Giftig! „Worte können sein wie winzige Arsendosen. Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“
So beschreibt der Linguist Viktor Klemperer, wie die Sprache der Nationalsozialisten – schon weit vor der sogenannten Machtergreifung – den Blick auf die Welt, das Leben und die Mitmenschen grausam verzerrte.
Worte schaffen Wirklichkeit. Wir selbst verdanken uns dem Wort. Darauf vertraut unser Glaube. „Gott sprach: Es werde! Und es wurde“, heißt es in der biblischen Schöpfungsgeschichte. In der Macht des göttlichen Wortes liegen unsere Hoffnung, unsere Würde und unser Heil. Und was ist mit der Macht menschlicher Worte? So sehr wir Menschen in und von der Sprache leben, so gefährdet und verletzlich ist genau dort unsere Menschlichkeit. Die Morde von Halle etwa oder der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten hatten ihren Nährboden in der subtilen und offenen Vergiftung unserer Sprache. Hier grassieren unerträgliche Maßlosigkeit und blinde Emotionalisierung. Da werden Fehler bewusst überzeichnet; da wird in einer Weise zugespitzt, dass sämtliche Fakten der Pointe zum Opfer fallen; da wird pauschal geurteilt und respektlos verurteilt; da werden im vereinfachenden Singular Politiker und Banker, Muslime und Gutmenschen, politisch Korrekte und Populisten und Kapitalisten allesamt in einen Sack gesteckt, und nachdem man ihnen ein vermeintlich eindeutiges Etikett verpasst hat, darf auch kräftig draufgehauen werden. Hand auf’s Herz: Darin bin ich bisweilen selbst nicht gerade zimperlich.
Was sich als Zuspitzung ausgibt, setzt sich fort als subtile Unterstellung oder gezielte Lüge, gipfelt nicht selten in Drohungen gegen Leib und Leben von Menschen und schlägt immer häufiger um in physische Gewalt.
Ohne Frage: Politik braucht persönliche Leidenschaft und erkennbares Engagement. Gerade deshalb gilt: Wir brauchen – auch und gerade da, wo wir unterschiedlicher Meinung sind – eine Haltung der Anerkennung und der Achtung für diejenigen, die mit ihrem Einsatz und ihrer Zeit unser Gemeinwesen erhalten. Sei es als Kommunalpolitikerinnen, als Rettungssanitäter, als Justizangestellte oder Polizistinnen. Wir brauchen im politischen Diskurs gerade dort, wo es kontrovers zugeht und strittig ist, Sorgfalt im Streit, Respekt im Umgang. Dabei geht es weder um handzahme Harmonie noch um das harmlose Vermeiden kontroverser Fragen. Es geht vielmehr um anständigen Streit, um respektvolles Ringen und um eine Sprache, die Präzision über die billige Pointe stellt und Argumente vor Anrempelung und Attacke setzt.
„Worte können sein wie winzige Arsendosen.“ Gott sei’s geklagt. Gottes Wort dagegen wirkt anders. „Dein Wort ward meine Speise, sooft ich’s empfing, und dein Wort ist meines Herzens Freude und Trost!“, bekennt der Prophet Jeremia (Jeremia 15,16). Gottes Wort macht nicht immun gegen das verbale Gift von Menschen. Aber es macht buchstäblich groß und stark. Um Position zu beziehen und Haltung zu zeigen. Um Respekt und Toleranz und Menschlichkeit in unserer Gesellschaft zu fördern. Gott sei Dank. Es steht viel auf dem Spiel.
Annette Kurschus
Annette Kurschus ist Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und Herausgeberin von "zeitzeichen".