Der Leuenberger Moment
Alle sechs Jahre tagt die Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, jüngst im rumänischen Sibiu/Hermannstadt. Der Chefredakteur von Glaube und Heimat, Willi Wild, berichtet über strittige Themen, Wahlen und den Wunsch, in Gemeinschaft zu bleiben.
Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) hat ein Problem. Außerhalb der Vollversammlung, die alle sechs Jahre stattfindet, wird die GEKE kaum wahrgenommen. Die Gründe sind vielfältig. Die geringe finanzielle Ausstattung lässt eine notwendige Öffentlichkeitsarbeit im großen Stil nicht zu. Die Errungenschaften der GEKE werden nicht auf die Gemeinschaft zurückgeführt. Einen anderen Grund benennt die Theologin Miriam Rose, die bis zur Neuwahl dem Präsidium der GEKE angehörte. Die Kirchen in Deutschland hätten noch ausgefeilte Strukturen, wie Referate für Ökumene oder Umweltfragen, sodass man ohne die inhaltliche Unterstützung der GEKE auskomme. Im Gegensatz dazu stützten sich viele kleine Mitgliedskirchen auf die theologische Zuarbeit der GEKE.
Lange galt die europäische Kirchengemeinschaft nur als theologischer Thinktank und Plattform für Theologinnen und Theologen, die sich mit fachspezifischen Themen auseinandersetzten. Hervorgegangen aus der Leuenberger Kirchengemeinschaft, stand und steht vor allem die Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft von Lutheranern, Reformierten und Unierten, die mit der Leuenberger Konkordie 1973 nach 444 Jahren Lehrmeinungsstreit besiegelt wurde, im Vordergrund. Die GEKE möchte aber nicht nur auf einen Inner-Circle beschränkt bleiben. Sie zielt als protestantische Stimme Europas auf Außenwirkung.
Protestantische Stimme
Fünfzig Jahre nach Verabschiedung des Gründungsdokuments auf dem Leuenberg bei Basel gehen die Aufgaben der Kirchengemeinschaft, der mittlerweile 96 protestantische Kirchen in Europa mit insgesamt 40 Millionen Gemeindegliedern angehören, über die fortlaufenden Lehrgespräche zu theologischen und Glaubensfragen weit hinaus. Die GEKE will die gemeinsame Stimme der Protestanten in Europa sein. Dazu soll nach den Worten ihres Generalsekretärs Mario Fischer auch die Übernahme des Büros am Sitz des Europarats in Straßburg dienen. Dort hatte die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), eine ökumenische Organisation orthodoxer, anglikanischer, altkatholischer und evangelischer Kirchen Europas, ihre Repräsentanz geschlossen. In diese Lücke springt nun die GEKE.
Der Europarat und die Europäische Union stützen sich auf dieselben grundlegenden Werte: Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sie sind unterschiedliche Organisationen, die verschiedene Rollen wahrnehmen, sich dabei jedoch ergänzen sollen. Bei der EU sind im Transparenzregister 13 600 Organisationen erfasst. Auch einzelne Kirchen, wie die EKD, sind dort gelistet. Im Gegensatz dazu muss man beim Europarat eine INGO sein, eine Nichtregierungsorganisation mit Sitz in mindestens sieben Ländern des Europarats. Deshalb, so Mario Fischer, brauche es eine internationale Organisation wie die GEKE, die ihren Mitgliedskirchen ermöglicht, dass sie ihre Experten dort hinbringen können. Bei der EU kann beispielsweise die EKD als einzelne Organisation Experten einbringen. Das ist ihr beim Europarat nicht möglich. Oft habe man nur die EU im Blick, aber beim Europarat schlage das Herz Europas, so Fischer. Der Generalsekretär betont, dass ein Beschluss des Europarats, beispielsweise zum Thema Religionsfreiheit, den Mitgliedskirchen starken Rückenwind gebe. Formal gesehen, seien die Länder dann gehalten, die Beschlüsse umzusetzen.
Überhaupt ist es für die kleineren bis kleinsten protestantischen Kirchen in Europa wichtig, eine Vertretung auf der europäischen Bühne zu haben. Das dient neben der Selbsterhaltung auch der Wahrnehmung in ihren Ländern. Gerade die osteuropäischen Mitgliedskirchen sind darauf angewiesen, eine starke Gemeinschaft hinter sich zu wissen. Dass das auch andere Konsequenzen nach sich zieht, zeigte sich schon im Vorfeld der Vollversammlung. Die Ungarische Reformierte Kirche sagte die Teilnahme am Protestantengipfel im rumänischen Sibiu ab und zog ihre Delegierten wegen des Berichts über den umstrittenen Studienprozess „Gender – Sexuality – Marriage – Family“ zurück. Zur Ungarischen Reformierten Kirche schlossen sich im Jahr 2009 sieben Kirchen in Ungarn, Rumänien, der Slowakei, Serbien, Kroatien und der Ukraine wieder zusammen, die ihre historische Einheit durch die Friedensverträge im 20. Jahrhundert verloren hatten. Allein in Rumänien haben die ungarischen Reformierten 500 000 Mitglieder, 200 000 davon in Siebenbürgen.
Rückzug eines Gastgebers
Dass sich ein Gastgeber von der Vollversammlung zurückzieht, ist in Teilen der westeuropäischen Kirchen auf Unverständnis gestoßen. Die Ungarischen Reformierten hatten ihre Teilnahme davon abhängig gemacht, dass die GEKE die Beratungen zu dem umstrittenen Dokument von der Tagesordnung in Hermannstadt nimmt. Die beiden reformierten Kirchenbezirke Rumäniens sprachen sich aufgrund erheblicher theologischer Bedenken gegen das Dokument aus. GEKE-Generalsekretär Mario Fischer reiste zu Vermittlungsgesprächen mit der Kirchenleitung ins siebenbürgische Klausenburg/Cluj-Napoca. Dabei wurde deutlich, dass bereits die Verwendung bestimmter Begriffe in dem Dokument in der ungarischen Öffentlichkeit als anstößig verstanden und als „Genderideologie“ bezeichnet würde.
Am Ende der Gespräche stand, nach den Worten von Fischer, eine einvernehmliche Vereinbarung im Sinne der Kirche und der GEKE, dass die Ungarischen Reformierten ihre Delegierten zurückziehen. Auch wenn das Dokument nur auf Englisch erschienen ist und eine wissenschaftliche Sprache verwendet wurde, gab es Befürchtungen, dass man in Ungarn die Reformierte Kirche als Teil einer „Regenbogenparade“ diffamieren könnte. Die Meinungsverschiedenheiten ergäben sich insbesondere bei der Frage von Seelsorge für „LGBT+-Menschen“. In der ungarischen Politik der vergangenen Jahre seien diese Begrifflichkeiten negativ besetzt. Es war auch unerheblich für die Entscheidung, dass Ungarische Reformierte an dem Papier mitgewirkt hatten und ihre Sichtweise einbringen konnten.
Sógor Csaba, der den Zusammenschluss der zehn Distrikte der Ungarischen Reformierten Kirche koordiniert, betont den konservativen Charakter seiner Kirche. „Kirche und Sprache, das gehört bei uns zusammen.“ Man habe sich in der Vergangenheit gegen den Einfluss von außen erfolgreich gewehrt und so auch die katholischen Habsburger und die Zeit des Kommunismus überstanden. So singe man bis heute aus Überzeugung Luthers Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“. Csaba war von 2000 bis 2007 als Mitglied der Demokratischen Union der Ungarn in Rumänien Abgeordneter im Europäischen Parlament. Als ökumenischer Berater nahm der Theologe an der Vollversammlung in Hermannstadt teil. Er machte deutlich, worin die Absage der Teilnahme seiner Kirche eine weitere Ursache habe. Man wolle damit auch ein Zeichen gegen die vermeintliche Dominanz der westeuropäischen Kirchen in der GEKE setzen. „Stellen Sie sich vor, Sie sind eingeladen, und ihr Gastgeber bittet Sie, die Schuhe auszuziehen. Wie reagieren Sie?“
Westeuropäische Dominanz
Csaba stand mit seiner Meinung nicht allein. Die osteuropäischen Kirchen zeigten Verständnis für die Sichtweise und die Reaktion der Ungarischen Reformierten. Diese Seite betonte, dass sie trotzdem weiterhin Mitgliedskirche in der GEKE bleiben wolle. Katalin Balogné Vincze von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Ungarn hält das Gender-Dokument zwar für wichtig, kann aber die Kritik osteuropäischer Kirchen und der Nordiren verstehen, da auch konservativ-fundamentalistische Stimmen gehört werden müssten. Für die Weltgemeinschaft der Reformierten Kirchen ist die Diskussion über das Thema Sexualität noch nicht abgeschlossen, erklärt deren geschäftsführender Generalsekretär Hanns Lessing. „Wir sind eine globale Organisation, und unsere Kirchen vertreten unterschiedliche Positionen. In unserer Perspektive ist die Ungarische Kirche mit ihren Zweifeln und Nachfragen ein wichtiger Gesprächspartner.“ Die Auseinandersetzung habe Grenzen, wenn es um Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt gegen sexuelle Minderheiten gehe. Darüber hinaus wolle man sich nicht in die Entscheidungsprozesse der Mitgliedskirchen einmischen.
In Ländern wie Georgien und Russland wird bereits die Verbreitung von Schriften, in denen Homosexualität erwähnt wird, unter Strafe gestellt. Darum war gerade bei diesen Kirchen davon auszugehen, dass sie einer gemeinsamen ethischen Position nicht zustimmen werden. Der Gordische Knoten konnte auch nach einer intensiven Debatte nicht gelöst werden. Dass es dann doch noch zu einem Konsens gekommen ist, bezeichnet Mario Fischer als „Leuenberger Moment“, eine Einigung, wie sie 1973 im Zusammenhang mit der Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft erzielt werden konnte. Am späten Abend formulierten die evangelischen Landeskirchen aus Hessen und der Pfalz einen Antrag, die Vollversammlung möge lediglich zur Kenntnis nehmen, dass der Rat der GEKE das Dokument im Februar entgegengenommen und veröffentlicht hat. Im Vorwort des Präsidiums wurde eine Einordnung vorgenommen, dass das Dokument keinerlei Anspruch auf Verbindlichkeit in den Kirchen habe, sondern eine Hilfe für die Kirchen sei, die zu diesen Themen arbeiteten. Das Dokument soll laut dem bisherigen amtierenden Präsidenten John Bradbury keinen Abschluss markieren, sondern die Eröffnung der Diskussionen in den Mitgliedskirchen darstellen.
Der „Leuenberg-Moment“ für Fischer ist die Tatsache, dass alle Delegierten von dem Wunsch getragen waren, in Gemeinschaft zu bleiben. Auch strittige Themen sollten daran nichts ändern. Man habe Wege finden können, die alle dann am Ende mitgehen konnten, wobei keine Mitgliedskirche überstimmt worden sei. „Ich finde es interessant, dass ausgerechnet die erste deutsche Kirche, die der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare zugestimmt und die die Ehe für alle beschlossen hat, den Antrag stellte, dem am Ende alle zugestimmt haben.“
Neue Wege
Mit Spannung wurde von den Delegierten die Wahl des neuen Präsidiums erwartet. Mit Rita Famos, der Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche in der Schweiz und Herausgeberin von zeitzeichen, steht nun wieder eine Frau an der Spitze der Europäischen Protestanten. Sie folgt in dem Amt dem Briten John Bradbury von der „Vereinigten Reformierten Kirche“ (United Reformed Church) mit Sitz in London. Die zwei weiteren Präsidenten sind Bischof Marko Tiitus von der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche sowie Theologieprofessor Georg Plasger (Siegen), Mitglied der Evangelisch-reformierten Kirche in Deutschland und der Evangelischen Kirche im Rheinland.
Rita Famos hat zum Abschluss der Vollversammlung zu neuen Wegen in der Ökumene aufgerufen. In vielen Ländern stocke die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Kirchen. Man dürfe aber nicht einfach aufgeben. Die GEKE-Kirchen seien Teil Europas und stünden nicht jenseits der Probleme und Herausforderungen. „Es braucht Geduld. Wir sind seit 2000 Jahren unterwegs und machen vielleicht ein, zwei Schritte vorwärts und wieder einen zurück. Aber wir müssen dranbleiben.“
Willi Wild
Willi Wild ist Chefredakteur der evangelischen Wochenzeitung "Glaube und Heimat".