Alte Zeiten

Musikhistorisches Statement

Man trifft zuweilen Leute, die unter „Tradition hochhalten“ das Überhöhen des nie Durchdachten verstehen. Der Schwatz von Identität und Werten folgt dem gern auf dem Fuße, dargeboten mit so beleidigter wie kampfbereiter Miene, was diese Münze indes auch nicht deckt, sondern bloß ihre Gefrierschrankaffinität entlarvt.

Dabei meint doch Tradition das Überlieferte, das Hergebrachte, in dem Leben steckt und bereits dem Wortsinne nach Bewegung. Es geht um das, was nährt, leben lässt. Man mag dies dialektisch nennen, dynamisch ist es allemal und warm: Eine Bruchkante, auf der Rihannon Giddens’ Album „There Is No Other“ schön, ergreifend, tief beseelt und vor allem unumstößlich tanzt. Die US-Amerikanerin sieht sich als Schwarze vom Land, weshalb sie HipHop-Projekte auch nicht interessierten. Ihr Ding sind Traditionen der so genannten Old Time-Music, landläufig Hillybilly genannt: Folk der Landbevölkerung mit europäischen wie afrikanischen Wurzeln, die heute fälschlich – musikhistorisch längst widerlegt – weiß konnotiert ist. Giddens hat sich mit dem Italiener Francesco Turrisi zusammengetan, der in Irland lebt. Der Multi-Instrumentalist ist spezialisiert auf Rahmentrommeln und historische Musik. Bei vier Songs kommt am Cello Kate Ellis hinzu, zwölf sind es insgesamt. Die Spanne reicht vom kunstliedhaft lyrischen Ten Thousand Voices bis zum sanft intensiven He Will See You Through, einem Segens-Lullaby am Ende, beides Eigenkompositionen – dazwischen rhythmisch markant Kräftigeres und Tänze wie Briggs Forró oder Pizzica di San Vito, ein apulischer Umwerbungstanz und ein Traditional wie das bekannte Wayfaring Stranger. Zu der Gruppe gehört auch Little Margaret, eine englische Geisterballade aus dem 14. Jahrhundert, in der es um eine Verstorbene und ihren Bräutigam geht – nur Giddens’ Stimme und Turrisi an der Daf, einer persischen Rahmentrommel, im Klang tief und satt, dramatisch synkopierter Drone-Sound. Das ist purer Stoff und ein kraftvollerer Song nicht vorstellbar. Im Kontrast zum folgenden Black Swan wird das noch deutlicher. Hier ist der Abstieg in den Abgrund als jazzig- psychedelische Reise inszeniert. Letter hingegen erinnert im Sound an The End von den Doors: Was ein Cello Banjo so alles kann! Und dann erst ihre Stimme – Giddens hat den Blues, den Spirit der Appalachen, sinnliche Pizzica-Wucht und intime Kunstlied-Verlorenheit, kann ausgelassen irisch-keltisch vorpreschen und iberisch-maurisches Tremolo. Und hinreißende instrumentale Virtuosität kommt hinzu. Genre- und Regionen-Raster verblassen da. Das von Joe Henry kongenial produzierte „There Is No Other“ ist insofern auch musikhistorisches Statement, vor allem aber eine Wucht und absolut „Album des Jahres“-verdächtig.

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