War der Umbruch in der DDR tatsächlich eine protestantische Revolution? In zz/09 vertrat Ellen Ueberschär diese These. Hagen Findeis, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, plädiert hingegen für einen nüchternen Blick auf die Rolle der Kirchen in der DDR. Für den Erfolg des politischen Umbruchs seien sie nicht entscheidend gewesen.
Die seit dem Sommer dieses Jahres erneut geführte Debatte über das Ende der DDR berührt auch die Kirchen. Ausgelöst durch einen Essay des Soziologen Detlef Pollack, der die etablierte geschichtspolitische Deutung der 1989-er-Ereignisse, nach der „die friedliche Revolution das Verdienst der DDR-Opposition (ist und bleibt)“ (Werner Schulz), infrage gestellt hatte, meldeten sich ebenjene Vertreter der Oppositionsgruppen und ihnen nahestehende Historiker zu Wort. Sie bekräftigten die bekannte Revolutionserzählung, nach der die Oppositionsgruppen den Protest aus den Kirchen auf die Straßen getragen und mit ihren Aktionen eine Massenmobilisierung initiiert haben, in deren Folge der alte Machtapparat in einem Akt von Selbstbefreiung hinweggefegt wurde.
Anders als in den 1990-er-Jahren geht es nun weniger um die Rekonstruktion der damaligen Ereignisse, sondern um Resonanz auf die behauptete eigene soziale Wirksamkeit und politische Deutungsmacht. Dafür, dass diese Debatte so engagiert geführt wird, gibt es gute Gründe. Mit dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft hat sich das Leben der Ostdeutschen radikal verändert. Es ist besonders ihre Geschichte, die hier verhandelt wird und die eigene Geschichte kann niemandem gleichgültig sein. Gerade wir Deutschen haben aufgrund unserer Geschichte ein Interesse daran, nicht wieder auf der falschen Seite zu stehen, sondern uns selbst als lernfähig wahrzunehmen. Und natürlich spielt es auch für unsere Positionierung im wiedervereinigten Deutschland eine Rolle, ob wir die damaligen Ereignisse aktiv beeinflusst haben oder nicht.
Die ehemalige Generalsekretärin des Kirchentags Ellen Ueberschär, jetzt Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, hat sich in der Septemberausgabe von zeitzeichen mit dem Anteil der Kirchen am Zusammenbruch der DDR beschäftigt. Dabei übernimmt sie einen Topos, der bereits 1990 von dem Theologen und DDR-Oppositionellen Ehrhart Neubert eingeführt und seitdem von verschiedenen Autoren aufgegriffen worden ist.
Das Interesse der Kirchen, ihren Anteil an den Geschehnissen positiv herauszuarbeiten, ist naheliegend. Nicht noch einmal wollten sie als Kollaborateure mit einem Unrechtsstaat dastehen. Und so misst Ueberschär unter Verweis auf die bekannten ikonografischen Bilder von Kerzen, Gewaltlosigkeit und überfüllten Kirchen diesen und auch den oppositionellen Gruppen unter ihrem Dach eine bedeutende Rolle für den Umsturz zu. Sie charakterisiert die Kirchen als einen „Sprachraum der Freiheit“, in dem Bonhoeffers Kirchenverständnis einer „Kirche für Andere“ verwirklicht worden sei, wobei die „Anderen“ oppositionelle Gruppen, Ausreisewillige und sonstige Dissidenten gewesen seien.
Theologische Bescheidenheit
Die evangelischen Kirchen in der DDR, namentlich einige ihrer führenden Repräsentanten, haben sich gern mit Bonhoeffers theologischer Bescheidenheit geschmückt. Ihre Selbststilisierung als machtlose, aber aufrechte Schar mündiger Christen (Albrecht Schönherr), die unter Beobachtern im Westen ebenso wie in der Ökumene Unterstützung fand, bestärkte die Erwartung, dass sich die Kirchen den politischen Restriktionen des Systems widersetzen würden. Ganz im Gegensatz zur alltäglichen Tristesse sei es in den Kirchen lebendiger, weniger verbiestert, offener, ehrlicher, ja sogar demokratischer zugegangen als sonst irgendwo in der DDR. Und in der Tat waren die evangelischen Kirchen zu Widerständigkeit gegenüber dem Beglückungsanspruch der SED prädestiniert, standen sie doch unter besonderen Wahrhaftigkeitsanforderungen. Die Möglichkeit, derer sich andere Institutionen und die Mehrheit der Bevölkerung bedienten, mit den Zumutungen des Regimes taktisch umzugehen, nach außen hin etwas Anderes zu sagen als man tatsächlich glaubte, stand ihnen von ihrem theologischen Anspruch her nicht offen.
Jedoch haben sich die Kirchen nie auf die Oppositionsrolle festgelegt. Wie jede Organisation mussten auch sie unterschiedliche, teils einander zuwiderlaufende Ziele integrieren. Sie wollten wahrhaftig sein und sich ihre Kritikfähigkeit bewahren, aber auch ihre Spielräume gegenüber dem Staat erhalten und mussten bei alledem die begrenzte Loyalität ihrer Mitglieder berücksichtigen. Gerade in diesem Punkt hatten die Kirchen im Laufe der Jahrzehnte eine bittere Lektion gelernt. In den Auseinandersetzungen der 1950-er Jahre, etwa um die Einführung der Jugendweihe, hatten sich ihre Repräsentanten dem Staat noch mutig entgegengestellt und die Freiheit der Religionsausübung verteidigt. Im Nachhinein jedoch mussten sie, so der frühere Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, Werner Krusche, konstatieren, „dass die Gemeinden uns im Stich ließen, das war ein Schock. Es ist eine so schwerwiegende Erfahrung gewesen: Da haben wir einmal gewagt, Widerstand zu leisten, da haben wir einmal den Status confessionis markiert. Wir haben damals gekämpft wie die Berserker, doch wir mussten Loch für Loch zurückstecken. … Das hat uns also schlimm geprägt und Ängste in uns hervorgerufen, die wir nie mehr ganz losgeworden sind.“ Die spätere Haltung der Kirchen in den 1970-er- und 1980-er-Jahren ist nur vor diesen Erfahrungen zu verstehen. Sie mussten lernen, dass die Loyalitätsbereitschaft ihrer Mitglieder die Möglichkeiten ihrer sozialen Wirksamkeit dramatisch einschränkte.
Anders als Ellen Ueberschär mit Verweis auf die Ambivalenzen einer lutherischen Sozialethik insinuiert, hat die Kirche trotz ihrer relativen institutionellen Eigenständigkeit nicht „auf Augenhöhe“ mit dem Staat verhandelt. Spätestens seit dem Mauerbau befand sie sich in einer Bittsteller-Position. Für jedes Kirchendach, das repariert werden sollte, war eine staatliche Genehmigung erforderlich. Insofern war es ratsam, sich den Vertretern des Staates gegenüber konziliant zu zeigen, ihnen gegebenenfalls sogar nach dem Munde zu reden und dem SED-Sozialismus immer wieder gute Seiten abzugewinnen.
Fragt man, welche Rolle der Theologie in diesem Zusammenhang zukam, muss man sagen, dass sie in den 1950-er-Jahren noch ein Autonomisierungspotential gegenüber den staatlichen Zumutungen darstellte. Mit der Verfestigung der politischen Machtverhältnisse verlor die theologische Positionsbestimmung aber an Eigenständigkeit. Augenfällig wurde dies spätestens mit der bewusst indifferent gehaltenen Formel von der „Kirche im Sozialismus“, die mit der Auftragsbestimmung einer „Kirche für Andere“ die zunehmende Kluft zur Gesellschaft offensiv überbrücken sollte. Mitunter diente die Theologie aber auch schlicht zur Selbstberuhigung, indem man die Formel von der „Kirche für Andere“ nun so interpretierte, dass die Kirche in der sozialistischen Gesellschaft auf ihre bürgerlichen Privilegien verzichten müsse. Christoph Demke, der Nachfolger Krusches im Bischofsamt, räumt unumwunden ein: „In Bonhoeffers Situation hatte es einen gewissen Sinn zu sagen, wir müssen Abschied nehmen von der privilegierten Kirche. Aber für uns hatte das eigentlich gar keinen Sinn mehr. Wir haben uns eben auch theologisch überredet, etwas akzeptabel zu finden, was wir eigentlich nicht bejaht haben.“ Wenn es richtig ist, dass die Kirche aufgrund ihres volkskirchlichen Selbstverständnisses sowie aus ordnungstheologischen Erwägungen besonders die Obrigkeit des Staates im Blick hatte und wenn es zugleich richtig ist, dass sie sich als Kirche für Andere gerade für die sozial Benachteiligten einsetzen wollte, dann hat sie je länger, desto mehr eine außerordentlich spannungsreiche Position besetzt, eine Position, die sie zum Kristallisationspunkt der staatlich tabuisierten gesellschaftlichen Konflikte werden ließ.
Besonders evident wird dies, wenn man ihre Stellung zu den politisch alternativen Gruppen rekapituliert. Die Gruppen verkörperten die von der Gesellschaft verdrängten Probleme mit einem emanzipatorischen Anspruch gegenüber Kirche und Staat gleichermaßen. Damit störten sie deren Modus Vivendi. Zwar fühlte sich die Kirche von ihrem sozialdiakonischen Auftrag her für die Gruppen und die von ihnen vertretenen Anliegen zuständig, wollte und konnte aber die ihr staatlicherseits zugedachte Disziplinierungsfunktion gegenüber den Gruppen nicht erfüllen. Sie hat die Aktionen der Gruppen aber auch nicht unterstützt, obwohl nicht wenige Gruppenmitglieder in der Kirche verwurzelt waren. Stattdessen setzte sie bis in die Spätphase der DDR auf vertrauliche Gespräche mit dem Staat.
Auch wenn man den Blick auf die Pfarrerschaft richtet, ergibt sich ein nicht minder ambivalentes Bild. Generell waren die alternativen Gruppen für viele Pfarrer ein Reizthema. Man hegte ihren Anliegen gegenüber vielleicht eine stille Zuneigung, begegnete ihrem unangepassten Habitus aber mit christlichen Identitäts- und institutionellen Verbindlichkeitserwartungen. Praktisch mussten sich die Gruppen ihren Platz in den Kirchen in jedem einzelnen Fall erkämpfen. In Leipzig waren es bis zum Herbst 1989 ganze vier evangelische Pfarrer, die aktiv mit den Gruppen kooperiert haben.
Mit der ökumenischen Versammlung unter den Stichworten Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung wurde 1988/89 ein Deutungsrahmen für die virulenten Probleme hergestellt, der die Themen der Gruppen mit einer christlichen Perspektive verknüpfte. Zwar stellte diese für das Zustandekommen sozialer Bewegungen wichtige Interpretation einen kulturellen Mobilisierungsfaktor dar. Dazu zählen auch das kirchliche Eintreten für Gewaltlosigkeit und die Symbolwirkung brennender Kerzen.
Aber auch wenn man bereit ist, christlichen Überzeugungen einen Einfluss auf den Gang der Ereignisse zuzusprechen, muss man diesen im Vergleich zu den harten machtpolitischen Fakten klar als nachrangig bewerten. Insofern gibt es für die Gewaltlosigkeit des Protests eine schlichte innerweltliche Erklärung: Sich als Demonstrant gegenüber einer mit allen Gewaltmitteln drohenden Staatsmacht selbst jeglicher Gewalt zu enthalten, war vor allem ein Gebot der politischen Klugheit. In einer späteren Phase fungierten Kirchenvertreter als Moderatoren zwischen Staatsmacht und neuen Bürgerbewegungen. Mitunter wirkten sie auch protestverstärkend, indem sie sich zu Sprechern der von den Bürgern vorgebrachten Forderungen machten oder selbst politische Ämter übernahmen. Aber, so vielfältig die kirchlichen Bezüge auf den Gang der Ereignisse im Einzelnen auch waren, für den Erfolg des politischen Umbruchs entscheidend waren die Kirchen ebenso wenig wie die politisch alternativen Gruppen.
Kein Wille zur Macht
Für eine den Umbruch tragende Rolle fehlten beiden die Mobilisierungsfähigkeit, von der Bevölkerung geteilte inhaltliche Vorstellungen sowie Führungspersonal mit dem Willen zur Macht. Die größte Mobilisierung ging von der Ausreisebewegung und der in Reaktion auf diese entstehende Protestbewegung außerhalb der Kirchen aus. Wichtig waren die Kirchen als Kristallisationspunkte der sich entwickelnden Massenbewegung. Sie boten dem Protest eine Gelegenheitsstruktur, ohne ihn selbst hervorgebracht zu haben.
In der Rückschau fällt auf, dass der Einfluss der Kirchen auf den Umbruch dreißig Jahre später in den Medien vorrangig als ein Phänomen der Erinnerungskultur und weniger als Gegenstand historischer Wahrheitsfindung thematisiert wird. Generell zeigt sich, dass viele der damaligen Akteure ihren eigenen Einfluss auf die Ereignisse überschätzen. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand neigen sie dazu, den Erfolg der Protestbewegung vor allem sich selbst zuzuschreiben. Dies geht einher mit der Abwertung anderer Einflussfaktoren. So verständlich der Versuch Ellen Ueberschärs auch erscheinen mag, der von der SED-Diktatur erzwungenen Marginalisierung der Kirchen ein „emanzipatorisches Momentum“ entgegenzusetzen und den Kirchen eine hohe Relevanz für den politischen Umbruch zuzusprechen, so liegt darin auch die Gefahr einer erneuten Selbsttäuschung.
Eine aus der Debatte zu ziehende Lehre könnte also lauten: Nüchternheit, oder theologisch gewendet, Demut in der Reichweite des eigenen innerweltlichen Anspruchs. Auch wenn man den evangelischen Kirchen eine Reihe von instrumentellen, nicht kausalen Bedeutungsdimensionen für den politischen Umbruch zuschreiben muss und auch wenn man in diesem insgesamt eine Revolution erkennen will, wird man die Komplexität aller Einflussfaktoren auf die historischen Ereignisse nicht ernsthaft auf den gemeinsamen Nenner einer protestantischen Revolution bringen können.
Literatur
Hagen Findeis, Detlef Pollack, Manuel Schilling (Hg.): Die Entzauberung des Politischen: Was ist aus den politisch alternativen Gruppen der DDR geworden? Interviews mit ehemals führenden Vertretern. Leipzig/Berlin 1994.
Hagen Findeis, Detlef Pollack (Hg.): Selbstbewahrung oder Selbstverlust. Bischöfe und Repräsentanten der evangelischen Kirchen in der DDR über ihr Leben – 17 Interviews. Berlin 1999.
Hagen Findeis: Das Licht des Evangeliums und das Zwielicht der Politik. Kirchliche Karrieren in der DDR. Frankfurt/M., 2002.
Hagen Findeis
Dr. Hagen Findeis ist Religionssoziologe an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er forscht zu Religiosität in Ostdeutschland. Weitere Informationen: www.religiositaet-in-ostdeutschland.theologie.uni-halle.de