Younger than ever
Vergangene Woche tagte die Hauptversammlung des Reformierten Bundes. Diesmal standen Neuwahlen in den Vorstand (Moderamen) an, und thematisch ging es um „Reformierte Existenz heute“. Eindrücke von einem harmonischen, aber dabei vielfältig-interessanten Treffen am Gendarmenmarkt in Berlin.
Irgendwann ist immer das erste Mal. Jetzt war es soweit: Die 75. Hauptversammlung des Reformierten Bundes (RB), dessen erste 1885 in Elberfeld (heute Wuppertal) stattfand, tagte in der vergangenen Woche in der Berliner Friedrichstadtkirche im Französischen Dom am Gendarmenmarkt. Erstmals, wie Jürgen Kaiser in seiner Morgenandacht am vergangenen Sonnabend vermerkte. Dann wurde der gastgebende Pastor Loci ernst: Er erinnerte an den verheerenden Bombenangriff am 24. Mai 1944 auf Berlin, den 200.(!) des Zweiten Weltkriegs, bei dem der Gendarmenmarkt schlimm getroffen wurde, und Kaiser präsentierte der andächtigen Hauptversammlung ein spektakuläres Foto: Es zeigt den brennenden Turm des Französischen bei einem Bombenangriff auf Berlin (siehe unten). Kaiser: „Was da im freien Fall 70 Meter in die Tiefe stürzte, war Gott sei Dank kein lebender Mensch, sondern eine tote Frau. Die triumphierende Religion, eine Goldene Dame mit Palmwedel, die Daniel Chodowiecki, Bildhauer, Kupferstecher, Gemeindemitglied, für den Französischen Dom entworfen hatte.“ Sie thronte dort seit 1785 und schmückt heute längst wieder goldglänzend das Gebäude.
Doch rückblickend auf die NS- und Kriegszeit sagte Kaiser: „Fest steht, dass die Religion nicht erst 1944 starb, als sie vom Himmel über Berlin fiel, sondern mindestens zehn Jahre schon ganz oder wenigstens halbtot war“, um dann eine gekonnte reformierte Kurve zu nehmen: „Und als 1938 ein Schweizer Theologieprofessor schrieb, Religion sei Unglaube, kam mancher Pfarrer auf den Gendarmenmarkt mit seiner Kamera, um einen spektakulären Schnappschuss zu machen, doch vergeblich. Sie stürzte nicht, sie hielt sich.“ Bis zu jenem Maitag 1944 eben, dann brachten Bomben sie zu Fall. Kaiser: „Was will uns das sagen? – Besser nix, oder! Denn wenn nur Bomben theologische Realitäten zu schaffen vermögen und nicht der Geist Gottes, dann können wir jetzt Schluss machen und nach Hause fahren. Aber wir machen weiter!“
Französischer Dom Berlin am 24. Mai 1944: Herabstürzende Statue nach US-Luftangriff.
Als Jürgen Kaiser über die Religion sinnierte, hatte die Hauptversammlung, zu der sich etwa 150 Mitglieder des Reformierten Bundes in Berlin versammelt hatten, bereits einen halben Tag hinter sich. „Was bedeutet Reformierte Identität? Was unterscheidet sie? Und wie wird sie im Gemeindealltag sichtbar?“, lautete das Thema, dem sich die Mitglieder neben den notwendigen Amtsgeschäften widmen wollten. Den thematischen Auftakt lieferte Setri Nyomi, der langjährige Vorsitzende des Reformierten Weltbundes (seit 2014: Reformierte Weltgemeinschaft) und seit Herbst erneut Interimsvorsitzende, aus den Weiten der Ökumene.
Zum Thema Identität sagte der 69-Jährige: „Wir zögern nicht mit der Behauptung, dass wir uns als Reformierte immer reformieren. Unter dem Einfluss der verschiedenen Zeitalter und Epochen sowie der kulturellen Kontexte und existenziellen Herausforderungen, in denen wir uns befinden, sind wir eine Familie von Kirchen und werden dennoch nicht immer die Dinge auf dieselbe Weise tun wie unsere Vorfahren im 16. Jahrhundert.“ Das heiße: „Die reformierte Kirche in Hannover wird sich nicht immer so verstehen wie die reformierten Kirchen in Vanuatu oder in Angola, Ghana oder in Buenos Aires, Argentinien.“
Klar sei aber auch: „Wenn wir (…) in der Sprache von Solus Christus, Sola Scriptura, Sola Fide, Sola Gratia und Solus Deo Gloria über das sprechen, was uns am Herzen liegt, haben wir darauf kein Monopol. Wir teilen sie mit unseren lutherischen Schwestern und Brüdern und einigen anderen Mitgliedern der reformatorischen Familie.“ Und daraus folge: „Reformiert zu sein bedeutet, ökumenisch zu sein".
„Tödliche Macht des Imperiums“
Auch erinnerte Nyomi, der bis zur kommenden Vollversammlung im Herbst 2025 in Thailand das Leitungsamt an der Spitze der Reformierten Weltgemeinschaft versehen wird, an die Erklärung von Accra im Jahre 2004, die er als Generalsekretär wesentlich mitgeprägt hat. In ihr wurde die spezifisch reformierte Deutung des Begriffs „Das Imperium“ vorgenommen. Nyomi: „Die zunehmenden negativen Auswirkungen der tödlichen Macht des Imperiums, des Zusammenwirkens militärischer, politischer und wirtschaftlicher Mächte, haben die Welt in ein wirtschaftliches und finanzielles Gefüge gebracht, in dem das Leben von Millionen Menschen gefährdet ist und unser lieber Planet Erde zu implodieren droht.“ Dies, so Nyomi, habe den damaligen Reformierten Weltbund veranlasst, das Bekenntnis von Accra auszuarbeiten.
In der anschließenden Aussprache wurde der Vortragende gefragt, inwieweit sich sein Begriff von „Imperium“ in den zwanzig Jahren seit der Erklärung von Accra, jener „Glaubensverpflichtung“ aus dem Jahre 2004, gewandelt oder erweitert habe. Ohne auf konkrete politische Entwicklungen einzugehen, sagte er dazu nur, ohne konkreter zu werden, dass zum einen auch Gefährdungen durch religiöse Fehlentwicklungen hinzugekommen seien und zum anderen der Druck jenes Imperiums immer stärker, immer schlimmer geworden sei. Hier wären Konkretionen hilfreich gewesen, besonders angesichts der Tatsache, dass sich das Moderamen des Reformierten Bund sowie die Lippische und Reformierte Landeskirche Anfang November von einer recht einseitigen Erklärung der Reformierten Weltgemeinschaft zu den Geschehnissen nach dem 7. Oktober 2023, dem Überfall der Hamas auf Israel, distanzieren mussten, in der lediglich von „jüngsten Feindseligkeiten zwischen Israel und Palästina“ die Rede gewesen war, aber die Verbrechen der Hamas am 7. Oktober und die Verschleppung der Geiseln verschwiegen worden war.
Setri Nyomi, Interims-Generalsekretär der Reformierten Weltgemeinschaft, bei seinem Vortrag in Berlin auf der Hauptversammlung des Reformierten Bundes in Berlin am 25. April 2024.
Tags drauf wurde die Frage der Identität dann konkret: Menschen aus fünf internationalen und fremdsprachigen reformierten Gemeinden aus Berlin lieferten kurze Impulse, mit denen dann in dreiviertelstündigen Murmelgruppen weitergearbeitet wurde. Am eindrücklichsten blieb die niederländische Gemeinde im Gedächtnis, deren Pastorin Rinske Dijkman-Kuhn die große Differenzierungs- und Divisionslust der niederländischen Reformierten so charakterisierte: „Wenn Sie 14 beliebige Menschen in einer beliebigen Stadt in den Niederlanden nach ihrer reformierten Identität befragen würden, würden Sie wahrscheinlich 14 ganz unterschiedliche Antworten erhalten. Nicht nur, weil es sich um 14 unterschiedliche Menschen handelt, sondern weil es in den Niederlanden nicht weniger als 14 unterschiedliche reformierte Kirchen (…) gibt.“! Und zwar von „äußerst konservativ bis zu ausgeprägt liberal“. Schließlich gebe es das Sprichwort: „Ein Niederländer: ein Glaube; zwei Niederländer: eine Kirche; drei Niederländer: eine Kirchentrennung“. Oder anders gesagt: Die Niederlanden haben es noch nicht geschafft, Fußballweltmeister zu werden. Aber Weltmeister in Kirchentrennungen sind sie. Bis auf den heutigen Tag.“
Interessant erschien auch die Sitte, die anscheinend in manchen niederländischen Gemeinde praktiziert wird und in die Rinske Dijkman-Kuhn abschließend so einführte: „Die reformierten Gottesdienste in den Niederlanden kommen nicht ohne Pfefferminz aus. Am Anfang der Predigt geht in den Sitzreihen der Kirche immer eine Rolle dieses erfrischenden Krautes herum. Damit man nicht einschläft. Damit man im Glauben frisch bleibt. Und damit man die Welt erfrischen kann ...“ Sprach‘s und begann emsig Pfefferminzrollen im weiten Rund der Hauptversammlung zu verteilen. Allgemeines, dankbares Gelächter mischte sich in den Applaus und bei manchen der Gedanke: „So oft spalten müssen wir uns vielleicht nicht, aber Pfefferminz bei der Predigt könnte durchaus manchmal helfen.“
Applaus für die Vertretungen der vier fremdsprachigen, internationalen Gemeinde. Pastorin Rinske Dijkman-Kuhn empfahl „Pfefferminz bei der Predigt“ (3.vr.)
Neben den interessanten inhaltlich-theologischen Erwägungen und dem Begegnungscharakter müssen auf den Hauptversammlungen natürlich auch Wahlen abgehalten werden. Dem Vorstand des Reformierten Bundes, der offiziell Moderamen heißt, besteht insgesamt aus 24 Personen, wobei das erste Dutzend von der Hauptversammlung gewählt wird und das weitere Dutzend setzt sich aus neun Mitgliedern zusammen, die von den Mitgliedskirchen des Reformierten Bundes berufen werden – für jede Mitgliedskirche einen, und drei weiteren Mitgliedern, die vom Moderamen selbst berufen werden. Die Hauptversammlung wählt alle vier Jahre immer ein halbes Dutzend der Mitglieder für acht Jahre. So kommt es nie zu einem Tabula rasa, sondern es besteht die Chance, eine gewisse Balance von Kontinuität und Neubeginn zu wahren.
Bei den Wahlen am Freitagabend in der Berliner Friedrichstadtkirche wählte die Hauptversammlung dann mit Selma Dorn, Ester Holtschulte, Judith Kaiser und Aylin Sayin gleich vier junge Frauen in den Vorstand, dazu zwei gereiftere Herren, nämlich Fidele Mushidi und auch Bernd Becker, der seit 2022 Vorsitzender des Moderamens ist, der sich aber nach acht Jahren Mitgliedschaft im Moderamen zur Wiederwahl stellen musste. Der Pfarrer und Direktor des Evangelischen Medienhauses in Bielefeld erzielte mit 122 Stimmen das mit Abstand beste Ergebnis und wurde danach mit nochmal vier Stimmen mehr erneut zum Moderator gewählt. Bei den Wahlen gab es also diesmal, anders als in manch vergangenen Jahren, keinerlei Aufregung. Kann ja auch mal ganz schön sein … Auf jeden Fall darf sich das Moderamen nach der Wahl mit dem Gütesiegel „Younger than ever“ schmücken, denn um eine solche Altersstruktur dürften manche kirchliche Leitungsgremien den Reformierten Bund beneiden
„Größere Erbschaft? – wir sind nicht unempfänglich.“
Die Vorstellung des Haushaltes und der Bilanzen gehören bei Vereinen häufig zu den eher drögen Unternehmungen. Nicht so beim Reformierten Bund, wenn Moderamensmitglied Michael Vothknecht, im Hauptberuf Mitglied der Geschäftsführung des kirchlichen Versicherers ecclesia, bei der Präsentation der Zahlen regelmäßig unbestechliche Präzision mit feinem Humor und zuweilen mit interessant-amüsanten historischen Exkursionen paart. Seine wichtigste Nachricht aber: Der Reformierte Bund steht im Moment finanziell solide da. Zweimal mussten eingeplante Rücklagenentnahmen nicht realisiert werden, weil es nicht nötig war. Andererseits aber sei in Zeiten wie diesen immer Wachsamkeit aufgrund der allgemeinen Entwicklungen geboten, insofern scheute sich Vothknecht nicht zu betonen: „Wenn Sie jemanden mit einer größeren Erbschaft wissen – wir sind da nicht unempfänglich“.
Unterhaltsam und präzise: Michael Vothknecht, Schatzmeister des Reformierten Bundes bei seinem Bericht am 27. April 2024 vor der Hauptversammlung in Berlin.
Am Ende der Tagung stand ein Gottesdienst, in dem die wiedergewählten Moderamensmitglieder verpflichtet wurden und in der Altmoderator Peter Bukowski, ein wahrer Meister des Wortes, eine anrührende Predigt über die Begegnung des Mose mit Gott im brennenden Dornbusch (Exodus 3) hielt. Ein ausgesprochen schöner Abschluss, und dankbar wurden die am Donnerstagnachmittag bei kühlerem Wetter angereiste Delegierten gewahr, als sie ins Freie traten: Der Frühling ist da!
Peter Bukowski, Moderator des Reformierten Bundes von 1990 bis 2015, bei der Predigt im Schlussgottesdienst der Hauptversammlung in Berlin am 27.4. 2024.
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.