Kirche hat unzweifelhaft vielfältige Bezüge zu Familien: Kindergärten, Kinder- und Jugendarbeit, Konfirmandenunterricht, Frauenarbeit, Kasualien – Angebote werden ausdifferenziert nach Alter, sozialer Lage, biografischer Situation. Die Frage ist: Wo aber geht es nicht nur um Bezüge in Familien hinein, sondern um die Familie selbst?
Unbestritten ist ferner die Bedeutung der Familie als primärer Ort religiöser Prägung. Kinder, die in ein christliches Umfeld hineinwachsen, entwickeln eine Haltung, die eine stabilere Bindung zur Kirche wahrscheinlicher macht. Die Frage ist: Warum werden für solch weichenstellende Bindungsfaktoren nicht konsequenter strategische Impulse verfolgt?
Johanna Possinger und ihr Team von der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg haben im Auftrag der Württembergischen Landessynode „Familien gefragt“ und setzen mit dem gleichnamigen Buch nun Impulse für eine familienorientierte Kirche. Sie stoßen damit in eine Lücke, die bisher eher vernachlässigt worden ist. Ein Indiz dafür ist leider auch die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, die zwar eine Reihe familialer Bezüge abfragt, in der Familie selbst aber kein Auswertungsfokus ist. Allerdings: Setzt man die württembergische Stichprobe ins Verhältnis zum repräsentativen Ergebnis der KMU VI, das zumindest die kirchentheoretische Bedeutung von Familien untermauert, dann ergibt sich ein belastbares Bild. Zumal dort nicht nur Familien, sondern auch familienaktive Gemeinden gefragt wurden: Auf der Suche nach Mustern, die gute kirchengemeindliche Familienarbeit ausmachen. Allerdings: Dieser methodische Ansatz weichzeichnet womöglich, denn man setzt sich mindestens dem Verdacht aus, dass viele ungefragte Gemeinden Familienarbeit im Familiengottesdienst erschöpft sehen. Dennoch wird so ein zentraler Gelingensfaktor „beziehungsweise“ der Nenner guter Familienarbeit zutage gefördert: Gemeinden und ihre Diakonie gilt es zu ermutigen, gemeinsam mit Familien die Dinge in Gang zu bringen, die für Familien vor Ort dran sind.
Das sind vor allem Entlastungsstrukturen: Hier wirken nicht nur die Erfahrungen der Pandemie, sondern auch politische Entscheidungen (etwa zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf) nach. Es geht um erschöpfte Mütter und Väter, Alleinerziehende, um Regenbogenfamilien, um die alltagsgestresste Noch-Mittelschicht, die obendrein massiv armutsgefährdet ist. Der zeitliche und ökonomische Druck auf Familien ist enorm und ohne unterstützendes Umfeld kaum mehr zu leisten. Eigentlich die Chance für Kirche und Diakonie, ihre Beziehungsnetzwerke zu nutzen und den (zumeist) nachbarschaftlichen Eigeninitiativen von Familien im wahrsten Sinne Raum zu geben. Manchmal müssen dazu Vorbehalte und Ausgrenzungserfahrungen wieder überwunden werden, um Bindungen zu ermöglichen und zu vertiefen. So zeigt sich laut Possinger Familienorientierung vor allem als Haltungsfrage und als „Heraus-Forderung“ aus parochialer Binnenperspektive: heraus aus binnenkirchlichen Räumen (gottesdienstlich wie strukturell), hinein in die sozialen Räume, heraus aus dem Defizitdenken und hinein in eine neue Ressourcen erschließende Kreativität, heraus aus versäultem Zuständigkeitsdenken und hinein in die Vernetzung und Kooperation von familienrelevanten Akteuren vor Ort wie zum Beispiel KiTas, Schulen und Familienbildungszentren.
Die darauf hinauslaufenden Empfehlungen für Kirchengemeinden sind am Ende ebenso wenig überraschend wie die für kirchenleitendes Handeln. Fragt man in den Landesverbänden der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie (eaf) nach, dann wird das von Possinger gezeichnete Bild rundum bestätigt. Allein die Frage bleibt, warum man dasselbe immer und immer wieder erklären muss. Immerhin: Sie haben mit der nun vorgelegten Befragungsauswertung, auch wenn der Familienbegriff weitgehend auf „junge Familien“ verengt wird, eine fundierte Referenz.
Die evangelische Kirche hat sich (viel zu) lange mit der Frage aufgehalten, was Familie ist. Erst die Orientierungslinien der EKD (2022) halten fest: Das bestimmen Familien inzwischen einfach selbst. Ein Netzwerk Familie, das Familienbildung, Familienpolitik und gemeindliche wie diakonische Kontexte bündelt, wird hoffentlich die von Possinger empfohlenen Impulse verstärken. Dem Buch – besser: den Familien – ist zu wünschen, dass sie in gemeindliches und kirchenleitendes Handeln münden und Familien nicht nur gefragt werden, sondern nun Antworten folgen, die der Bedeutung der Familie im Sinne der Studie gerecht werden.
Steffen Merle
Dr. Steffen Merle ist Oberkirchenrat im Referat Sozial- und Gesellschaftspolitik im Kirchenamt der EKD in Hannover.