Mut zur Verletzlichkeit

Zur Debatte um §218: Über konkrete Kinder lässt sich nicht abstrakt entscheiden
Zwei Aktivistinnen in Maler-Kleidung und mit OP-Hauben und -Maske streichen mit großen Farbrollen den Begriff "§ 218" durch.
Foto: Picture Alliance/dpa

Die politische Debatte um eine mögliche gesetzliche Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland und die Streichung des Paragraphen 218 aus dem Strafgesetzbuch hat auch die ethische Debatte neu angeregt. „zeitzeichen“ will in den kommenden Tagen die oft von Männern dominierte Debatte durch Beiträge von evangelischen Frauen bereichern, die vor dem Hintergrund ihrer beruflichen und persönlichen Erfahrungen entstanden. Heute erläutert Friederike Goedicke, Referentin im Team Generationen und Geschlechter in der hannoverschen Landeskirche, warum sich auch von der Kirche mehr Verletzlichkeit und Sprechfähigkeit bei diesem Thema wünscht.

Manchmal erreichen mich Mails, die Ebenen durcheinanderwerfen, mich herausfordern und zum Sortieren ermutigen. Von „zeitzeichen“ gefragt zu werden, wie meine persönliche Haltung zu Schwangerschaftsabbrüchen und der Bezug zu meiner Glaubensbiographie ist, war so eine. Ein Moment des Zögerns. Fragen sie das wirklich? Ahnen sie was sie da fragen? 

„Wie hältst du es mit Schwangerschaftsabbrüchen?“ oder etwas distanzierter „Was hältst du von Schwangerschaftsabbrüchen“? setzt bei vielen Menschen im gebärfähigen Alter weitere Themenkomplexe auf die Agenda. Die Neugier der Fragenden oder das Interesse an einer politischen oder religiösen Positionierung trifft direkt auf Themen und Erfahrungen wie heteronormative Familienbilder, (unerfüllter) Kinderwunsch, Verlust- oder Abbruchserfahrungen oder andere familiäre Herausforderungen.

Ich träum mir (k)ein Kind

Als Mutter von Himmelskindern bin ich persönlich sehr vertraut mit der Frage nach Lebensanfängen. Eng verknüpft ist diese Frage für mich mit der ‚guten Hoffnung‘, die bei gewollten Schwangerschaften mit den zwei blauen Linien oder dem ersten zuhörenden Herzschlag im Ultraschall einhergeht. Entscheidend sind auch die imaginierten Lebensentwürfen, die aus einem Embryo das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten machen. Das konstruierte Kind, vielleicht sogar schon mit Namen und Zuschreibungen versehen, wird geprägt durch Familienbilder und Zukunftserwartungen der werdenden Eltern. Dasselbe Kind, unabhängig von allen Zuschreibungen, würde trotzdem bis zur Mitte der Schwangerschaft nicht medizinisch versorgt, sollte es jetzt bereits abgehen. Es gilt bis Woche 22 als schlicht nicht überlebensfähig.

Relevant für das Konstrukt als Kind ist demnach zu diesem Zeitpunkt primär die Einstellung der schwangeren Person. Weder Partner_in, noch Kirche oder Gesellschaft können für diese Person entscheiden, wie über das entstehende Leben gedacht und gesprochen wird. 

Auch Menschen, die sich für einen Abbruch entscheiden, denken über Familienbilder, die Zukunft dieses Menschenkindes und mögliche Lebenswege nach. Sie kommen aus unterschiedlichen Gründen zu der Entscheidung, dass sie zu diesem Zeitpunkt diese Schwangerschaft nicht fortsetzen wollen. Manche nehmen das Leben in ihrem Bauch zu diesem Zeitpunkt bereits als Kind wahr, für andere ist es ein störender Zellhaufen. Unabhängig von der Sicht auf die Schwangerschaft ist die Entscheidung für einen Abbruch in den meisten Fällen keine abstrakte Entscheidung oder leichtfertige Verhütungsvariante, sondern eine, die genau für diese konkrete Schwangerschaft in dieser Lebenssituation getroffen wird. 

Herzlichen Glückwunsch! Oder: Weißt du schon, ob du es bekommen möchtest?

Aus frauen*politischer Perspektive sieht eine verantwortliche feministische Position zum Thema Schwangerschaftsabbruch 2024 nicht wesentlich anders aus als 1995. Es geht weiterhin um Autonomie, konkret: die Selbstbestimmung von Frauen, genauer: FLINTA[1], in Bezug auf Reproduktionsfragen. Neu ist in den letzten Jahrzehnten die rechtliche Stärkung der Autonomie der Frau, insbesondere auf internationaler Ebene – so dass die Abwägung zwischen dem Schutz des ungeborenen Lebens und die Verhältnismäßigkeit einer Pflicht zum Austragen eines ungewollten Kindes sich zu Gunsten der Schwangeren verschoben haben. Das finde ich gut so, denn eine theoretische Austragungspflicht widerspricht nicht nur der Menschenwürde, sondern auch dem reformatorischen Prinzip der Gewissensfreiheit. 

Meine persönliche Haltung zu Schwangerschaftsabbrüchen hat sich über die Zeit verändert. Lange habe ich vertreten, dass jeder Mensch ein Recht auf einen sicheren Schwangerschaftsabbruch hat und dieser straffrei sein sollte – gleichzeitig war ich sicher, dass ein Abbruch für mich nicht in Frage kommt. Trotz christlicher Sozialisation und hoher religiöser Verbundenheit war dieses Grundgefühl eine verinnerlichte Gewissheit und keine reflektierte Haltung. Als ich selbst in der Situation war, nicht mehr abstrakt über Schwangerschaftsabbrüche zu diskutieren, wurde es komplexer. Konfrontiert mit der Frage, wessen Leben eigentlich relevanter ist und wie unser Familienleben mit unterschiedlichen Entscheidungen aussehen würde, schwand meine Sicherheit. Gleichzeitig hat mich mein Ringen bestätigt in der gängigen These der Schwangerschaftskonfliktberatung: Über konkrete Kinder lässt sich nicht abstrakt entscheiden. 

In den Jahren darauf habe ich Freundinnen begleitet, die aus guten Gründen abgetrieben haben. Bei manchen waren es medizinische Diagnosen, die ein gelingendes Leben in Frage stellten. Bei anderen waren es bereits vorhandene Kinder und das Wissen, dass in dieser Familiensituation und Gesellschaft ein weiteres Kind – emotional, beziehungstechnisch, finanziell oder gesundheitlich – nicht zu schaffen ist. Einzelne Freundinnen haben abgetrieben und für sie war es eine Entscheidung unter mehreren, um den eigenen Lebensweg gehen zu können. Sie berichteten eher von Erleichterung als Ambivalenz. Unabhängig von den Gründen für Schwangerschaftsabbrüche berichten jedoch alle Frauen* von den Schwierigkeiten zeitnah Arzttermine, Beratungstermine und Termine für Abbrüche zu bekommen. Alle waren dadurch länger als beabsichtigt schwanger – was nicht nur emotional eine Zumutung ist, sondern auch in der Debatte um Fristen eine zu beachtende Praxisfrage ist.

Mein Wunsch: Verletzlich und sprechfähig werden

Weiterhin ist für die Themen Kinderwunschbehandlung, fehlgeborene Kinder und Schwangerschaftsabbruch kaum Platz in privaten, gesellschaftlichen und kirchlichen Diskursen. Wenige Menschen sind sprechfähig. Hilfreiche Texte, Kontakte und Menschen mit Erfahrung wurden lange quasi unter der Hand weitergereicht. 

Zur Entwicklung einer reflektierten Haltung, die ethische Dimensionen und den eigenen Glauben zum jeweiligen Zeitpunkt einbezieht, braucht es interdisziplinäre Diskurse in „sicheren“ Räumen. Orte und Menschen, mit denen Positionen, Fragen und Sehnsüchte diskutiert werden können, wo Wissen dazugewonnen wird und Verletzlichkeit möglich ist. Die Frage nach einer persönlichen Haltung zu Schwangerschaftsabbrüchen bleibt dabei zugleich politisch und privat. Weil aber das Private politisch ist, und ohne die Diskurse nur über Schwangere und ihre Körper, Kinder und Rolle hinweg gesprochen wird, sind sie notwendig. Zwischen der rechtlichen und politischen Position, jede soll autonom entscheiden und sicher abtreiben dürfen, dem gesellschaftlichen Wunsch entstehendes Leben zu schützen und dem eigenen (vorhandenen oder nicht vorhandenen) Kinderwunsch entstehen dabei Spannungen. Diese erschweren Diskussionen, sei es zwischen Freund*innen oder in kirchlichen Kontexten. 

Meine eigene Glaubensbiografie ist geprägt von Menschen, von denen ich lernen und mit denen ich diskutieren konnte. Es war ein Segen für mich, um Seelsorge bitten zu können als auch Menschen zum Theologisieren zu haben, wenn es hart wird. Trotzdem war es anstrengend, denn weder die Bibel noch Theologie sind hier eindeutig. Das Wissen um feministische Deutungen von Marias Schwangerschaft, in der diese zustimmt, schwanger zu werden und Verantwortung aktiv übernimmt, hat mich gestärkt und mir Mut gemacht in Ruhe alle Möglichkeiten abzuwägen.[2] Hiob hat mich bezüglich der Aussage, dass das Leben erst mit dem Atem beginnt, länger beschäftigt. Ob die unzeitige Geburt „gar nicht war“[3] und daher vielleicht keinen Anteil an der Gnade Gottes hat, ob sie weder „das Licht gesehen“ hat noch in Ewigkeit geborgen ist, waren mir wichtige Fragen. Dagegen stand das für mich tröstliche Bild, des gekannt und bereitet sein – schon im Mutterleib. Manches konnte ich mir ‚zurecht denken‘, dem meisten allerdings musste ich nachspüren oder brauchte die Zusage und Beratung anderer. 

Also: Alles wie immer?

Durch Social Media und Hashtags ändert sich in den letzten zehn Jahren langsam die Informationslage, das Wissen um Diskriminierung und Selbstbestimmung sowie das Grundgefühl „wir sind viele“. Die aktuellen Diskurse und Positionen zur Abschaffung des §218, zum Beispiel vom Juristinnenbund, vom Deutschen Frauenrat, von den Evangelischen Frauen in Deutschland und eine erste Positionierung des Rates der EKD sowie Debatten Beiträge weiblich gelesener Autor*innen aus den unterschiedlichen Disziplinen bündeln Perspektiven und Argumente, sind aber meines Wissens noch nirgends systematisch zusammengestellt abrufbar. 

Neben einer besseren Informationslage, guter medizinischer Versorgung und einer gesicherten Straffreiheit wünsche ich mir eine Kirche, die den Mut hat in Gemeinden, Akademien und Instituten verletzlich und ehrlich darüber zu sprechen, wie komplex Lebensentscheidungen sind, ohne zu spekulieren, was G‘ttes Wille wäre. Ich wünsche mir den Mut, Frauen* ernst zu nehmen. 

Von „Kirche“ auf den unterschiedlichen Ebenen erwarte ich, dass sie sowohl als seelsorgendes Gegenüber als auch als kluge Gesprächspartner*in für Lebensfragen sichtbar wird und dabei transparent macht, dass sie gerne ethische und theologische Debatten führt – dass aber die Gnade G’ttes größer ist als alle Positionspapiere und Kompromisse, Zugleich erwarte ich, dass die Würde der Menschen und die von G’tt geschenkte Freiheit Grundlage aller Forderungen und Papiere ist – gerade, weil „Kirche“ auch nur weitersagen kann, was sie zum jeweiligen Zeitpunkt vom Menschsein verstanden hat. 

Von der EKD wünsche ich mir, dass sie sich dafür einsetzt einen Rahmen zu schaffen, der reproduktive Gesundheit inklusive sichere Schwangerschaftsabbrüche als Teil der allgemeinen Gesundheitsversorgung definiert und dabei juristische, politische, theologische und ethische Argumente nutzt. Ein Recht auf Beratung und eine gute Unterstützung von Schwangeren, ist aus meiner Perspektive notwendig und sollte gleichzeitig unabhängig vom Recht auf körperliche Selbstbestimmung sein. 

Ich nehme glücklicherweise nicht wahr, dass in protestantischen institutionellen Diskursen patriarchale Machtstrukturen in Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche gefördert werden, im Gegenteil, es wird sich um hohe Differenzierung bemüht. Parallel gibt es sowohl auf Social Media als auch in manchen Gemeinden eine theologisch nicht fundierte Berufung auf „Lebensschutz des ungeborenen Lebens“, auf die 10 Gebote oder „Gottes Willen“. Mir wäre auch zukünftig wichtig, kommunikativ auf den unterschiedlichsten Ebenen deutlich zu machen, dass „die evangelische Kirche“ nicht für Schwangerschaftsabbruch, sondern für die reproduktive Selbstbestimmung und Gewissensfreiheit von allen Menschen einsteht.

 

Hinweis: Diese Artikelreihe zum Thema Schwangerschaftskonflikt entstand auf Initiative und in Zusammenarbeit mit Dr. Lea Chilian (Zürich), Mag. theol. Ruth Denkhaus (Hannover) und Prof. Dr. Sarah Jäger (Jena).

Bisher erschienen:  

Britta Köppen: Begegnung im Konflikt. Wie evangelische Kirche wirklich stützen und schützen kann. 

Friederike Spengler: Gottes Ebenbild auch vor der Geburt.  Die Verantwortung gegenüber vulnerablen Personengruppen

 


 

[1] Mitgemeint ist nicht mitgesagt – daher geht es darum FLINTA also Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, transgeschlechtliche und agender Personen ernstzunehmen und mitzudenken, dass nicht alle schwangeren Menschen Frauen sein müssen. 

[2] Vgl. z.B. Andrea Günther, in: Spiritual Care (2016) 5(2), S. 69-72. Verlag De Gruyter. 

[3] Hiob 3,16.

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Foto: Privat

Friederike Goedicke

Friederike Goedicke hat BWL, Politikwissenschaften und Pädagogik studiert.  Sie arbeitet für die Landeskirche Hannover mit dem Schwerpunkt Evangelische Frauen* 


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