Strategische Weichenstellung

Die DRIN-Projekte in der hessisch-nassauischen Kirche: Information, Begleitung, Vernetzung
Neue Mobilität für alte Menschen: der „Einkaufsbus Waldkolonie“ in Darmstadt.
Fotos: Hans-Walter Riestsch
Neue Mobilität für alte Menschen: der „Einkaufsbus Waldkolonie“ in Darmstadt.

In der Gemeinwesenorientierung liegt die gemeinsame Zukunft von Kirche und Diakonie. Die DRIN-Projekte der hessisch-nassauischen Kirche liefern wertvolle Hinweise darauf, wie es funktionieren kann. Zu diesem Ergebnis kommt Alexander Dietz, Professor für Diakoniewissenschaft und Systematische Theologie an der Hochschule Hannover.

Es kommt nicht alle Tage vor, dass die Synode einer Landeskirche drei Millionen Euro für diakonische Projekte bewilligt. So bedurfte es einiger Überzeugungsarbeit und guter konzeptioneller Vorbereitung im Vorfeld, damit am 9. Mai 2014 von der Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) der weitreichende Beschluss zur Förderung gemeinwesendiakonischer Arbeit gefasst wurde. Und zwar unter der Überschrift „DRIN“, die für „Dabei sein – Räume entdecken – Initiativ werden – Nachbarschaft leben“ steht. Die Initiative dazu ging von der Diakonie Hessen und dem Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN aus. Die Akteure waren sich einig in der Einschätzung, dass es sich bei der Gemeinwesendiakonie nicht nur um ein Modethema handelt, sondern dass in einem gemeinwesendiakonischen Paradigmenwechsel eine entscheidende strategische Weichenstellung für die Zukunftsfähigkeit von Kirchengemeinden, Dekanaten und regionalen Diakonischen Werken liegt.

In diesem Sinne wurde eine dreifache Zielsetzung für die zu fördernden Projekte formuliert: Sie sollen die Zusammenarbeit zwischen Kirche und Diakonie verbessern, gemeinwesenorientierte Handlungsprinzipien (wie beispielsweise Bedarfsorientierung oder Aktivierung) im kirchlichen und diakonischen Handeln verankern und zur Armutsbekämpfung vor Ort beitragen. Viele Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen erarbeiteten gemeinsam Konzepte und stellten Förderanträge. Davon erhielten 28 lokale Projekte den Zuschlag und wurden drei Jahre lang – von 2016 bis 2018 – finanziert.

Inhaltlich sind diese Projekte äußerst vielfältig. So ermöglicht beispielsweise der „Einkaufsbus Waldkolonie“ in Darmstadt älteren, in der Mobilität eingeschränkten Menschen durch einen Fahrdienst von freiwillig Engagierten wieder ein eigenständiges Einkaufen sowie Gelegenheiten zur Begegnung und zu gemeinsamen Aktivitäten. Oder in Dillenburg eröffnete eine Fahrrad- und Mitmach-Werkstatt, in der insbesondere Geflüchtete sowie sozial benachteiligte Familien Aktiv-Punkte sammeln und Werkzeuge ausleihen können, aber dadurch auch Zugang zu einem Eltern-Kind-Café und Angeboten des Evangelischen Familienzentrums erhalten.

Zu einem professionellen Projekt gehört auch eine professionelle Evaluation. Insofern war es vorausschauend von den Synodalen, den Organisatoren schon zu Beginn die Auflage einer Evaluation mit auf den weiteren Planungsweg zu geben. Durchgeführt wurde diese Begutachtung schließlich projektbegleitend von einem vierköpfigen Team von Wissenschaftlern unter der Leitung von Andreas Schröer, Professor für Organisationspädagogik an der Universität Trier und mir. Quantitative Daten wurden durch einen umfangreichen Online-Fragebogen sowie eine Analyse der Projektanträge und Projektberichte erhoben. Qualitative Daten wurden durch Projektbesuche, leitfadengestützte Interviews sowie Gruppendiskussionen gesammelt. Es handelt sich wohl um die bisher umfassendste Evaluation gemeinwesendiakonischer Projekte. Die Ergebnisse sind aufschlussreich.

Hin zu neuen Kooperationen

Gemeinwesendiakonische Arbeit ist ein Lernprozess für Akteure in Kirche und Diakonie. Dazu bedarf es der Unterstützung durch hauptamtliche Expertinnen und Experten einerseits in den lokalen Projekten und andererseits auf übergeordneter Ebene. Die Evaluation der DRIN-Projekte zeigt, dass das mit drei Stellen gut ausgestattete Projektbüro bei der Diakonie Hessen einen wesentlichen Erfolgsfaktor darstellte. Die Einzelprojekte profitierten nachhaltig von den Angeboten im Blick auf Informationen, Begleitung, Vernetzung und Fortbildung. Ein Projektleiter resümiert: „Ich finde, das ist von dem Projektbüro einfach auch eine tolle Arbeit gewesen. Das hat zum Gelingen beigetragen, wir hätten das sonst so nicht machen können. Die haben uns wirklich sehr gut versorgt mit Fortbildungsangeboten und mit Koordination. Also das fand ich sehr oft einen Lichtschimmer am Horizont.“ Auch in der Arbeit vor Ort zeigte sich, dass es nicht ohne professionelles Know-how und verlässliche Zeitressourcen für Projektmanagement und Freiwilligenmanagement funktionieren kann.

Obwohl die Projekte von freiwillig Engagierten getragen wurden, waren Hauptamtliche dringend erforderlich. Gemeinwesendiakonische Projekte sind sehr attraktiv für freiwilliges Engagement, da viele Menschen besonders gerne im eigenen Sozialraum etwas Gutes tun wollen. Aber sie sind gleichzeitig fachlich so anspruchsvoll, dass es einer intensiven Unterstützung durch Hauptamtliche bedarf – selbst wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint. Insofern hat sich gezeigt, dass gemeinwesendiakonische Projekte eine finanzielle Mindestausstattung benötigen, damit sie funktionieren können. Diese liegt für mittlere Projekte bei etwa 40 000 Euro und für größere Projekte bei etwa 100 000 Euro für drei Jahre. Mehr als drei Vierteln der Projekte ist es gelungen, auch über die Förderlaufzeit hinaus ihren Fortbestand zu sichern. Diese Verstetigung wurde durch die Schaffung von Netzwerken und den Aufbau von Strukturen im Sozialraum sowie die Akquise weiterführender Finanzierung insbesondere durch Kommunen ermöglicht.

Die üblichen Probleme, die einer Zusammenarbeit zwischen Kirche und Diakonie im Weg stehen, sind bekannt: Vorurteile, schlechte Erfahrungen, unterschiedliche Organisationsformen und Handlungslogiken, Desinteresse. Was jedoch Hoffnung macht: Sobald sich Kirche und Diakonie gemeinsam auf den Weg machen, um in einem Stadtteil oder Dorf etwas für die Menschen zu tun, machen sie gute Erfahrungen miteinander. Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Aber in aller Regel funktioniert es. So auch hier. Die Evaluation der DRIN-Projekte ergibt, dass die Kooperation produktiv war und sich überwiegend positiv auf das Verhältnis zwischen Kirche und Diakonie auswirkte. Beide Partner profitierten gleichermaßen von einer Zusammenarbeit. Sie verschafften sich gegenseitig Kontakt zu neuen Zielgruppen im Sozialraum. Vor allem ergänzten sie sich in unterschiedlichen Ressourcen und Kompetenzen. Die Kirche profitierte von der Fachkompetenz der Diakonie. Umgekehrt profitierte die Diakonie von der Nutzung von Räumlichkeiten und Strukturen freiwilligen Engagements der Kirchengemeinden.

Während des Projekts konnte die gegenseitige Wahrnehmung verbessert und Trennendes überwunden werden. Durch gemeinsames Handeln rückte zusammen, was aus Sicht vieler Beteiligter sowieso zusammengehört. Der Leiter eines regionalen Diakonischen Werkes fasst es so zusammen: „Es entstand auch nochmal dieses Bewusstsein, etwas miteinander zu machen. Und die Erkenntnis: Wir müssen nicht alles. Wir haben Fachwissen und das Dekanat hat Strukturen und kann die Spiritualität nochmal anders transportieren.“ Außerdem verbesserte sich durch die Vernetzung die Innovationsfähigkeit beider Organisationen, also die Entstehung neuer Ideen und Konzepte.

Gelebte Nächstenliebe

Mit dem Anspruch der Armutsbekämpfung ist es so eine Sache. Meist sind diakonische Akteure enttäuscht, wenn man sie danach fragt. Alles kommt darauf an, zunächst einmal zwischen unterschiedlichen Verständnissen von „Armut“ sowie zwischen unterschiedlichen Verständnissen von „Bekämpfung“ zu unterscheiden. Armut als fehlende Teilhabe kann sich beispielsweise auf materielle, soziale, spirituelle, kulturelle oder gesundheitliche Aspekte beziehen. Armutsbekämpfung kann in Form von Linderung, Prävention oder Überwindung von Armut erfolgen. Ein gemeinwesendiakonisches Projekt kann nicht materielle Armut überwinden. Aber es kann soziale Armut überwinden. Oder es kann materielle Armut lindern. Oder es kann kultureller Armut vorbeugen. Die Evaluation der DRIN-Projekte zeigt, dass erhebliche Erfolge bei der Bekämpfung sozialer Armut wie beispielsweise Vereinsamung und spiritueller Armut (beispielsweise Mangel an Perspektiven, verletztes Selbstkonzept) möglich waren. Es gelang vielfach, Menschen zu aktivieren und ihre unterschiedlichen Ressourcen zu nutzen. Auf diese Weise wurden Betroffene zu Beteiligten gemacht und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Es wurde jedoch auch deutlich, dass der Weg zu einer Kirche für Arme und mit Armen einen umfangreichen Lernprozess der Armutssensibilisierung, des Umgangs mit Vorurteilen, Stigmatisierung und Scham voraussetzt.

Ein Beispiel für die zahlreichen äußerst positiven Rückmeldungen betroffener Menschen zur Verbesserung ihrer Lebenssituation: „Hier bekommt jeder Vertrauen und Wertschätzung. Und jeder wird ernst genommen, für mich ist das gelebter Glaube. Ich wurde für den Reparaturtreff ausgesucht, ich, das Arschloch, der Loser. Ich bin ruhiger geworden. Ich habe jemanden zum Reden. Hier ist die Familie, die ich nie hatte. So gut ging es mir noch nie in meinem Leben.“

Die Fragen nach der theologischen Begründung diakonischen Handelns sowie nach theologischen Kriterien eines diakonischen Profils werden seit längerem von Experten kontrovers diskutiert. Die Evaluation der DRIN-Projekte macht deutlich, dass die Reflexion des theologischen Selbstverständnisses für erstaunlich viele Beteiligte eine Rolle spielte. Für Verantwortliche aus der Kirche vor allem während der Projektkonzeption, für Verantwortliche aus der Diakonie stärker während der Projektdurchführung. In der Verbindung von sozialarbeiterischer Haltung und Standards sowie theologischem Auftrag und Begründungen wurde das gemeinwesendiakonische Profil einer diakonischen Kirche für den Ort in den Projekten klar erkennbar. In diesem Sinne haben die Projekte das theologische Selbstverständnis von Diakonie und Kirche positiv verändert. Ein beteiligter
Gemeindepfarrer formuliert es so: „Wir leben doch hier mit den Menschen und für die Menschen, die hier sind. Da müssen wir gucken, wie es denen geht, was die machen und dort auch mitarbeiten, und wenn sie keine Stimme haben, denen auch eine Stimme geben. Das würde ich urchristlich nennen.“

Bei der Charakterisierung des theologischen Selbstverständnisses wurden durchaus ähnliche inhaltliche Aspekte betont wie im aktuellen diakoniewissenschaftlichen Diskurs: Menschenwürde achten, für soziale Gerechtigkeit eintreten, sich um hohe Qualität bemühen, die Trennung von Diakonie und Kirche überwinden, Kirche für andere und mit anderen werden.

Das Reflexionsniveau war keineswegs niedrig. Aber die Kommunikation des Evangeliums in Form gelebter Nächstenliebe muss nicht erst durch Worte legitimiert werden.

Literatur

Alexander Dietz/Andreas Schröer/Richard B. Händel/Daniel Wegner: Abschlussbericht zur Evaluation des Projekts DRIN. Hannover/Trier 2019 unter: https://drin-projekt.ekhn.de/fileadmin/content/drin/download/DRIN_Evaluationsbericht_final.pdf

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