Hoch emotional

Ethische Überlegungen zur Lebensform Adoption
Theissen
Foto: dpa/ Mascha Brichta

Etwa 4 000 Kinder werden pro Jahr in Deutschland adoptiert. Aber was geschieht da eigentlich genau und wie ist es einzuordnen? Henning Theißen, außerordentlicher Professor für Systematische Theologie an der Universität Greifswald, betrachtet und bewertet das Phänomen der Adoption aus ethischer Perspektive.

Für das öffentliche Interesse am Phänomen Adoption bei doch seltenem Vorkommen sehe ich außer etlichen Prominenten, die adoptiert haben, drei Gründe. Alle haben auf irgendeine Weise Familie. Außerdem verbinden sich mit einer Adoption die hoch emotional, aber auch mit oft stillem Leid besetzten Themen ungewollter Kinderlosigkeit auf der einen und der Abgabe eines eigenen Kindes auf der anderen Seite. Und drittens bilden sich in Fragen sozialer Lebensformen moralische Überzeugungen meist an den Ausnahmen. Das gilt in puncto Familie auch für die Adoption und ist Grund genug für ein Kapitel Adoptionsethik.

Trotz vieler Fach- und Ratgeberliteratur sind Bücher zur Ethik der Adoption selten. Allgegenwärtig ist aber der ethische Grundsatz, dass alles Adoptionshandeln nur dem Kindeswohl der Adoptierten verpflichtet sein darf. Ich entnehme dem drei grundsätzliche Weichenstellungen: Adoption ist keine Option der Familiengründung; zum Zweiten gehört Adoptionsvermittlung in professionelle Hände und schließlich: Adoptionsethik enthüllt eine spirituelle Qualität der Familie generell.

Letzte Chance

Zwar bietet die Adoption ungewollt kinderlosen Paaren die vielleicht letzte Chance, Familie zu werden, wenn die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin ausgeschöpft sind. Doch die In-vitro-Fertilisation (ivf), heute in weiterentwickelter Form der „Goldstandard“ in der Kinderwunschbehandlung, folgt der Reproduktionsautonomie, die allen Erwachsenen die Entscheidung überlässt, wie und mit welchem Partner sie Kinder in die Welt setzen. Bei der Adoption aber ist schon ein Kind da, für das soziale Eltern gefunden werden müssen, weil die leiblichen nicht in Betracht kommen. Ethisch steht die Adoption nicht der ivf-Familie, sondern der Pflegefamilie am nächsten. Wie diese verfolgt sie nicht das Projekt Eltern-werden-wollen, sondern Kind-sein-lassen. Die Tatsache, dass Adoption und ivf von ähnlichen Zielgruppen nachgefragt werden und die seit Jahren sinkende Adoptionsnachfrage mit zunehmendem Interesse an ivf verbunden ist, hebt den Unterschied nicht auf. Auch der Ablauf der Adoption ist ein ganz eigener. Adoptionsvermittlungen kommen in Deutschland nicht durch Wartezeiten oder Angebot und Nachfrage zustande, sondern im Matching-Verfahren, bei dem die vermittelnde Stelle die Entwicklungsvorstellungen der abgebenden Eltern mit den adoptiven Befähigungen überprüfter Bewerberpaare abgleicht.

Anders als der Wortsinn (Ad-Option) und zahlreiche Klischees in den Massenmedien nahelegen, wählen Adoptiveltern ihr Kind nicht aus, sondern werden ihrerseits ausgewählt und können selbst lediglich Eltern-Kindkonstellationen ab-wählen, bei denen sie sich die Adoptionspflege nicht zutrauen, wenn zum Beispiel ein Kind mehrfache Beziehungsabbrüche (Herausnahme aus der leiblichen Familie, wechselnde Pflegefamilien, Kinderheim …) mitbringt. Die Forschung zum kindlichen Bindungsverhalten, das über biologisch determinierte Aktions- und Reaktionsmuster gegenüber der Hauptbezugsperson des Kindes die Freiheit für das maßgeblich entwicklungsfördernde Spielverhalten reguliert, legt einen noch weitergehenden Schluss nahe. Alle Adoptivkinder bringen eine Vorgeschichte mit, die für ihre Entwicklung prägenden Einfluss hat, weil und sofern das Bindungsverhalten schon vorgeburtlich erlernt wird. Adoptionsethik setzt beim Kind bedürfnis­ethisch an, und das grundlegendste Bedürfnis neben Nahrung, Kleidung und Wohnung ist das der Bindung. Adoptiveltern brauchen unbedingte Offenheit für das mitgebrachte Familiennarrativ ihres Kindes, denn nach dem Bindungsforscher Roland Schleiffer (Fremdplatzierung und Bindungstheorie, 2015) ist es ihre Aufgabe, dem Kind eine „überzeugende Erzählung“ über seine Herkunft anzubieten. Annehmende Eltern haben darum die moralische Pflicht zur Adoptionsaufklärung. Das geht nicht punktuell, sondern nur lebensbegleitend und von Anfang an zum Beispiel durch Fotoalben ab der Geburtsklinik, später gegebenenfalls durch briefliche oder vermittelte Kontakte (halboffene Adoption) oder so genannte Wurzelsuche bei adoleszenten Kindern.

Das aus der US-Forschung stammende „Adoptionsdreieck“ von Adoptivkind, abgebenden und annehmenden Eltern (Harold D. Grotevant) bildet den im deutschen Adoptionssystem wichtigen vierten Akteur, die Vermittlungsstellen, nicht ab. Seit einer grundlegenden Adoptionsnovelle (1976/77) ist die im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 ursprünglich privatrechtlich (als Vertrag mit Gerichtsvorbehalt) die Erbfolge des Adoptierenden absichernde Adoption immer in die Hände staatlicher oder staatlicherseits zertifizierter freier Träger mit entsprechend qualifiziertem Fachpersonal gelegt. Der in der Reproduktionsmedizin zwischen Wunscheltern und Kinderwunschzentren herrschenden Vertragsfreiheit hat der Gesetzgeber die Adoption bewusst entzogen. Warum?

Unwiderrufliche Einwilligung

Adoptionen verlangen Entscheidungen, die nur in freier Selbstbestimmung getroffen werden dürfen, weil sie Lebensweichen stellen und auch rechtlich unumkehrbar sind. So ist zum Beispiel die Einwilligung der leiblichen Mutter unwiderruflich und der gerichtliche Adoptionsbeschluss unanfechtbar. Gerade das macht aber die Adoption für alle Beteilig-ten zur Ausnahmesituation, in der man ihnen nicht einfach die sonst gegebene Ein- und Übersicht unterstellen darf, wie es das scheinliberale Prinzip der Vertragsfreiheit tut. Abgebende wie annehmende Eltern brauchen Beratung, die sie in der Krisensituation wieder zu selbst verantwortetem Handeln befähigt, auch wenn das heißt, dass die Vermittlungsstellen in den durch Artikel 6 Grundgesetz vor staatlichem Zugriff besonders geschützten Bereich der Familie intervenieren und zum Beispiel von Adoptionsbewerbern einen so genannten Lebensbericht mit Offenlegung ihrer Adoptionsmotive verlangen. Wenn es um die (annehmenden und abgebenden) Eltern geht, ist Adoptionsethik nicht Bedürfnis-, sondern Befähigungsethik.

Andererseits wäre die Annahme irrig, Adoptiveltern müssten erzieherisch außergewöhnlich befähigt sein oder dem Kind etwas bieten, was es im Herkunftskontext nicht bekam oder bekommen hätte. Eine solche Haltung, die vor allem bei Auslandsadoptionen in Praxis und Forschung anzutreffen ist und sich auch hinter dem ethisch zwiespältigen Adoptionsmotiv des Altruismus verbergen kann, würde den Herkunftskontext des Kindes abqualifizieren und die Adoption idealisieren. Adoptionsbewerber, die mit solchen Haltungen in die Eignungsprüfung gehen, sollten sich nicht wundern, wenn sie aussortiert werden.

Grundsätzlich genetischer Natur

Die Eignungsprüfung ist die einschneidendste Intervention der vor allem beratend intervenierenden Adoptionsvermittlung. Sie wird oft als ungerecht im Vergleich mit leiblichen Eltern empfunden, doch ist deren relativer Vertrauensvorschuss nicht zu beanstanden. Ethisch gesehen beruht Elternschaft auf intergenerationeller Selbstweitergabe, die nach dem Duisburger Philosophen Oliver Hallich (Bioethics, Band 32, 2018) grundsätzlich genetischer Natur ist und nur sekundär auch willentlich übertragen werden kann wie bei einer Adoption. Sie bleibt aber auch dann Selbstweitergabe, doch im rein ideellen Bereich der Orientierungen und Überzeugungen, die in Familien typischerweise von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden. Und damit kommt erst der tiefere ethische Sinn der Adoption in den Blick.

Gesamtgesellschaftlich und im Erleben der Beteiligten ist die Adoption eine Ausnahme von der bundesdeutschen Familienwirklichkeit. Soziologisch aber ist sie, wie Christa Hoffmann-Riem gezeigt hat (Das adoptierte Kind, 1984), eine „Normvariante“ der leiblichen Regelfamilie und hat an deren sozialphilosophischer Normativität teil. Adoptions- wie Familienethik generell vollziehen sich in einem dem Recht vorgeordneten Raum, wo die Orientierungen generiert und tradiert werden, von denen das soziale Miteinander lebt und ohne die die rechtliche Ordnung nichts zu ordnen hätte. Die Familien sind primärer Träger dieses Orientierungsraumes und deshalb verfassungsrechtlich besonders geschützt (Artikel 6 Grundgesetz).

Konkret: Wenn ein Familiengericht beschließt: „Die Eheleute NN haben das Kind N als ihr Kind angenommen“, dann ist dieser Adoptionsbeschluss nur die nachträgliche Feststellung, dass sie das Kind schon adoptiert haben. Die eigentliche Adoption, nämlich dass Eltern dieses Kind mit seiner besonderen Herkunft als ihr eigenes bejahen und annehmen, kann man rechtlich nicht dingfest machen; sie ist ein innerer, seelischer Vorgang von spiritueller Qualität und verlangt eine Geisteshaltung, die man mit Römer 8,15 als Geist der Annahme („spirit of adoption“; Luther: „kindlichen Geist“) bezeichnen kann.

Diese spirituelle Qualität ist nicht auf Adoptivfamilien beschränkt, sondern sollte, wie der amerikanische Theologe Brent Waters schreibt (The Family in Christian Social and Political Thought, 2007), „Element jeder Eltern-Kind-Beziehung“ sein. Familie im Geist der Annahme zu leben, ist ebenso eine Auszeichnung für leibliche Familien. Das gilt auch im Adoptionsdreieck, dessen immer noch unterbelichtete Seite die leiblichen Eltern sind.

Dank Christine Swienteks Pionierarbeiten der Achtzigerjahre sind sozioökonomische Zwangslagen abgebender Mütter vor, bei und noch Jahrzehnte nach der Freigabe dokumentiert. Die pränatale Bindungsforschung belegt zudem Belastungen schon neugeborener Adoptivkinder durch die Freigabe. Die zum populären Verdikt der angeblichen „Rabenmutter“ vergröberte Folgerung, dass die Adoption ein Trauma an den Lebensanfang des Kindes setze, ist dennoch unberechtigt, eben weil dessen Mutterbeziehung schon pränatal anfängt. Das heißt, Frauen, die trotz Schwangerschaftskonflikt ihr Kind austragen, haben es eben damit im spirituellen Sinne adoptiert, auch wenn sie es später freigeben. Die Adoptionsfreigabe als Alternative zur Abtreibung zu propagieren, geht hingegen am Erleben der Schwangeren vorbei.

Integrale Bedeutung

Dieser Aufwertung der abgebenden Mutter steht das (seltene) Mitwirken des leiblichen Vaters gegenüber. Seine Stärkung wird politisch mit dem Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung begründet, muss sich ethisch aber an der Verantwortung bemessen, die der Vater schon vor der Kindesfreigabe gemeinsam mit der Mutter wahrgenommen hat. Versäumte er das, ist es ethisch ausreichend, ihn im Rahmen einer späteren Wurzelsuche des adoleszenten Kindes zu beteiligen (wie bei Samenspendervätern üblich).

Der Ertrag all dessen ist, dass die gemeinschaftliche Sorge eines je nach konkreter Familiensituation befähigten Elternpaares die Bedürfnisse eines Kindes, wie sie durch seine Herkunft mitbedingt sind, am besten stillen wird. Das Paar kann hetero- oder homosexuell sein, es sollte aber im Falle der Adoption verheiratet und bereit sein, mindestens bis zum Adoptionsbeschluss im Alleinverdiener-Modell zu leben, damit ein Partner sich in der kritischen Zeit der Adoptionspflege ganz dem Kind widmet. Die Adoption schlägt so einen Bogen von der Regenbogenfamilie bis zur Hausfrauenehe, was ihre integrale familienethische Bedeutung unterstreicht.


 

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