Der Doppelpunkt im Gesangbuch
Ein Kirchenlied feiert Geburtstag. Feierte, um präzise zu sein. Erwägungen zu einem modernen Choralklassiker, der in diesen Tagen 30 Jahre alt wird: "Vertraut den neuen Wegen" von Klaus-Peter Hertzsch
Ein Kirchenlied feiert Geburtstag. Feierte, um präzise zu sein: Für eine Hochzeit eines Patenkindes am 4. August 1989 schrieb Klaus-Peter Hertzsch (1930-2015), Professor für praktische Theologie in Jena und ein begnadeter Dichter dazu, seinen Text „Vertraut den neuen Wegen“. Die radikalen Umwälzungen dieses und des folgenden Jahres brachten es mit sich, dass das Lied schnell weithin bekannt wurde und heute wohl zu den meistgesungenen Liedern im Evangelischen Gesangbuch zählt, in das es rasch noch aufgenommen wurde.
Klaus-Peter Hertzsch war ein bezaubernder Kollege, ungemein neugierig auf andere Menschen – und so haben wir einmal zusammen eine universitäre Seminarveranstaltung über dieses Lied durchgeführt, irgendwann im Sommer 1995. Ich erinnere mich noch genau, wie Hertzsch erzählte, dass er kurz vor der Drucklegung des neuen Gesangbuchs 1992 noch einmal Gelegenheit bekam, den Text durchzusehen und zu modifizieren. Und er erzählte dann in seiner sehr charakteristischen, plastischen Art, wie er versuchte, ein Detail aus der Verszeile zu glätten, mit dem er seit längerem unglücklich war: „Vertraut den neuen Wegen, / auf die der Herr uns weist, / weil Leben heißt: sich regen, / weil Leben wandern heißt“. Hertzsch deklamierte den Vers: „Weil Leben heißt – Doppelpunkt – sich regen“. Und da verstanden alle, die ein halbwegs sensibles Gefühl für Sprache haben: Ja, das könnte man wahrscheinlich eleganter lösen. Ohne Doppelpunkt. „Mir ist aber nichts eingefallen“, schloss Hertzsch seine Geschichte. Und so steht der Doppelpunkt heute noch im Gesangbuch, genauso wie auf den vergilbten Zetteln aus dem Sommer 1989, auf denen das Lied für die Hochzeitsgäste zum Singen erstmals abgetippt war.
Nur selten im Leben bekommt man so explizit wie Klaus-Peter Hertzsch 1992 Gelegenheit, Worte noch einmal zu ändern und Formulierungen gleichsam zurückzuholen. In der Wissenschaft gibt es immerhin die zweite Auflage – aber meist wird „unverändert nachgedruckt“, höchstens „geringfügig ergänzt“. Und welche Bücher gehen in der Wissenschaft schon in die zweite Auflage? Im Internet könnte man natürlich auch (und durchaus etwas leichter als beim Druck) korrigieren, obwohl da – wie bei der ersten Auflage – die originale Fassung mindestens für die, die etwas von der Sache verstehen, immer noch sichtbar ist. Aber vor allem in den Social Media ist es meist zu spät, zu korrigieren. Da ist der Sturm der Entrüstung schon längt in Gestalt von Hunderten von Tweeds oder Facebook-Einträgen über die Person hereingebrochen, die gern etwas zurückholen möchte. Schließlich macht man gelegentlich die Erfahrung, dass ein im persönlichen Gespräch geäußertes unbedachtes oder zorniges Wort, dass man gern ungeschehen machen würde, nicht mehr vergessen wird und vielleicht auch nicht mehr vergessen werden kann.
Es ist ein wunderbares Geschenk, wenn man gelegentlich Worte korrigieren oder gar zurückholen kann. Beispielsweise, wenn einer zu einem sagt: „Vergeben und vergessen“. Da dieses wunderbare Geschenk aber sehr rar ist, empfiehlt es sich, Worte lieber gleich von Beginn an sehr sorgfältig zu wählen und zu setzen. Sonst geht es einem wie einem Bischof aus dem Nordosten des Landes in den vergangenen zwei Wochen. Aber auch hier ist es nicht zu spät, Worte, die in der Welt sind, auch explizit zu korrigieren. Denn nicht immer ist das so schwierig wie bei dem Doppelpunkt vor „sich regen“ im (auch ohne jede Korrektur ganz wunderbaren) Lied von Klaus-Peter Hertzsch.
Christoph Markschies
Christoph Markschies ist Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er lebt in Berlin.