Auf der Streckbank

Schleiermacher kontrovers

Schleiermacher konnten wir nicht mehr glauben“: So hat Karl Barth rückblickend die Initialzündung der „Dialektischen Theologie“ charakterisiert. Unter dem Katastropheneindruck des Ersten Weltkriegs, des moralischen Bankrotts der europäischen Kulturnationen, des empfundenen Endes aller humanen Gesittung, musste „Härteres“ her, damit Kirche und Theologie vor erfahrener Realität bestehen konnten. Daraus entwickelte sich im „Barthianismus“ eine wirkmächtige „steile“ Schultheologie, der manch Heutiger den gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Kirche anlasten will. Seit rund drei Jahrzehnten ist Schleiermacher konzeptionell wieder in der Offensive. Theologiegeschichte vollzieht sich gruppendynamisch-dialektisch.

Angebracht ist heute sicher, Schleiermacher erneut „kontrovers“ zu lesen; allein schon, weil der Protestantismus aus geistiger Auseinandersetzung lebt und es „die“ zeitlose kirchliche Lehre von vornherein nicht gibt.

Was Sven Grosse, Professor an der evangelikal geprägten Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel, herausgegeben hat – eine Reihung von je drei „Pro-“ und „Contra-Schleiermacher“-Artikeln, deren inhaltlicher Leitfaden sich kaum auffinden lässt –, enttäuscht indes gerade den, der als Seelsorger nach der Tauglichkeit akademischer Theologie fragt. Nicht in pastoraler Praxis fokussierte Trost- und Glaubensnot arbeitet sich hier am tradierten Lehrsystem ab; vielmehr findet sich die Theologie Schleiermachers auf der Streckbank hochnotpeinlicher dogmatischer Untersuchung wieder. Das von dem in Liechtenstein lehrenden Philosophen Daniel von Wachter dekretierte Urteil: „Der originale christliche Glaube ist, wenn die christliche Lehre wahr ist, viel erstrebenswerter als die schleiermachersche Frömmigkeit“, bringt in seiner besitzerischen Hybris die Schwäche des Buches auf den Punkt. Herausgeber Grosse gefällt sich als Agent einer „orthodoxen evangelischen Theologie“ und klappert mit Schubladen des „Kanonischen“, schlankweg auch einem Eberhard Jüngel „tiefe Verkennung reformatorischer Theologie“ attestierend. Den inhaltlich stärksten Beitrag liefert Notger Slenczka aus der „Pro-Schleiermacher“-Fraktion, indem er die Lehre vom frommen Selbstbewusstsein und deren inhärentem Gottesverständnis als essentiell christlich erweist.

Der Streit verbleibt im lehrmäßig Rechthaberischen, eine gegenwärtiger Praxis verpflichtete Auseinandersetzung mit Schleiermachers Schule kommt nicht zu Stande. Dabei sollte die zitierte Behauptung Ulrich Barths, Schleiermacher sei den gegebenen „normaleren“ gesellschaftlichen Bedingungen angemessener als die in der Konfrontation mit Krieg und Totalitarismus geprägten „Dialektiker“, angesichts global zugespitzter Herausforderungen christlicher Existenz doch Rückfragen provozieren. Wirken Schleiermachers Zurücksetzung der Kreuzesbotschaft zugunsten der „Kräftigkeit des Gottesbewusstseins“ Jesu und sein Unverständnis für das Alte Testament mit dessen skeptischer Anthropologie vor gegenwärtigen Erfahrungen mit Bosheit, Tod und Unrecht nicht allzu prekär? Ist es kirchlich nicht geradezu fahrlässig, eine Theologie der bürgerlichen Zeitgenossenschaft des 19. Jahrhunderts zum Eichmaß des heute Normalen zu erheben?

Was Schleiermacher bei allen Unterschieden mit Karl Barth und den Reformatoren eint, ist die kirchliche Erdung der Theologie. Genau diese solidarische Bindung an Verkündigung und Seelsorge, die Bereitschaft, Glaube und Zweifel zeitgenössischer Menschen auszuhalten, lässt der Band insbesondere bei den „Contra“-Beiträgen vermissen. Weder erreicht solche Kritik den Kern von Schleiermachers Erbe noch verdient dieses eine solche Behandlung.

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