Sparen hat einen schlechten Ruf. Viele Wirtschaftsexperten werben momentan für eine robuste Ausgabekultur. Falsch, sagt Klaas Huizing, Schriftsteller und Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg. Er plädiert für eine Neuentdeckung des Sparens, um den selbstzerstörerischen und lebensfeindlichen Tendenzen eines ästhetischen Kapitalismus zu entgehen.
Weltspartag. Dieses Wort hatte in meiner Jugend einen guten Klang. Es erinnerte an Weihnachten, aber der häufige Kirchgang blieb erspart; es erinnerte an den Geburtstag, aber jeder meiner Freunde und ich, wir alle hatten an diesem einen Tag, dem 31. Oktober, ein bisschen Geburtstag; es erinnerte an den Tag der Zeugnisvergabe, man wollte gelobt werden und nicht durchfallen.
Meine älteste Schwester fiel in einem Jahr leider durch. Weil das mit einem Generalschlüssel geöffnete Sparschwein meiner ältesten Schwester verdächtig viel Kleingeld, aber nicht einen einzigen müden Geldschein zu Tage förderte, wurde sie an einem 31. Oktober vom Sparkassendirektor höchstpersönlich mit dem Satz gerügt: „Du gibst dein Geld offenbar für Firlefanz aus.“
In intelligenten semantischen Variationen sprach der Sparkassendirektor dieses Urteil wiederholt aus, und ich argwöhne, dass alle Eltern für diese Rüge über den Spartrotz ihrer Racker durchaus dankbar waren. Denn noch an diesem Abend entwarf meine Schwester, von der Scham schwer gezeichnet, einen Sparplan, an den sie sich in den nächsten zwölf Monaten beinahe sklavisch hielt und wiederholt den Kauf von Firlefanz zurückstellte. Mein Vater mogelte am Abend vor dem 31. Oktober des nächsten Jahres noch einen Zwanzig-Mark-Schein in ihr Sparschwein, und meine Schwester ging siegessicher zur Sparkasse, war aber nachhaltig darüber enttäuscht, auf einen jungen Angestellten zu treffen, weil der Sparkassendirektor inzwischen in den Ruhestand getreten war. Sie konnte ihren, wie meine Mutter urteilte, schlechten Eindruck vom letzten Jahr nicht korrigieren und fiel vielleicht deshalb wieder in ihren lebenslangen Spartrotz zurück.
Ich besitze noch eine Geschenkbeigabe, eine abgegriffene Stiftebox aus Holz, später gab es auf Modernität schielende I-Phone-Ständer und Uhren in kläglichem Design. Und natürlich waren in den calvinistischen Hochburgen der Grafschaft Bentheim und Ostfriesland die von den Bankern gehobenen Sparguthaben außerordentlich. Sparen als Beruf, frei nach Max Weber. Gott ließ Segen auf der Arbeit (auch der Spararbeit) ruhen, wie das Sparbuch sinnstiftend mit einem Blick zu erkennen gab. Das protestantische Sparbuch war die zivilisierte Alternative zum Erwerb katholischer Staatsanleihen auf das künftige Himmelsreich.
Im Sparkassendeutsch gibt es eine wünschenswert klare Definition, die inklusiv gilt: Sparen „ist eine Tugend und eine Praktik, die grundlegend ist für den gesellschaftlichen Fortschritt eines jeden Einzelnen, einer jeden Nation, und der gesamten Menschheit!“ (Weltinstitut der Sparkassen). Dieser Satz steht auf der aktuellen Homepage der Sparkasse. Menschen mit Spartrotz wie meine Schwester sind also tugendethisch suboptimal aufgestellt und versündigen sich an der gesamten Menschheit. Ein weiterer Eintrag auf der Homepage der Sparkasse vermerkt angestrengt humorgeladen: „Die Spareinlagen der privaten Haushalte lagen Ende 2018 bei 585,6 Milliarden Euro. Fast die Hälfte dieser Beträge liegt auf Sparbüchern. Das Sparschwein scheint das beliebteste Haustier der Deutschen zu sein.“ 50 Prozent der privaten Haushalte beteiligen sich also offensiv am gesellschaftlichen Fortschritt der gesamten Menschheit. Das ist schön und gut, oder? Oder offensiv dumm! Muss die Empfehlung nicht lauten: Wechseln Sie dringend das Haustier! Misten Sie den Saustall endlich aus!
Thema im Frühstücksfernsehen am 22. August 2019 war die Auskunft, Bundesfinanzminister Olaf Scholz wolle Strafzinsen auf private Sparguthaben bis zu 100 000 Euro verbieten lassen. Die gebeutelte spd entdeckt die Sparer. Bravo? Langsam. Zunächst: Auch das Wort Strafzinsen speichert eine moralische Aufladung, Sparen wird unter Strafe gestellt, weil der gesellschaftliche Fortschritt sich offenbar am Konsum, nicht länger am Sparen orientiert. Ziel ist die Förderung der Binnennachfrage auf den Märkten. Aber: Diese Wirtschaftspolitik fällt bekanntlich nicht vom Himmel, sondern ist Ausdruck des politischen Willens. Die Niedrigzinspolitik der europäischen und außereuropäischen Zentralbanken, die Politik des billigen Geldes, soll verschuldeten Staaten (den moralischen Schuften) etwas Luft verschaffen und gute Haushälter (an dieser Stelle wird gerne, leider ironiefrei, die schwäbische Hausfrau aufgerufen) mit der Schwarzen Null und dem Abbau der Schulden belohnen.
Auf der Makroebene mag das wie ein Gewinn erscheinen, für den Sparer auf der Mikroebene ist es ein Malus. Schon auffallend lange spielen die Sparzinsen die Inflationsrate nicht mehr ein, jetzt verliert der Sparer sogar Teile des Kapitals. Ein vor den Finanzkrisen noch alltäglicher, mit Stolz unterfütterte Satz: Ich gehe zur Bank, um die Zinsen nachtragen zu lassen, ist aus dem aktuellen Wortschatz verschwunden. Er darf nur noch mit Wehmut zitiert werden.
Eine zweite, vielleicht noch kräftigere Einbuße hat der Sparer an anderer Stelle zu verkraften. Das Thema wird zwar regelmäßig en passant genannt, gewinnt aber nicht die Hoheit in den Diskussionsforen. Ich meine das Abschmelzen der Überschussbeteiligung bei den Lebensversicherungen. Als private Säule der Vorsorge fürs Alter gepredigt, ist diese Säule inzwischen extrem brüchig geworden. Wer etwa vor vierzig Jahren eine Lebensversicherung über 100 000 D-Mark abgeschlossen hat, wurde mit einem Versprechen von bis zu 30 000 D-Mark Überschussbeteiligung geködert, also der Ausschüttung eines Gewinns, die der Versicherer über den vereinbarten Zins hinaus erwirtschaftet. Durch die Finanzkrisen wurde der Spielraum der Versicherer so schmal, dass sie ihre avisierten Überschüsse lieber stillschweigend sukzessive kassierten. Der Verlust der in die Lebensvorsorge eingespeisten Überschüsse ist bei den privaten Sparern oft nicht mehr auszugleichen. Nur äußert verhalten verbessern sich inzwischen die Aussichten auf den Finanzmärkten, kleine Überschüsse werden wieder (zumindest auf dem Papier) zugeteilt.
Die Stärkung der Binnennachfrage ist auch Reaktion auf politischen Druck von außen. Deutschland, der Exportweltmeister, der gewaltige Überschüsse erwirtschaftet, wird aufgefordert, die Überschüsse abzubauen, indem die eigenen Märkte leichter zugänglich werden und zugleich die Binnennachfrage in den Fokus rückt. Wie aber den bockigen deutschen Sparer und die schwäbische Hausfrau vom trainierten Sparen abbringen?
Das gelingt nur, so die Pointe, indem man klammheimlich eine metaphysische Grundunterscheidung kapert und ökonomisch umfrisiert. Der Philosoph Gernot Böhme hat diese unfeine Methode so getauft: Ästhetischer Kapitalismus. Um die Wachstumsspirale weiterhin zu bedienen, habe, so interpretiere ich Böhme, die Ökonomie die zentrale Unterscheidung der französischen Differenzphilosophie, die Unterscheidung von besoin (Bedürfnis) und désir (Verlangen), die Emanuel Levinas für seine Phänomenologie des Anderen, Georges Bataille für die Erotik oder Jacques Derrida für seine Theorie der Gabe verwenden, ausgeliehen und dem Ästhetischen Kapitalismus als Modul eingebaut.
Weil die Bedürfnisse in unseren Gesellschaften zunehmend befriedigt sind, muss sich die Bedürfnisstruktur sehr grundsätzlich ändern: aus Bedürfnissen müssen „Begehrnisse“ werden. „Begehrnisse sind solche Bedürfnisse, die dadurch, dass man ihnen entspricht, nicht gestillt, sondern gesteigert werden. Bedürfnisse im engeren Sinne, etwa zu trinken, zu schlafen oder sich vor der Kälte zu schützen, verschwinden in dem Moment, in dem sie gestillt werden. Das ist bei Begehrnissen anders: Wer Macht hat, will mehr Macht, wer berühmt ist, will noch berühmter werden und so weiter. Wichtig ist, dass es Begehrnisse gibt, die direkt ökonomisch ausgebeutet werden können. Und gerade diese richten sich auf die Inszenierung und damit die Steigerung des Lebens. Für Ausstattung, Glanz und Sichtbarkeit gibt es keine natürlichen Grenzen. Vielmehr verlangt hier jede Stufe, die man erreicht, nach einer weiteren Steigerung. Da Wachstum wesentlich zum Kapitalismus gehört, muss die kapitalistische Produktion in einem bestimmten Entwicklungsstadium, das durch die grundsätzliche Befriedigung der Bedürfnisse einer Bevölkerung charakterisiert ist, für das Weitere explizit auf die Begehrnisse setzen. Die Wirtschaft wird damit zur ästhetischen Ökonomie.“
Trickle-down-Effekt
Böhme entdeckt einen neuen Typ von Konsum, häufig offen ausgestellte Verschwendung, die früher klassenspezifisch gebunden, jetzt durch den Trickle-down-Effekt, „die Ausbreitung der Verschwendungswirtschaft auf die ganze Gesellschaft“, massenwirksam geworden ist. Flanieren ist nicht länger eine Haltung für die höheren Stände, sondern gehört zum guten Geschmack breiter Schichten. Kaufen als Life-act in Shoppingmalls, gerne auch per Flugzeug als Wochenendtrip gebucht, nicht die erstandenen Waren, die allenfalls als Statussymbole herhalten, sind das Ziel.
Waren leben von ihrem „Inszenierungswert“. Für die Umstellung von Bedürfnissen auf Begehrnisse macht Böhme eine Kulturrevolution aus, die „eine Abkehr von der protestantischen Ethik“ bewirkt hat: die Kulturrevolution der Studentenbewegung, die auch dem „asketischen Marxismus“ abschwor und etwa mit Bataille und dann Herbert Marcuse, der sich am Asketismus von Freud abarbeitete, auf das Lustprinzip setzte. Offenbar versäumte die Ökonomie es nicht, die Revolution auf ihre Fahnen umzulenken. Nachvollziehbar wird in dieser Lesart, warum breite Schichten diesem Leistungsprinzip der Verschwendung so lustvoll folgen, bis auch die Kunst der Verschwendung und der glückliche Gefühlshaushalt doch als Stress erfahren werden und „eine neue Zivilisationskrankheit, das „Burn-out-Syndrom“ Raum greift. „Die Entstehung dieser Begehrnisse nach Gesehen-Werden, nach Ausstattung, nach Selbstinszenierung sind die Basis einer neuen, praktisch unbegrenzten Ausbeutung. Auf ihrer Basis kann Konsum zur Leistung gemacht werden, wird das Leben im Überfluss zum Stress und die Verausgabung zur Pflicht. Unter diesen Bedingungen wird man wohl den souveränen Menschen anders als Bataille bestimmen müssen, und Ausdrücke wie ‚Solidarität‘, ‚Ernst‘ und ‚Askese‘ könnten einen neuen Sinn erhalten.“
Böhmes Essays verstehen sich als Kritik dieses ästhetischen Kapitalismus. Wo aber gibt es noch Orte der Askese und der Muße, wenn die Inseln der Entspannung: Eros, Kunst und Spiel, zu Stadien oder besser: Lagern der Ertüchtigung umgebaut werden? Keine Verschonung vor der Leistung. Nirgends. Bis auch die Fittesten zu den Beschädigten zählen und nach Konsolidierung in Reha-Centern verlangen.
Vielleicht kann nur eine Kultur des Sparens hier erneut gegensteuern, sofern es gelingt, den spießigen Eindruck am Sparen zurückzufahren. Askese spart am Konsum, unterbricht die Spirale der Überbietung, gewinnt Wertschätzung am Kleinen, erlebt etwa die Konzentration auf eine sparsame, kleine Feier als Gewinn; Ernst spart an jokologischer Verausgabung, konzentriert sich auf das, was mit letztem Ernst zählt, ohne ein Spaßverderber zu sein; und Solidarität entdeckt den Charme des Statusverzichts, die Erlösung von den Torturen unendlicher Selbstdarstellung. Lässt sich in medialisierten Zeiten mit Selbstdarstellungen überhaupt sparsam umgehen?
Es geht, wie ein prominentes Beispiel aus der Kulturszene zeigt. Von Anfang an der Gier nach Sichtbarkeit widerstanden hat die italienische Schriftstellerin Elena Ferrante, die unter diesem Pseudonym zunächst drei Romane, die durchaus Aufmerksamkeit – die ersten Romane wurden nach dem Erscheinen schnell verfilmt – auf sich zogen, bis dann die vierbändige neapolitanische Saga über eine lebenslange Freundschaft die Autorin weltbekannt machte. Detektivischer Spürsinn wollte die Identität lüften, aber die Autorin selbst hat in ihrem großartigen Buch Frantumaglia ihren Weg, auch der Verlegerin und dem Verleger gegenüber, immer wieder verteidigt, nur über ihre Bücher präsent zu sein. Mit feinem Ernst überzeugen diese Romane. In ihrem Roman Frau im Dunkeln lässt sie einen Protagonisten nicht zufällig sagen: „Heute haben sie alles, die Leute machen Schulden, um sich irgendeinen Blödsinn zu kaufen.“
Sparen markiert eine zivilisierte Unterbrechung spontaner Kaufgelüste, kann damit zwischen Gütern abwägen und schafft zugleich eine Knautschzone, um vor plötzlich finanziellen Turbulenzen besser geschützt zu sein. Sparen hat tugendethische Valenzen und schafft Freiräume. So gedeutet, lag auch der damalige Sparkassendirektor mit seiner leicht giftigen Bemerkung nicht ganz falsch.
Weltspartag? Ich plädiere dafür, den (protestantischen) Weltspartag, vorsichtig umgewidmet, nicht voreilig aus dem Kalender zu streichen.
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.