Gott, das Virus und wir

Warum die Corona-Epidemie auch eine theologische Herausforderung ist
Mann mit Atemmaske in Halle/Saale
Foto: epd
Ein junger Mann mit einer Atemschutzmaske in Halle an der Saale (Foto vom 28.02.2020).

Angesichts des grassierenden Coronavirus kommen dem Nürnberger Theologen und Buchautor Ralf Frisch große Fragen in den Sinn. Zum Beispiel die, wie es um unsere „theologische Wirklichkeitswahrnehmung“ bestellt ist.

„Ungeheuer ist viel / Und nichts ungeheurer als der Mensch / … Allberaten. / Ratlos tritt er / Vor nichts, was kommt, / Nur dem Tod entrinnt er nicht.“

So konstatiert lakonisch der Chor in Sophokles‘ „Antigone“, als die Tragödie ihren Lauf zu nehmen beginnt. Mir ist in diesen Tagen weniger lakonisch als vielmehr mulmig zumute. Angesichts des Virus, das die Welt derzeit in Schrecken versetzt, kriecht mir die uralte Angst des Homo sapiens vor der Ungeheuerlichkeit der Naturgewalten unter das Bewusstsein. Die Selbstverständlichkeit gewohnter Alltagsroutinen verflüchtigt sich. Die Zuversicht, es mit der drohenden Katastrophe aufnehmen zu können, weicht nicht zuletzt infolge des medialen Pingpongs zwischen Beschwichtigung und Panikmache einem ungemütlichen Gefühl von Fragilität. Ich bin verwundbar. Unsere Gesellschaft ist verwundbar. Das Menschengeschlecht ist verwundbar. Am Horizont der Realität taucht die theoretisch hinlänglich bekannte, aber praktisch verdrängte Möglichkeit auf, dass der „allberatene“ Mensch diesem winzigen Feind gegenüber rat- und machtlos und dass am Ende das gleichnamige Coronavirus die Krone der Schöpfung und das eigentliche Ungeheuer sein könnte. Und so beginne ich anlässlich des Virus am eigenen Leib und an der eigenen Seele zu begreifen, wie sich diejenigen fühlen mögen, denen angesichts der Klimakatastrophe schon länger angst und bang um die Zukunft des Homo sapiens ist.Das mikroskopisch kleine Virus führt aber nicht nur die ungeheuerliche Möglichkeit unserer Vernichtung mit sich, es ist auch Träger der großen, die Theologie von je her in Unruhe versetzenden Fragen des christlichen Glaubens. Welche Kraft zur Heilung des Unheils der Welt wohnt der Anthropotechnologie und dem Humanismus inne? Wo stößt die Vision philanthroper Weltgestaltung an die Grenzen des Unverfügbaren? Und wie steht es angesichts der Unbilden des Daseins um die Wirklichkeit, die Allmacht und die Güte Gottes?

Zwei Weisen theologischer Wirklichkeitswahrnehmung

Das Coronavirus lässt mich neu über zwei Arten theologischer Rationalität nachdenken, die in Theologie und Kirche gegenwärtig so sehr im Streit liegen, dass sie einander nicht zu begreifen vermögen und irgendwie gar nicht zu ahnen scheinen, wie konträr sie sind.

Ich will im Folgenden den Antagonismus dieser beiden Modelle sichtbar machen und den überfälligen Diskurs zwischen zwei schwer versöhnlichen Weisen theologischer Wirklichkeitswahrnehmung weiter treiben. Dabei werde ich auch deren blinde Flecken, drohende Fehloptimierungen und pro­blemerzeugende Lösungen zu Tage fördern. Ich verhehle nicht, dass meine Sympathie im Kielwasser Martin Luthers und Karl Barths einer Gestalt von Theologie gilt, die das genaue Gegenteil der in Anthropologie, Ethik und Gesellschaftspolitik aufgelösten Theologie darstellt, von der das Denken und die Zeichenhandlungen maßgeblicher Protagonistinnen und Protagonisten der Evangelischen Kirche Deutschlands seit Jahren gezeichnet sind. Ich glaube, dass sich das verzweifelte theologische Vertrauen auf die Selbst- und Weltsanierungsfähigkeiten des Menschen früher oder später in die gottesferne Sackgasse der Depression hineinmanövrieren wird.

Zugleich bin ich mir bewusst, dass auch diejenigen, die den von mir mit Skepsis registrierten Weg gehen, gute theologische Gründe dafür reklamieren. Ebenso, wie ich die Gefahren jener mir zunehmend fremderen theologischen Position sehe, sehe ich die Gefahren des von mir favorisierten Ansatzes und will diese Gefahren daher im Zuge dieses Artikels klar benennen und gewissermaßen mit offenem Visier fechten. So hoffe ich zumindest. Also los.

Die Hybris, die Kontingenz und Gott

Das Coronavirus ist ein Trigger und eine Chiffre. Und zwar eine Chiffre für die Kontingenz, gegen die wir machtlos sind, und für das Tragische, das sowohl von der technologischen Zivilisation des Anthropozän als auch von der ethischen Anthropotheologie unserer Zeit ihrem Selbstverständnis nach hartnäckig ignoriert werden muss. Beiden wohnt die Hybris inne, das menschliche Dasein kraft menschlicher Fähigkeiten zum Guten wenden zu können. Das Coronavirus dagegen konfrontiert uns mit der eigentlich trivialen, aber im Anthropozän offenkundig um so bemerkenswerteren Tatsache, dass es Wirklichkeiten gibt, gegen die wir keinerlei Dämme chaosbeseitigender zivilisierender Humanität zu errichten imstande sind, die dem Leben verbieten könnten, weiter zu gehen, als es erlaubt ist. Es ist eine Chiffre dafür, dass es Heimsuchungen gibt, angesichts derer selbst stoische Resilienz und heroische Anfreundungsversuche mit dem Unabänderlichen kapitulieren. Und gewiss ist das Virus für diejenigen, deren Welt hinter dem Horizont von Fatalismus und Heroismus nicht zu Ende ist, auch eine Chiffre für den Glauben an Gott.
Apropos „Gott“ und apropos „Heimsuchung“: Bereits an diesem Punkt drängen sich einige Fragen an eine Theologie auf, die ihre Skepsis im Blick auf die theologische Leistungsfähigkeit ethischer und psychologischer Anthro­potechnologien derart deutlich akzentuiert, wie ich es hier tue. Welches Verständnis von Vorsehung Gottes hat eine Theologie, die von der letzten Unbeherrschbarkeit des Daseins überzeigt ist und die Erfahrung übler Kontingenz zum Anlass nimmt, ihr Vertrauen grundsätzlich nicht auf den Menschen zu setzen? Und wie hält es eine solche Theologie mit der Theodizee? Mit anderen Worten: Ist es Gott selbst, der uns in den grauenvollen Gestalten der Kontingenz heimsucht? Und wes Geistes Kind ist dieser Gott? Treiben am Ende gar zwei Götter oder ein Gott und ein Teufel im Weltdrama ihr dualistisches Unwesen?

Oder noch einmal anders gefragt: Muss eine Theologie, die sich weigert, den charakteristisch modernen, letztlich atheistischen theologischen Fluchtweg aus der Theodizeefrage ins Menschenvertrauen anzutreten und stattdessen alles auf die Karte des Gottvertrauens setzt, nicht notwendig mit einem Gott rechnen, der auch beängstigend, unheimlich und vielleicht sogar böse, sprich: ein deus absconditus ist, dessen Charakter ebenso dämonische, ja teuflische Züge annehmen kann, wie der Charakter des auf sich selbst gestellten Menschen dämonische, ja teuflische Züge annehmen kann? Während also eine Theologie, die vielleicht auch aufgrund des augenscheinlichen Vorsehungsversagens Gottes ganz auf den Menschen setzt, die Anthropodizeefrage herbeizitiert, zitiert eine Theologie, die ganz auf Gott setzt, die Theodizeefrage herbei. Während die einen fragen, wie man heute noch an Gott glauben kann, fragen die Anderen, wie man heute noch an den Menschen glauben kann.

Pikant wird der Antagonismus dieser beiden Denkformen dadurch, dass beide mit christologischen Begründungen aufwarten können. Das Vertrauen auf den Menschen glaubt sich durch die Menschwerdung Gottes und die Geistwerdung Christi legitimieren zu können. Das Vertrauen auf Gott beruft sich auf den rechtfertigenden Christus, dessen Tod am Kreuz misstrauisch im Blick auf den Willen des sündigen Menschen zum Guten und zur Nähe Gottes werden lässt und dessen Auferweckung von den Toten offenbart, dass Gottes Macht anders als die Macht des Menschen an der Macht des Todes nicht zerschellt.

Die Matrix unserer Epoche

Doch zurück zur virusgewordenen Kontingenz. Ich bin mir im Blick auf weite Teile der Theologie und der Volkskirche meiner europäischen Gegenwart vorsichtig gesagt nicht immer ganz sicher, ob sie wirklich auf das Unverfügbare vorbereitet sind – sei es auf die Kontingenz des Schicksalhaften oder auf die Kontingenz Gottes.

Aber ist dieser Verdacht nicht haltlos? Wer sollte besser für die Epidemien der Kontingenz präpariert sein als diejenigen, die berufsmäßig unentwegt Umgang mit dem Unverfügbaren und Unbeherrschbaren pflegen? Trotzen nicht unzählige haupt-, neben- und ehrenamtliche Mitarbeitende unserer Kirche tagtäglich tapfer der Grausamkeit der Kontingenz, indem sie ihr unverdrossen seelsorgerlich die ganze große Kraft ihres Glaubens entgegenhalten? Wie um Himmels willen also komme ich auf die Idee, die gegenwärtige Volkskirche und die gegenwärtige Theologie müssten an ihre Kontingenzbewältigungskompetenz oder gar an Gott selbst erinnert werden? Was in aller Welt bringt mich dazu, der Theologie und der Kirche meiner Zeit Kontingenzvergessenheit und Sprachlosigkeit angesichts der Unverfügbarkeit Gottes zu attestieren?

Ich kann auf diese Fragen nur erwidern, dass ich als teilnehmender Beobachter des kirchlichen Protestantismus meiner Epoche manchmal das dumpfe Gefühl nicht loswerde, dieser Protestantismus könnte derart unrettbar in die Matrix nachmetaphysischer neuzeitlicher Rationalität verstrickt sein, dass ihm im Kielwasser von Immanuel Kants aufgeklärter Metaphysikkritik und Ethik die theologischen Umgangsformen für das existenzerschütternd Unverfügbare, für das Tragische und am Ende für das Heilige, also für Gott selbst abhandengekommen sind. Es scheint mir gelegentlich, als habe der pausbäckig zuversichtliche ethisch engagierte Protestantismus meiner Zeit den theologischen Bezug zu allem verloren, was nicht verändert werden kann, sondern demütig hingenommen und in Gottes Hände gelegt werden muss.

Angesichts einer bestimmten Gestalt öffentlicher volkskirchlicher Theologie beschleicht mich der Verdacht, diese Theologie könnte seit langem ebenso religionskritisch geworden sein wie die Welt, die sie denn auch nur so für den Geist des Evangeliums gewinnen zu können meint, dass sie es in den Referenzrahmen der moralischen Autonomie des modernen Menschen einschreibt.

Ich hoffe, nicht ungerecht zu urteilen, wenn ich bekennen muss, dass ich trotz aller eindrücklichen Gegenbeispiele immer mehr zur Überzeugung gelange, dieser Protestantismus könnte gar keine Religion sein und womöglich gar keinen Gott, keinen Heiland und keinen Erlöser brauchen, weil wir aufgeklärten und abgeklärten, durch und durch säkularen Protestantinnen und Protestanten uns angewöhnt haben, nur das für wirklich zu halten, was mit dem Vermögen unserer Vernunft verstanden und mit der Kraft unseres Ethos gestaltet und überwunden werden kann.Könnte die Bemerkung von Karl Marx, die Philosophen hätten die Welt nur verschieden interpretiert, es komme vielmehr darauf an, sie zu verändern, nicht auch von  sozial engagierten evangelischen Christen oder einer sozial engagierten evangelischen Christin unserer Gegenwart stammen, die ihr Engagement mit dem berüchtigten theologischen Satz begründen, der die erbärmliche Schwund­stufe einer Inkarnationstheologie des schwachen Gottes darstellt und zugleich das ganze Elend des gottesvergessenen Anthropozän offenbart? Der Satz lautet: „Gott hat keine anderen Hände als unsere Hände.“  Befinden sich nicht auch unter diesen Christen einige, die Religion und also auch den Gottesgedanken für Opium des Volks halten? Ist nicht der Mensch, wie Marx notierte, insgeheim auch für viele Protestantinnen und Protestanten längst zum höchsten Wesen für den Menschen geworden? Trägt das Wort „Gott“ genau deshalb mitunter nurmehr prädikative, dekorative oder handlungsmotivierende Züge? Und vermag es genau deshalb allenfalls als Begründungsverstärker unseres moralischen Handelns noch eine gewisse funktionale, aber keine daseinsbewältigende, geschweige denn erlösende Kraft mehr zu entfalten? Haben die evangelischen Kinder der Aufklärung und der Religionskritik das göttliche Kind so mit dem Bade ausgeschüttet, dass sie öffentlich und medial nicht zu Unrecht eher als Expertinnen und Experten verantwortlicher ethischer Diesseitsgestaltung denn als Menschen wahrgenommen werden, denen keine Selbstsäkularisierung der Welt den Glauben nehmen kann, dass das Reich Jesu Christi nicht von dieser Welt ist und dass gerade deshalb allein Christus die Welt heilen kann, wenn diese Welt mit ihrem Latein am Ende ist?

Die theologische Gretchenfrage unserer Zeit

Wenn dem wirklich so ist, dann dürfte die Frage, was Christinnen und Christen der Erfahrung der ethisch-politischen Unbeherrschbarkeit des Lebens und der moralischen und natürlichen Übel dieses Lebens entgegenzusetzen haben, die eigentliche Gretchenfrage der Theologie und der Kirche unserer Zeit sein. Und an der Beantwortung dieser Frage dürfte sich entscheiden, wes Geistes Kinder die Christenmenschen unserer mitteleuropäischen Gegenwart sind. Nehmen sie die Tatsache, dass Christus am Kreuz für die Sünde einer Menschheit sterben musste, deren Humanität und deren Humanismus auf Golgatha in menschen­verachtendster Weise kollabieren, ernster als die ewig junge Illusion des alten Pelagius – die Illusion, dass mit unserer Macht zur Tilgung der menschlichen Makel alles getan ist und dass es keine Erlösung von der Sünde braucht, die nach Kant ohnehin nie größer sein darf als die Macht der Moral, der Kultur, der Pädagogik, der Politik, sprich: der verantwortlichen Weltgestaltung und Selbstbestimmung des Menschen? Oder liegt ihnen die Autonomie des metaphysikkritischen modernen Menschen, für den Gott als weltbewegende widerständige Eigenmacht längst gestorben ist, stärker in den Genen als das Bewusstsein, dass diese Welt von ihrer Schuld und von ihren Verhängnissen erlöst werden muss? Glauben sie daran, dass das Einzige, was der tote Gott und sein Christus der Welt hinterlassen haben, das moralische Gesetz ist, und verwandeln sie deshalb das Evangelium kategorisch in den Imperativ, der da heißt: „Du musst dein Leben ändern!“? 

Falls Letzteres der Fall sein sollte, dann muss der öffentliche theologische und insbesondere der kirchenleitende Diskurs darüber, ob sich die evangelische Kirche vor allem als gesellschaftspolitisch-ethischen Akteur begreifen möchte, mit weit mehr Nachdruck geführt werden als bisher. In diesem Diskurs gilt es insbesondere die Frage zu stellen, ob wir als Kirche theologisch gut beraten sind, Politik und Sozialethik derart unermüdlich und unbeirrbar als Aufenthaltsorte des Geistes Gottes zur Sprache zu bringen, dass dabei die metaphysisch-religiöse Dimension des christlichen Glaubens unmerklich verblasst und das Herz des christlichen Glaubens langsam aber sicher zu schlagen aufhört. Es gilt zu fragen, ob es aus christlicher Sicht wirklich geistesgegenwärtig und klug ist, eher auf die moralisch verantwortliche Autonomie des Moralgesetzgebers Mensch als auf Gott als heiligen Grund und Abgrund des Seins und als Heiland der Welt zu setzen. Selbst, wenn es stimmen sollte, dass die Kirche von der medialen Welt unserer Zeit nur noch verstanden wird, wenn sie die Sprache der Moral spricht, wäre es ja noch nicht ausgemacht, dass das Selbstverständnis der Kirche als Organisation für die menschenrechtsorientierte soziale Gestaltung der Welt das einzig wahre oder gar alternativlos ist. Womöglich vermag ja gerade eine Religion, die vor allem der Mensch, das moralische Gesetz, aber nicht mehr Gottes weltüberwindende Passion für diese Welt unbedingt angeht, ihrer Selbstauflösung nicht zu entrinnen.

An Antworten meiner christlichen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen auf diese Fragen bin ich ernsthaft und aufrichtig interessiert – vor allem an Antworten, die nicht den erwartbaren integrativen Akkord eines Sowohl-als-Auch anschlagen und nicht müde werden zu betonen, es gehe um Gott und den Menschen, um Metaphysik und Ethik, um Religion und Sozialpolitik, um Glaube und Werke. In der nachmetaphysischen Moderne leiden nämlich sämtliche Antworten vom Typus dieses Sowohl-als-auch in der Regel darunter, dass sich die Dimension des Göttlichen zu verflüchtigen beginnt, sobald von ihr die Rede ist. In der Luft der Aufklärung oxidiert die Theologie trotz nachdrücklichster gegenteiliger Beteuerungen erfahrungsgemäß sofort zur Anthropologie.

Eine evangelisch-lutherische Vision

Ich selbst würde im öffentlichen theologischen Diskurs über das Wesen und die Identität des christlichen Glaubens gern einer evangelisch-lutherischen Vision des Gottvertrauens und der politischen Ethik Ausdruck verleihen. Und das tue ich auch auf der Zielgeraden dieser kleinen theologischen Einlassung.

Als romantischer Lutheraner träume ich manchmal in vollem Bewusstsein der Sollbruchstellen und neuralgischen Punkte des Luthertums von einem Luthertum, das meine Anfragen an die aufgeklärte Theologie und an die aufgeklärte Kirche meiner Gegenwart so beantwortet, dass es den eindrucksvollen Realismus der Lehre von den zwei Regierweisen Gottes wiederentdeckt.

Ich träume davon, der evangelischen Kirche meiner Zeit könnte das Licht aufgehen, dass die Größe und die Kraft von Luthers Zwei-Regimente-Lehre darin besteht, den Hochmut, die Trägheit, die Inkonsequenz, die Fahrlässigkeit und die Dummheit, sprich: die unbezwingbare Sünde des Schweinehundes Mensch ernster zu nehmen als alle schwärmerisch-theologischen Phantasien der Verwandlung der Weltgesellschaft in ein Gleichnis des Himmelreichs und der Verwechslung des menschlichen Wohls mit seinem Heil.

Ich träume von der Zwei-Regimente-Lehre, weil sie auf den Ausnahmezustand des Einbruchs der daseinsgefährdenden Kontingenz ins Dasein vorbereitet ist, jegliche gefährlich verantwortungslose träumerische Unschuld verloren hat und mit dem Schlimmsten, zugleich aber auch mit Gott rechnet. Ich träume von ihr, weil sie sowohl ein Auge für die Möglichkeiten als auch für die Grenzen des Politisch-Ethischen und der Humanität hat und das Regiment zur Linken als Verhütungsmittel gegen die Eruptionen der Unmenschlichkeit begreift, ohne sich der Illusion hinzugeben, die zwielichtigen Gestalten des malum naturale und des malum morale ließen sich stets mit den kompromiss- und gewaltlosen Waffen der Kinder des Lichts erfolgreich bekämpfen.

Ich träume von der Zwei-Regimente-Lehre, weil sie nicht von dem naiven Gedanken getragen ist, Politik und Ethik könnten uns vom Bösen erlösen und das Schlimmste sei im Ausnahmezustand ohne Schuld und ohne Opfer zu verhüten.

Das Schönste an der Lehre von den zwei Regierweisen Gottes aber ist, dass sie unseren Blick dafür schärft, dass die Verhütungsmittel des weltlichen Regiments nicht mit dem pulsierenden Eros des christlichen Glaubens identisch sind und dass das wahre Herz der Religion anderswo schlägt als dort, wo es um die engagierte ethisch-politische Eindämmung der Weltübel geht. Mit links, mitunter mit schmutzigen Händen und vielleicht sogar mit unvermeidlichen Fouls sorgt das weltliche Regiment dafür, dass der Gegner in die Schranken gewiesen wird. Zugleich ist es sich im Klaren darüber, dass es den entscheidenden Schlag gegen den altbösen Feind nicht führen kann, weil ihm die rechten göttlichen Mittel dazu fehlen. Indem das weltliche Regiment sich selbst als vorletzte Wirklichkeit erkennt, weitet es den Horizont für den weiten, heiligen Raum jenes anderen, letztentscheidenden Regimentes, dessen Herr die Welt mit den Waffen und mit der Sprache des Lichts überwunden hat. Er allein kann es mit den Dämonen der Finsternis aufnehmen. Und zwar deshalb, weil er den Tod besiegt hat und so auch unseren Tod und mit ihm die gespenstische Menagerie der diesseitigen Übel besiegen wird.

Notwendige Selbstkritik zu guter Letzt

Ich weiß wie gesagt wohl, dass es zum Wesen dieser evangelisch-lutherischen Vision der realistischen Selbstbegrenzung der Macht des Menschen zugunsten der Macht Gottes gehört, unablässig einige theologische Gespenster verscheuchen zu müssen, die den Glanz dieser Vision trüben.

 So gebietet es die theologische Redlichkeit emphatischer Rede von Gott, nicht nur der Theologie der empathischen Rede vom Menschen den Schwarzen Peter zuzuschieben. Denn auch eine Theologie, die all ihre Kraft in die Waagschale Gottes wirft, ist Risiken ausgesetzt – etwa dem Risiko, entweder dualistisch zu werden oder Kontingenz in Gott selbst in Kauf nehmen und immer wieder vor Gott erschrecken zu müssen, um an seiner Allmacht und Allwirksamkeit festhalten zu können. Sie laboriert auch am Risiko der Versuchung, die dunklen Seiten Gottes ebenso fideistisch, also glaubend wider alle Vernunft, auszublenden, wie die Theologie des Menschenvertrauens die dunklen Seiten des Menschen auszublenden neigt. Im Extremfall droht eine Theologie, die ihr ganzes Vertrauen auf die schicksalsmächtige Macht Gottes richtet, fatalistisch oder zynisch zu werden – etwa dann, wenn sie das Handeln Gottes gegen das Handeln des Menschen ausspielt und die Theodizeefrage genauso naiv ausblendet, wie die Fans der Verwandlung von Theologie in Ethik die Anthropodizeefrage ausblenden oder unterschätzen. Beide Formen der Theologie stehen auf ihre Weise in der Gefahr, keinen Sinn für die Schattenseiten der Realität zu haben und sie daher schlicht weg zu pädagogisieren oder weg zu glauben.

Allerdings bezweifle ich nachdrücklich, ob christlicher Glaube ohne ein „Anglauben“ gegen die Schattenseiten der Realität überhaupt möglich ist. Es macht das Wesen des christlichen Glaubens an Gott aus, nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit Gott zu ringen, mit einem vibrierenden Unterton des Schreckens von Gott zu reden, inmitten dieses Schreckens den Blick immer wieder trotzig auf das Kreuz und die Auferstehung Jesu zu richten, unverdrossen vom verborgenen zum offenbaren Gott zu flüchten, Gottes Macht über das Böse ernster zu nehmen als die Theodizeefrage und im Ausnahmezustand viraler Kontingenz notfalls eher mit der Unbegreiflichkeit und der Abwesenheit Gottes zu leben als sich dem Ethizismus und dem Fatalismus zu ergeben.

Der christliche Glaube wäre kein Glaube an Gott, wenn er nicht daran glauben würde, dass Gott allein das Schicksal der Welt wenden kann – auf welche Weise auch immer. Glaube ist kein gesteigertes Selbstvertrauen, sondern das Vertrauen darauf, dass mit unseren psychologischen Kontingenzbewältigungsmöglichkeiten und mentalen Bewältigungsstrategien nicht alles getan ist. Nicht wir allein sind es, die mit der Kontingenz fertigwerden müssen. Vielmehr ist es Gott, der allein mit ihr fertigwerden kann!

Wenn dieser Glaube realitätsfremd ist, weil er trotz allem, was gegen Gottes Macht und gegen Gottes Güte spricht, an Gott festhält, dann bin ich gerne realitätsfremd. Und wenn er zynisch ist, weil er in der einen entscheidenden soteriologischen Hinsicht für heilsame Untätigkeit plädiert, ohne in anderer, ethischer Hinsicht untätig die Hände in den Schoß zu legen oder blauäugig auf den moralischen oder medizinischen Sieg des Homo sapiens über das Böse zu vertrauen, dann bin ich gerne und gelassen Zyniker, bete, dass uns Gott vor dem Bösen erlösen möge, warte getrost auf Gottes Zeit und pflanze im Übrigen bester Dinge ein Apfelbäumchen der Hoffnung, dass es trotz des Coronavirus so schnell nicht um Gottes Schöpfung geschehen sein wird.

Auf meiner verzweifelten Suche nach guten medizinischen Nachrichten im Kampf gegen das Virus machte mich ein Freund vor einigen Tagen auf eine israelische Website aufmerksam. Wahrscheinlich hatten wir uns zu früh gefreut, als wir lasen, ein Team von galiläischen Wissenschaftlern stehe kurz davor, einen Impfstoff gegen das Virus auf den Markt zu bringen. Aber dass die Augen und die Hoffnungen der virusgebeutelten Welt zumindest einen Augenblick lang auf Galiläa ruhten, muss einfach ein Zeichen sein.

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Foto: Johannes Minkus

Ralf Frisch

Ralf Frisch, Jahrgang 1968, ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg.


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