche die Ortsgemeinde als kirchliche Orte der Zukunft ergänzen“.

Paten gesucht

Auf Unterstützung durch „Teamgeist“ hofft auch die SimeonsHerberge in Minden. Die Anschubfinanzierung der Stelle von Jonathan und Kerstin Löchelt durch den Hamburger Verein „Andere Zeiten“ läuft Ende 2020 nämlich aus. Der Trägerkreis der Herberge wirbt schon jetzt um Paten, die monatlich einhundert Euro spenden können. Löchelt ist froh, dass er sich nicht selbst um das Fundraising kümmern muss. Er will in diesem Jahr den spirituellen Charakter der Herberge stärker profilieren. Verschiedene, wechselnde Gottesdienst-Formate schweben ihm vor: Der Prediger auf dem „heißen Stuhl“, Sing-Gottesdienste oder Biografie-Gottesdienste, in denen Persönlichkeiten aus der Stadt interviewt werden.

Nach dem gemeinsamen Feierabend in der Herberge gehen einige Teilnehmer die wenigen Schritte hinüber in die St. Simeonis-Kirche zum wöchentlichen Stadtteilgebet: Ein Stuhlkreis um ein Kreuz herum, Lichter werden angezündet, Lieder zur Gitarre. Die Runde betet für die katholischen Schwestern, die nebenan die Wärmestube für Obdachlose betreiben. Für die Zusammenarbeit der in der oberen Altstadt ansässigen Initiativen. Und für die afrikanische Familie, die heute zum ersten Mal im Treffpunkt war.

Information

Unser Autor hat die erwähnten Initiativen von Januar bis März besucht, bevor diese infolge der Corona-Krise einstweilen ihre Aktivitäten einstellen mussten. Bei Redaktionsschluss war unklar, wann der Betrieb wieder starten würde.

Fresh X-Netzwerk: www.freshexpressions.de

SimeonsHerberge: www.simeons-herberge.de

frei:Raum: www.frei-doppelpunkt-raum.de

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