Etwas angstvoll sah zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick seiner Teilnahme auf dem Podium „Gendern – ja, nein, vielleicht?“ beim Kirchentag in Dortmund entgegen und war am Ende sehr angetan von dem gepflegten, klugen Diskurs.
Was den Kirchentag angeht bin ich ein gebranntes Kind. Das erste Mal war ich im Jahr 1981 in Hamburg dabei. Das Kirchentagsmotto lautete „Fürchtet Euch nicht“, aber ich fürchtete mich sehr. Spätestens seit dem Moment, als ich in einer großen Messehalle urplötzlich ausgebuht wurde.
Wie kam’s? Meine Mutter arbeitete damals in einer evangelischen Familienbildungsstätte, und sie und Ihre Kolleginnen hatten sich ausgedacht, im Rahmen eines Podiums zu neuen Familienwelten ein kleines Anspiel aufzuführen. Das Drehbuch des Anspiels war bewusst improvisiert, Ausgangslage war die Klage der Mutter (gespielt von meiner Mutter), dass sie doch mit der ganzen Hausarbeit alleine gelassen werde und deswegen anregte, man möge es doch in der Familie besser aufteilen. Darauf sollte der 15-jährige Sohn (gespielt von mir, damals 15) möglichst lebensecht ein paar „Darauf-habe-ich-keinen-Bock“-Antwortsätze formulieren. Die Rolle lag mir offenkundig, denn schon nach den ersten Worten, die ich über ein drahtloses Mikro – ein Gerät, das ich an jenem Junitag 1981 zum ersten Mal in meinem Leben stolz in Händen hielt – in die Weiten der Hamburger Messehalle schickte – erntete ich einen akustischen Echtzeit-Shitstorm des empörten Publikums, und ich erschrak so, dass mir mein teures Mikro fast aus der Hand gefallen wäre. Und als ich tags drauf erleben musste, dass der damalige Verteidigungsminister Hans Apel bei einem Podium von Leibwächtern mit Plastikschilden vor den Eierwürfen einiger „Friedensfreunde“ geschützt werden musste, trug dies auch nicht dazu bei, mein erschrecktes jugendliches Gemüt zu beruhigen.
Seitdem war ich bei fast allen Kirchentagen dabei und an Auseinandersetzungen mit Gebrüll und Plastikschilden kann ich mich nicht mehr erinnern. Doch die Angst vom Juni 1981 durchzuckte mich, als ich die freundliche Einladung erhielt, als Diskutant beim Podium „Streit um Tugendterror, Gendersprech und Co.“ mitzuwirken und zwar an einem Gespräch über den Gebrauch inklusiver Sprache unter dem Titel „Gendern – ja, nein, vielleicht?“. Ich hatte den Verdacht, man wollte mich als alten oder zumindest deutlich älter werdenden weißen Mann einladen, um einen reaktionären Pappkameraden lustvoll demontieren zu dürfen, denn ich gebe zu, dass ich mich bisher, was das sogenannte Gendern in der Sprache angeht, weder privat noch beruflich an der Spitze der Bewegung befunden habe, beziehungsweise befinde.
Aber ich sagte zu, auch weil ich die anderen Gäste auf dem Podium interessant fand. Zum Beispiel Bettina Hannover. Die Psychologieprofessorin von der FU in Berlin hatte vor vier Jahren in einer Studie herausgefunden, dass Kinder Berufe anders bewerten, je nachdem, ob sie ihnen nur mit der männlichen Form (Astronaut) oder auch mit der weiblichen Berufsbezeichnung vorgestellt werden (Astronaut und Astronautin). Vor allem Mädchen, so das Ergebnis der Studie, trauten sich dann viel eher zu, den Beruf zu erlernen. Hannovers Studie konzentrierte sich auf Berufe, die als typische Männerberufe gelten und die Leitfrage lautete: „Kann geschlechtergerechte Sprache dazu beitragen, junge Frauen für „männliche“ Berufsfelder zu motivieren?“ Die Studie erbrachte den Beleg: Ja, sie kann. Dies leuchtete mir ein.
Viel weniger leuchtete mir hingegen der im Frühjahr brachial hervorgebrachte Aufruf des Vereins Deutscher Sprache ein unter der Überschrift „Schluss mit dem Gender-Unfug“. Dieser „Aufruf zum Widerstand“ hatte proklamiert, dass „sogenannte gendergerechte Sprache“ auf dem „Generalirrtum“ beruhe, „zwischen dem natürlichen und grammatischen Geschlecht bestehe ein fester Zusammenhang“. Dieser aber, so der Verein, bestehe nicht, und begründete dies unter anderem so: „Der Löwe, die Giraffe, das Pferd“. Es lohnt sich nicht weiter, auf dieses Pamphlet einzugehen, allerdings ist es schon verwunderlich, wie viele vorgebliche Koryphäen und verehrte Personen dort unterschrieben haben, zum Beispiel Wolf Schneider, der legendäre „Sprachpapst“ und langjährige Leiter der renommierten Hamburger Journalistenschule. Allerdings liegt das schon eine Weile zurück, und Schneider ist heute 94 Jahre alt.
Ein großer Gewinn in meiner Vorbereitung auf besagtes Podium war die Lektüre eines schmalen aber sehr gehaltvollen Buches mit dem Titel „Gendern?!: Gleichberechtigung in der Sprache – ein Für und ein Wider“ von Anne Wizoreck und Hannah Lühmann. Das sind zwei Frauen Anfang, Mitte Dreißig, die in ihrem Buch in Form einer Synopse – also die eine auf der jeweils linken, die andere auf der jeweils rechten Aufschlagseite – ihre jeweils sehr unterschiedlichen Meinungen zum Thema Gendern in der Sprache niederlegen. Frau Lühmann, die das Sprachgendern eher kritisch sieht, war mit mir auf dem Kirchentagspodium geladen, und als ich dieses Buch gelesen hatte, war ich versucht, mit der Begründung abzusagen, dass ich doch eigentlich im Grundsätzlichen genauso, oder zumindest ganz ähnlich wie Hannah Lühmann denke, und die das sicher viel besser und eloquenter vertreten könnte, weil sie es für ihr Buch schon so schön durchdacht und formuliert hat.
Außerdem mehrten sich in den Tagen vor dem Kirchentag diffuse Alpträume, in denen das Setting meiner Jugenderlebnisse von 1981 aus Hamburg fröhliche Urständ feierte: Ich saß auf dem Podium mit Frau Lühmann und den beiden anderen Teilnehmenden, wurde als Einziger ausgebuht und musste schließlich mit Plastikschilden vor fliegenden faulen Eiern geschützt werden. Aber ich sagte nicht ab, schon allein deswegen nicht, weil auf unserem Podium auch Dr. Dr. Rainer Erlinger sitzen sollte, und den wollte ich unbedingt kennenlernen, da ich ein großer Fan seiner langjährigen Kolumne Gewissenfragen bin, die bis Ende 2018 im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschien.
Und die Veranstaltung wurde wirklich schön, denn schon im Vorgespräch verbreitete die umsichtige und kluge Moderatorin Ruth Hess vom EKD-Zentrum für Frauen- und Männerarbeit permanent gute Laune und machte deutlich, dass es hier nicht um Konfrontation, sondern um gemeinsamen Erkenntnisgewinn gehen solle. So durfte ich ohne Buhs und ohne faule Eier vor vielen Hundert Zuhörenden bekennen, dass zeitzeichen bisher zwar nicht an der Spitze der Bewegung für geschlechtssensible Sprache stehe, aber doch versuche, das Schlimmste zu vermeiden.
Dann erzählte ich, dass mich vor einem Jahr ein lieber Kollege darauf gestoßen hatte, dass wir in zeitzeichen die Liste der Namen unser sieben Herausgeber und immerhin fünf Herausgeberinnen schlicht mit „Herausgeber:“ überschreiben, und das müsste doch wohl nicht sein, oder? Auf meinen Einwand hin, dass „Herausgeberinnen und Herausgeber“ schlicht nicht in die Zeile passen würde, sagte er: „Schreibt doch ein ,Herausgegeben von:‘!“ Und das passte und das steht seit einem Jahr dort. Ich weiß nicht, wie viele unsere Leserinnen und Leser das bemerkt haben, aber mich macht es glücklich!
Als ich für diese kleine Petitesse warmen Applaus erntete, war der Rest meiner Angst vor faulen Eiern verflogen, und ich traute mich ein Erlebnis von 1989/90 zu erzählen. Damals, direkt nach dem Mauerfall, besuchte ich zum ersten Mal eine entfernte Cousine in Ostberlin, die in der Bibliothek der Charité arbeitete. Ich fragte sie, mit wie vielen sie denn da beschäftigt seien, und sie sagte: „Wir sind acht Mann“. „Acht Mann!?!“ – Das irritierte mich schon 1989/90, und ich fragte nach: „Ach, sind da außer Dir nur Männer?“ Sie blickte mich damals verständnislos an, und sagte: „Ne, nur alles Frauen!“ Auch das goutierte das Dortmunder Kirchentagspublikum lachend und sanft applaudierend. Allerdings wurde dann doch moniert, es sei schade, dass auf dem Podium anscheinend nur Menschen säßen, die „dafür“ seien, also anscheinend „für“ das Gendern in der Sprache. Denn auch Frau Lühmann hatte sich bis dahin recht konziliant und zahm gezeigt.
So forderte uns die Moderatorin Ruth Hess auf, ein bisschen „nachzulegen“, und ich traute mich zu sagen, dass ich zuweilen sehr skeptisch, ja allergisch gegen das Gendern in der Sprache bin, besonders wenn es um literarische und geprägte Sprache geht. Als Beispiel erzählte ich, dass eine meiner Töchter vor vielen Jahren mich beim Singen von „Der Mond ist aufgegangen“ am Kinderbett unterbrach, indem sie energisch sagte: „Papa, das ist falsch!“ Was war passiert? Ich hatte ganz normal die letzten Strophen im Original begonnen: „So legt euch denn ihr Brüder / in Gottes Namen nieder / kalt ist der Abendhauch…“, aber meine Tochter war damals gerade bei ihren Tanten zu Besuch gewesen und hatte dort gelernt, es heiße eigentlich: „So legt Euch, Schwestern, Brüder …“.
Das waren meinerseits alles eher harmlose Geschichtchen, aber die Kollegin und Expertin Hannah Lühmann gab dann schon klar zu Protokoll, dass sie recht skeptisch sei, was das mechanische und automatische Gendern in Schrift und Wort angehe. Sie habe den Eindruck, dass das unbedingte Argumentieren für die Verwendung gendergerechter Sprache zuweilen eine Eigendynamik gewinne, und dann haben sie immer das Gefühl, sie sei da unter „Gläubigen, die sich über das Gute und Richtige schon längst einig sind und man nickt sich nur noch so gegenseitig ab“.
Natürlich, so Lühmann, müsse man Wörter und Begriffe vermeiden, die andere Menschen beleidigen könnten, klar, aber das sei eine Frage der Semantik, der Wortbedeutung. Das Gendersternchen aber, das derzeit diskutiert und von vielen praktiziert werde, sei etwas anderes, nämlich ein Eingriff in die Grammatik. Diese Versuche würden ihrer Meinung nach einen falschen Eindruck davon vermitteln, was Sprache ist, denn Sprache sei eben „nicht eindeutig, nicht korrekt und kein Vehikel, um auf diese einfache Weise Identität zu transportieren.“ Man könne das machen, aber es sei eben „falsch“. Genau, dachte ich und war erleichtert, als es selbst dafür gediegenen Applaus gab.
Das schönste Zitat aber nahm ich von Dr. Dr. Rainer Erlinger mit, der auf die ihm eigene nachdenklich sanfte und total unaggressive Art deutlich machte, dass das mit der sensiblen Sprache schon eine wichtige, moralische Sache sei. Und er prägte in Anlehnung an das Wort Jesu über den Sabbat die schöne Formulierung: „Nicht der Mensch ist für die Sprache da, sondern die Sprache für den Menschen“. Wunderbar! Diesen Satz werde ich gerne wie ein Mantra in mir tragen und wir bei zeitzeichen wollen versuchen, in Sachen Sprache immer schön sensibel zu bleiben und sowohl in die eine, wie auch in die andere Richtung das Schlimmste vermeiden …
Hier ein ausführlicheres Interview mit Hannah Lühmann zum Thema:
Und hier eher holzschnittartige Aufruf des Vereins für Deutsche Sprache vom März 2019:
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.