Ein Bekenntnis zur Umwelt-Häresie
Der Theologe und Kulturwissenschaftler Andreas Mertin, Herausgeber des Online-Magazins www.theomag.de aus Hagen (NRW), widerspricht dem Nürnberger Theologieprofessor Ralf Frisch im Blick auf dessen Text „Zwischen Klimahysterie und Klimahäresie“ entschieden.
Wenn man sonst nichts Wichtiges zu tun hat, entfacht man einen Streit, denn Streit belebt das Geschäft. So ähnlich könnte der Text zum Thema „Klimahysterie und Klimahäresie“ auf zeitzeichen.net entstanden sein (https://zeitzeichen.net/node/7759). Und da ich gerade einen freien Nachmittag habe, beteilige ich mich daran. In der Sache, um die es geht, wären freilich umfangreiche Auseinandersetzungen notwendig. Das kann hier nicht geleistet werden. In der kommenden Oktober-Ausgabe von tà katoptrizómena, dem Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik (www.theomag.de) werde ich das nachholen. Was ich an dieser Stelle leisten kann und möchte, sind einige Zuspitzungen und einige Abmilderungen, die der Debatte vielleicht zuträglich sind.
Zunächst einmal bekenne ich aus vollem Herzen: ja, ich bin ein Umwelt-Häretiker – freilich in einem völlig anderen Sinne, als es der initiale Text der Debatte von Ralf Frisch nahelegt. Ich meine, wir müssten mehr Häresie wagen, Häresie ist not-wendig, weil sie eine Not zu wenden sucht. Der Sprachgebrauch von „Häresie“ ist im marginalen Bereich der Theologie freilich ein anderer als in den Kirchengemeinden und noch einmal ein völlig anderer in der säkularen Kultur, auf die ich mich beziehe. Das ist mir wichtig. Tatsächlich ist vor einiger Zeit ein Buch mit dem Titel „Environmental heresies“ erschienen, das dem, was Ralf Frisch meint wahrnehmen zu können, diametral zuwiderläuft. In der säkularen Kultur bezeichnet „Environmental heresies“ die notwendig auszubildenden Binnendifferenzierungen des ökologischen Diskurses, weg vom Entweder–Oder (das Frisch in den Vordergrund stellt), hin zur Klärung der Grundlagen und der verwendeten Begrifflichkeiten. Genau in diesem Sinne bekenne ich mich zur Umwelt-Häresie, also so, wie sie von Juha Hiedanpää und Daniel W. Bromley in ihrem Buch beschrieben wird: als notwendige Klärung der Begrifflichkeiten, die man verwendet und der Rahmungen, auf die man sich bezieht.
Mein erster Einwand gegenüber den Ausführungen von Frisch bezieht sich darauf, dass er an keiner Stelle belegt, dass irgendjemand in der Kirche in Klimafragen überhaupt den status confessionis erklärt hat, der Voraussetzung einer Häresie-Diagnose wäre. Als Systematischer Theologe weiß Frisch, dass es Kriterien für Häresien gibt. Zunächst bedarf es einer Vorstellung von der reinen Lehre, von der aus man Abweichungen festlegen kann. Zweitens bedarfs es Kriterien, die die Häresie als Abweichung vom Glauben an Jesus Christus erkennbar werden lassen. Und schließlich, dass ist gerade im Blick auf den Protestantismus wichtig, bedarf es einer Instanz, die namens der Gläubigen die Verfälschung feststellt und die Häretiker ausschließt. Ich glaube, dass im vorliegenden Beispiel der Umweltfragen überhaupt keines dieser Kriterien erfüllt ist. Dann kann man nur noch heuristisch, metaphorisch, fahrlässig oder eben bewusst irreführend von ‚Häresie“ reden.
Oder es geht um etwa ganz anderes, nämlich um die „gefühlte Häresie“. Meine Vermutung ist, dass Ralf Frisch die Situation so wahrnimmt, dass einige Klimaskeptiker sich von Andersdenkenden wie Häretiker behandelt fühlen. Nur ist ein derartiges Gefühl noch keine vollzogene Lehrverurteilung. Wenn man zu jemandem sagt, „das glaube ich dir nicht“, dann fühlt er sich vielleicht ausgegrenzt – aber dennoch muss der Sachverhalt geklärt werden. Denn unter vernünftigen Menschen kann nicht das verletzte Gefühl, sondern nur die konkrete und korrekte Beurteilung der Aussage der Streitpunkt sein. Und da sage ich: im Moment erklärt niemand in Sachen Ökologie den status confessionis.
Bedenken sollte man aber auch: Es gibt konsensuelle Vereinbarungen der Kirchen im Rahmen des konziliaren Prozesses. Hier hat man sich auf bestimmte Orientierungsmarken im Blick auf die Schöpfung und die Ökologie geeinigt. Wer sich daran nicht halten will, ist aber noch lange kein Häretiker im klassisch theologischen Sinn. Er trägt nur zum Pluralismus des Protestantismus bei.
Mein Bekenntnis zur Häresie, wie sie nicht nur im säkularen Bereich bestimmt und ausgearbeitet wurde (Peter L. Berger: Der Zwang zur Häresie], meint also: wählen und differenzieren wir unsere Argumente. Zur Differenzierung gehören aber auch kommunikative Basics, auf die sich beide bzw. alle Seiten einlassen müssen. Das ist kein Zwang, sondern diskursethische Voraussetzung, damit überhaupt sinnvolle Gespräche zustande kommen. Dazu gehört, nicht ad personam zu argumentieren, keine – und seien es noch so subtile – Beleidigungen vorzunehmen, sondern den jeweils anderen ernst zu nehmen – soweit er sich nicht selbst außerhalb der Diskursgemeinschaft stellt. Ich meine, dass eine Bezeichnung wie „Fuck you Greta“ und sei es als provozierendes Zitat, diese Diskursgrenze weit überschritten hat. Das ist indiskutabel! Hier muss mächtig abgerüstet werden.
Zur Diskurskultur gehört auch, dass man mediale Zuschreibungen nicht den handelnden Figuren zurechnet. Greta Thunberg kann nichts dafür, dass einige Medien sie zur Ikone oder zur Zielscheibe erklärt haben. Sie muss in ihrem Sachanliegen wahrgenommen und diskutiert werden. Hier gilt Martin Luthers Auslegung des achten Gebots: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.“ Genau das sehe ich im Umgang mit Greta Thunberg gerade im Artikel von Ralf Frisch konkret verletzt. Nicht einmal im Ansatz erkenne ich ein Bemühen um ein Verständnis dessen, was Greta Thunberg und die Bewegung „Fridays for Future“ antreibt – ganz im Gegenteil, ich würde es als Hetze bezeichnen. Auch so etwas ist indiskutabel.
Als problematisch empfinde ich auch, wenn Theologen die säkulare Kultur mit religiösen Begrifflichkeiten umzingeln und einholen und nicht nur deuten wollen. Hier treffen sie sich seit einiger Zeit mit Diskursen am rechten Rand unserer Gesellschaft, die damit freilich andere Intentionen verbinden. Von Klima-Sekte, Klima-Göttern, Prophetinnen und Allerheiligstem, von Umwelt-Religion usw. reden die Rechten, um zu zeigen, dass Umweltschutz ja nur ein Glaube und deshalb nicht begründet sei. Und konservative Theologen reden so, um zu zeigen, dass es ja nicht die richtige Religion ist. Beides halte ich im Blick auf die Sache (und das ist ja nicht weniger als die Zukunft unseres Planeten) für nicht förderlich. Es ist billig, die Ökologiebewegung erst in religiöse Begrifflichkeiten zu pressen, um ihr dann vorzuhalten, sie vermöge aber den dogmatischen Standards nicht gerecht zu werden. So geht es nicht.
Auch leicht durchschaubare rhetorische Spielereien wie die Entgegensetzung von sozialer Kälte und Klimaerwärmung sollte man unterlassen. Derartige rhetorische Taschenspielertricks, die sich leicht der Willkürlichkeit überführen lassen (als wenn nicht gerade die AfD zur sozialen Kälte in Deutschland beigetragen hätte), lassen an der Ernsthaftigkeit des Diskutanten zweifeln.
Zu meinem Verständnis von Häretisierung der Umweltdebatte gehört es weiterhin, zu klären, wo Umweltbewegung und konziliarer Prozess zusammentreffen und ob und wo Differenzierungen vorzunehmen wären. Ernstgenommen werden muss aber auch, dass die Umweltbewegung nicht möchte, dass sie von vorneherein unter dem Etikett des nur Vor-Letzten behandelt wird. Ich unterhalte mich nicht gerne mit Leuten, die den eschatologischen Vorbehalt immer als Joker in der Hinterhand haben.
Zur Häretisierung der Umweltdebatte in dem von mir intendierten Sinn gehört es, dem anderen nicht vorzuhalten, er glaube nicht richtig an Gott und seine Wirkmacht, wenn er etwa Evangelium und Gesetz hochhält. „Wirklich als ein Zweites, Anderes tritt das Gesetz immer wieder neben das Evangelium, gleich wahr und gebieterisch und notwendig, weil der eine Gott hinter beiden steht, weil der eine Heilige Geist beides dem Menschen schenkt: die Gewissheit der Rechtfertigung des Sünders vor Gott und den Antrieb zur Heiligung desselben Sünders vor demselben Gott“ [Karl Barth]. Oder wenn man – wie Dorothee Sölle es entworfen hat – ein Konzept der „Hände Gottes“ vertritt. Im Diskurs kann man darlegen, welche Ideen man selbst vertritt und welche Ideen des Gegenübers einem problematisch erscheinen.
Persönlich will ich daher auch gar nicht verhehlen, dass ich mit dem von Frisch skizzierten Modell der Priorisierung der Wirkmächtigkeit Gottes Probleme habe. Ich will das in einer Zuspitzung verdeutlichen: Ende der Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts fragten sich die Christen, wie das grauenhafte Geschehen im Dritten Reich in ein theologisches Modell eines wirkmächtigen Gottes integriert werden kann. Wie kann eine Theologie nach Auschwitz aussehen? Dabei hatte etwa Helmut Thielicke eine völlig andere Antwort parat als etwa Dorothee Sölle. Er schrieb: „Gottes Gerichte haben … sehr oft einen ganz anderen Stil: Er lässt ... (die Menschen) einmal so weitermachen, damit sie sehen, wie weit sie kommen. Er ließ das Experiment des Dritten Reiches konsequent bis zu Ende durchspielen, und keines der sieben oder elf Attentate auf Hitler durfte dieses Experiment unterbrechen, niemand durfte seinen kommenden Gerichten in den Arm fallen oder sie vorwegnehmen. Das ist ein konsequenter Glaube an die Wirkmächtigkeit Gottes, ein Glaube, der einem zugleich den Atem verschlägt. Denn konsequenterweise werden die Hitlerattentäter zu Menschen, die nicht an die Wirkmächtigkeit Gottes glauben. Und deshalb durfte nach Gottes Willen eben auch keines der Attentate gelingen, mussten Millionen Menschen sterben, damit Gott seine Wirkmacht erweisen konnte. Das ist eben auch eine mögliche Lesart des unbedingten Vertrauens in die Wirkmächtigkeit Gottes. Noch einmal Helmut Thielicke: „Das Leiden ist auf keinen Fall programmwidrig. Was auch an Grauen uns umgeben mag; dies alles kann unserem Herrn die Pläne nicht durchkreuzen, sondern das alles liegt gerade im Zuge seiner Pläne.“ Ich will Ralf Frisch keinesfalls unterstellen, dass er Thielickes Position teilt. Ich will nur aufzeigen, wie problematisch ein solches Beharren auf der unbedingten Wirkmächtigkeit Gottes im Kontrast zum Wirken des Menschen sein kann.
Im Zuge meiner Idee einer positiven Häretisierung der Umweltdebatte wäre nun darum zu ringen, wie man a) Fallen wie die des Theologen Helmut Thielicke vermeidet, b) die sich als säkular verstehenden Umwelt-Aktivisten nicht vorab rhetorisch religiös eingemeindet, und c) auch nicht den Gedanken einer spezifisch theologisch begründeten Umweltethik, die in den öffentlichen Diskurs eingebracht wird, aufgibt. Die Hoffnung, dabei könne man die reine Lehre aufrechterhalten, ist jedoch von vorneherein illusionär, das würde in der Selbstghettoisierung enden. „Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern“ (Theodor W. Adorno). Das muss man nicht bedauern, sondern kann es als beiderseitigen Gewinn lesen: „Die postsäkulare Gesellschaft setzt die Arbeit, die die Religion am Mythos vollbracht hat, an der Religion selbst fort. Nun freilich nicht mehr in der hybriden Absicht einer feindlichen Übernahme, sondern aus dem Interesse, im eigenen Haus der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegenzuwirken.“ (Jürgen Habermas). Die Religion plausibilisiert sich so in eine um die Zukunft der Welt ringende Gesellschaft. Und hier muss sie zeigen, inwiefern sie Motive einbringen kann, die bei der Gestaltung der Welt hilfreich sind. Ich weiß, dass sie das kann, dass sie das muss und dass die Gesellschaft das von ihr auch erwartet.
Andreas Mertin
Andreas Mertin, Jahrgang 1958, ist Gründer und Herausgeber des seit 1998 im Internet erscheinenden Magazins tà katoptrizómena, dem Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik (www.theomag.de). Der Theologe und Kulturwissenschaftler (www.amertin.de) ist u.a. auch als Kurator von Ausstellungen tätig und lebt in Hagen (NRW).