Ein notwendiger Diskurs

Die Debatte um christliche Friedensethik geht weiter
Friedenstaube von Bansky in einer Ausstellung zum Thema Frieden in Münster im Jahr 2018.
Foto: epd
Friedenstaube von Bansky in einer Ausstellung zum Thema Frieden in Münster im Jahr 2018.

Die Debatte um die evangelische Friedensethik im Angesicht des Krieges gegen die Ukraine geht weiter. Nachdem zuletzt die Theologen Peter und Gabriele Scherle an dieser Stelle dem Text von Stefan Seidel und den kritischen Anfragen von Hans-Jürgen Benedict widersprochen haben, reagieren beide Autoren nun jeweils auf die Kritik.   

Welcher Geist wirkt?

Stefan Seidel verweist auf die Zeitenwende, die Jesus gebracht hat und fragt nach Aufgabe und Auftrag einer christlichen Friedensethik heute.

Die Antwort von Gabriele und Peter Scherle auf meinen Beitrag „Den Frieden ins Spiel bringen“ zeigt vor allem eines: Wie notwendig und überfällig ein gründlicher Diskurs über die heute einzubringenden Impulse und Orientierungen einer christlichen Friedensethik ist. Denn die Ableitungen dieser Friedensethik sind eben nicht so eindeutig in Richtung militärischer Gewaltlegitimation zu vollziehen. Denn immer noch steht im Zentrum des Christlichen die starke Option für Gewaltfreiheit. 

Die aus der zentralen Gewaltkritik christlicher Friedensethik abzuleitenden Positionierungen pro Gewaltlosigkeit oder pro Gewaltminimierung können angesichts einer neuen Situation nicht einfach „abgeräumt“ und durch eine Art „verantwortungsethisches Notstandsgesetz“ ersetzt werden, das den Waffeneinsatz und die militärische Lösungsstrategie legitimiert und priorisiert. Eine Friedensethik gilt doch nicht nur für den Frieden, sondern auch und erst recht für den Krieg. 

Setzt man sich also mit der Normebene christlicher Friedensethik auseinander, aus der heraus solche Fragen beantwortet werden müssten, kommt der Umgang mit biblischen Texten in den Blick. Zurecht bemerken Scherles: „Es gibt in der Bibel nicht nur die Aufforderung zum Gewaltverzicht in der Nachfolge Jesu, sondern auch die wiederkehrende Aufforderung, die Gewalt notfalls mit Gewalt zu begrenzen, aus der sich die Ethik der Gewaltbegrenzung entwickelt hat, die leider missverständlich als ‚Lehre vom gerechten Krieg‘ bezeichnet wurde.“ In der Bibel gebe es außerdem auch die Sehnsucht der Unterdrückten und Verfolgten, die sich danach sehnen, dass Gott die Gewalttäter mit seiner heiligen Gewalt besiege, so Scherles weiter. Es sei daher problematisch, sich mit einigen Bibelzitaten eine nur scheinbar eindeutige Position verschaffen zu wollen. 

Es ist erstaunlich, wie kühn und rigoros hier die zentrale Substanz christlicher Friedensethik, allen voran das Friedenszeugnis Jesu, das verdichtet in der Bergpredigt zum Ausdruck kommt, als nachrangig für den Umgang mit heutigen kriegerischen Konflikten angesehen wird. Stattdessen werden wirkungsgeschichtlich hochproblematische Bibelstellen in Anschlag gebracht, die für den Kurs der Aufrüstung und militärischen (Gegen-)Gewaltanwendung sprechen sollen. Besonders problematisch ist, dass jene Bibelstellen, die von der „Sehnsucht der Unterdrückten und Verfolgten“ handeln, „dass Gott die Gewalttäter mit seiner heiligen Gewalt besiege“ offenbar zur Legitimation militärischer (Gegen-)Gewaltmittel im Ukraine-Krieg herangezogen werden. 

Dabei ist hier doch ausdrücklich von Gott die Rede, der ins Spiel gebracht wird und der den Unfrieden auf sich nimmt. Es ist eben nicht die Rede von einer menschlichen Armee oder militärischen Waffengewaltanwendung, die es richten sollen. Das ist doch ein entscheidender Punkt auch der Bergpredigt, dass der Unfrieden, das Unrecht, die erlitten Aggression, das Konfliktpotenzial, auch der Hass, die Racheimpulse und die Gewaltdynamik in die Größe und die Macht Gottes hineingelegt werden und dessen Dimension entscheidend in die Konflikte einbezogen wird – damit eben nicht der Mensch es leisten muss, den Unfrieden mit seinen eigenen Gegengewaltmitteln zu beenden, was doch so oft und immer wieder zu einer verheerenden Vertiefung des Unfriedens führt. 

Es kann nicht darum gehen, in biblizistischer Manier mit einzelnen Bibelstellen andere Bibelstellen auszustechen und sich mit bestimmten Bibelstellen zu munitionieren, um eine in der Gegenwart als richtig betrachtete Positionierung zu legitimieren. Das Christliche ist keine Buchstabengläubigkeit, sondern eine Geistesausrichtung. Demnach müsste in den Fragen von Krieg und Frieden viel stärker nach dem „Geist“ des christlichen Friedenszeugnisses gefragt werden – und nicht so sehr nach dessen Buchstaben. Es geht nicht um das Hineinkommen in die Buchstaben der Bergpredigt, sondern um das Hineingelangen in den Geist der Bergpredigt – also in den Geist der Gewaltlosigkeit, der Feindesliebe, der Gewaltminimierung und Umpolung der Feindeslogik, kraft Gottes. 

Das ist die Zeitenwende, die Jesus gebracht hat. Den großen Schalom Gottes, der für das Ende der Zeit angekündigt ist, hat er anbrechen lassen. Er vertagt nicht die Friedens- und Versöhnungskräfte, sondern öffnet die Welt und Zeit für diese Verwandlungskräfte Gottes – schon jetzt und hier, durch uns. Auch wenn es noch nicht vollendet oder vollendbar ist. 

Diese Zeitenwende bedeutet im Blick auf den Umgang mit Gewalt nichts weniger als eine Kulturrevolution, die die Gewaltfelder transformiert, indem anders auf die Gewalt reagiert und mit ihr umgegangen wird. Der Maßstab dieses verwandelnden Geistes, der am dichtesten in der Bergpredigt ausgedrückt ist, lässt sich nicht einfach durch Heranziehung einzelner anderer Bibelstellen neutralisieren. Denn dieser Geist ist das Herzstück des Christlichen.

Der Verzicht auf den Willen zur Gegenschädigung und der Verzicht auf die Feindschaft eröffnen die neuen, oft ungeahnten Wege. Und erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Gewaltunterbrechung, eines Entkommens aus den Spiralen von Hass und Gegenhass, Gewalttat und Rache. Hieraus kann dann eine schrittweise Annäherung und Verständigung erwachsen. Will man nicht in der Gewalt untergehen und der Gewalt das Regiment überlassen, wäre das der gebotene Weg. 

So wie es die trauernden Eltern der israelisch-palästinensischen Versöhnungsinitiative „Parents Circle – Trauernde Israelis und Palästinenser für Versöhnung“ vorleben. Sie haben jeweils ein Kind in dem blutigen Konflikt ihrer verfeindeten Völker verloren und erkannt, dass nur eine Unterbrechung des Kreislaufs der Gewalt, nur ein bewusstes Aufgeben des Hassens und Tötungswillens zum Frieden führt. Sie leben das in ihren Gruppen beispielhaft und geben davon Zeugnis. Nach dem furchtbaren Massaker des 7. Oktober 2023 schrieben sie: „Wir haben zu viel Blutvergießen und Schmerz erlitten, zu viele Tränen geweint. Dies ist der Moment für alle daran beteiligten Seiten, über die Sinnlosigkeit des anhaltenden Konflikts nachzudenken und die gemeinsame Menschlichkeit zu erkennen, die uns alle verbindet. 

Diesen „Spirit“ trugen auch Christen der DDR in die revolutionären Aufbrüche des Herbstes 1989 hinein. In einem bedrohlichen Kraftfeld der Gewalt haben sie radikal und entschieden der Gewaltlogik entsagt und konsequent am Prinzip der Gewaltlosigkeit festgehalten – und damit die Dynamik derartig beeinflusst, dass es nicht zu einer Gewalteskalation gekommen ist. „Auf diesen friedlichen Protest, auf den Ruf ‚Keine Gewalt‘, (…) auf Gebete und Kerzen war die Staatsmacht nicht eingerichtet. Diese massenhafte Friedfertigkeit hat sie letztlich gelähmt“, schrieb der Leipziger Kabarettist Bernd-Lutz Lange rückblickend. 

Wie könnte sich dieser „Spirit“ der Bergpredigt heute konkretisieren? Es ist nicht vorwegnehmbar. Man muss sich wahrhaftig und wirklich und ehrlich auf diesen „Spirit“ der größeren Liebe und Gewaltlosigkeit einlassen, um dessen Dynamik zu erleben und an der konkreten Ausformung mitzuwirken. Das Einlassen auf diesen „Spirit“ bedeutet ein Ablassen von der Gewaltlogik, von den Waffen. Das Einlassen auf diesen „Spirit“ bedeutet, den Verführungen und Versuchungen der Gewalt zu widerstehen. 

Das Einlassen auf diesen „Spirit“ bedeutet, der Feindschaft und Polarisierung zu entkommen und aufzuhören, die Welt in die gute und die böse Seite einzuteilen, in „Wir“ und „die Feinde“ – sondern stattdessen immer und immer wieder und allen Widerständen zum Trotz Vermittlungen anzustreben und auch zu versuchen, dem Gegner Wege aufzuzeigen, um aus der Gewaltverstrickung herauszufinden und gesichtswahrend einen Weg in Richtung Gewaltminderung und Befriedung gehen zu können. Das Einlassen auf diesen „Spirit“ bedeutet, für die Übeltäter zu beten, diese nicht auslöschen zu wollen und beharrlich auf die größere Liebe und die größere Macht der Gewaltlosigkeit zu trauen und zu bauen, sich zu deren Werkzeug zu machen. Der Frieden wird erlernt, indem der Krieg verlernt wird. 

Es geht darum, „aus einem Dennoch zu leben, unbeirrt dabei zu bleiben, dem inneren und äußeren Frieden mit Mitteln des Friedens zu dienen“wie es der gerade verstorbene Friedrich Schorlemmer in seiner Friedenspreisrede 1993 ausdrückte. Seine Mahnung ist sein hochaktuelles Vermächtnis: „Statt nun die Lehre vom ‚gerechten Krieg‘ fortzuschreiben (dieser diffizilen, stets missbrauchbaren Legitimierung einer Gewalt, die sich Unrechtsgewalt rechtmäßig in den Weg stellen will, aber selber in die Gewalt- und Unrechtsspirale hineingerät), brauchen wir eine außerordentliche Anstrengung, um eine internationale Lehre und Praxis des ‚gerechten Friedens‘ zu entwickeln.“ Dieser habe unter anderem mit der Arbeit an weltweiter Gerechtigkeit zu tun, bis „unsere umgeschmiedeten Schwerter in der (ver-)hungernden Welt für Brot sorgen, bis wir nicht mehr lernen, wie man Kriege führt, sondern wie man Frieden erhält (…)“

Wenn nun in der gegenwärtigen christlich-ethischen Debatte um Krieg und Frieden offensichtlich kein Konsens herstellbar ist, weil sich die einen im Letzten an die unaufgebbare Option der Gewaltfreiheit halten und sich die anderen für eine (zeitweise) Suspendierung dieser Option zugunsten der Option militärischer Gewaltanwendung aussprechen, könnte vielleicht doch ein Minimalkonsens gemeinsamen Trachtens und Strebens im Bereich der konkreten Friedenssuche aus christlichem Geist vorstellbar sein. Diese Suche könnte sich an folgenden kritischen Prüffragen orientieren, die auch Korrektive für gegenwärtiges politisches Handelns sein können: 

Bewahren wir ausreichend Skrupel vor der Anwendung von Waffengewalt und machen uns deren Wirkung hinreichend bewusst? 

Halten wir in ausreichendem Maß die Dynamik und Eskalationsgefahr militärischen Operierens im Blick? 

Tun wir alles, wirklich alles Erdenkliche, um auf Verhandlungs- und Vermittlungswegen zu Gewaltunterbrechungen und Lösungsannäherungen zu kommen? 

Arbeiten wir ausreichend an Entfeindung und Entpolarisierung?

Halten wir Kontakt zu Friedenslogiken oder lernen wir nur wieder den Krieg? 

Versuchen wir immer wieder, den Frieden mit den Mitteln des Friedens zu erlangen? 

Die Antworten und Konkretionen können vielfältig ausfallen. Oft beginnen sie im Kleinen. Doch wenn sie nicht im eigenen Herz und Kopf beginnen, haben sie gar keine Chance, in die Welt hineinzuwirken. Dann wäre es so, als würde Gott aus der Welt herausgehalten werden.

 

Polemische Verkürzungen

Hans-Jürgen Benedict fragt in seiner Reaktion nach der Diskussionskultur im kirchlichen Raum.

In ihrem Artikel "Woran wir uns auch erinnern müssen" sind Gabriele und Peter Scherle auf meinen Artikel "Menschenrechte ernstnehmen. Bedenkliche Entwicklungen in der Ukraine" in einer Weise  eingegangen, die meine Argumentation schlimm verkürzt und mir Ansichten unterstellt, die ich keinesfalls vertrete.. Keinesfalls will ich in meinem Artikel "den Nachweis führen, dass die Ukraine ohnehin nicht zum Westen gehört", wie die Scherles schreiben. Ich weise vielmehr auf bedenkliche Entwicklungen hin, die mit dem Anspruch, westliche Werte zu verteidigen, teilweise kollidieren (wozu  auch die von der Europäischen Union vorgebrachte Anmahnung gehört, etwas gegen die weiter bestehende relativ große Korruption in der Ukraine zu tun).

Ich weise darauf hin, dass in der Ukraine Forderungen laut werden, aus der Ukraine in die Bundesrepublik Deutschland geflüchtete Männer im wehrpflichtigen Alter auszuliefern. Ich zeige dabei auf, dass das nach dem gegenwärtigen europäischen Auslieferungsgesetz nicht geht. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass es in der Ukraine das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht gibt, dass aber Ukrainer nach Auslaufen ihres  Flüchtlingsstatus die Möglichkeit hätten, im dann eventuell folgenden Asylverfahren auf das bei uns geltende Recht auf Kriegsdienstverweigerung zurückzugreifen (auch wenn es momentan wegen der Aussetzung der Wehrpflicht bei uns nicht in Anspruch genommen werden muss). 

Zweitens kritisiere ich das gerade vom ukrainischen Parlament verabschiedete Verbot der russisch-orthodoxen Kirche, die dem Moskauer Patariarchat untersteht, als eine Verletzung der in Europa geltenden Religionsfreiheit. Um die Bedeutung dieses Schritts zu untermauern, habe ich an den Kampf der Bekennenden Kirche  gegen das Eingreifen des nationalsozialistischen Staates in die Angelegenheiten der Kirchen erinnert. Daraus machen die Scherles: "Damit suggeriert Benedict, das ukrainische Parlament sei mit dem nationalsozialistischen Führerstaat vergleichbar und knüpft damit nahtlos an die Behauptung Putins an, er befreie die Ukraine von einem Nazi-Regime." Das ist Unsinn, mit keinem Wort habe ich daran gedacht oder es unterstellt. Aber ich gebe zu, es kann die Heranziehung von geschichtlichen Vergleichen zu Missverständnissen führen.

Drittens werfen mir die Scherles vor, dass ich "gleich zweimal" auf die mit der Kursk-Offensive der ukrainischen Armee verbundene Gefahr einer Eskalation des Krieges und des Einsatzes von Atomwaffen hinweise. Aber genau das müssen wir tun, Jürgen Habermas hat es auch gleich zwei mal getan. Dann werfen mir die Scherles noch vor, dass ich auf das Sterben an der Front auf beiden Seiten hinweise. Damit würde ich die russische Verantwortung für den andauernden Krieg verwischen. Das ist natürlich Unsinn, aber ich lasse mir auch nicht das Recht nehmen, der Toten auf beiden Seiten zu gedenken. 

Zu Schluss frage ich mich, was die Scherles dazu bringt, meine Argumente so polemisch verkürzt vorzuführen. Ist unsere Diskussionskultur, auch im kirchlichen Bereich, schon so schlimm geworden, dass man, um Recht zu haben, dem "Gegner" abstruse Meinungen unterstellen muss?. Ich wollte auf bedenkliche Entwicklungen in der Ukraine hinweisen, Fragen stellen, auf Gefahren aufmerksam machen. Das muss doch wohl noch möglich sein!

 

 

 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Stefan Seidel

Stefan Seidel ist Theologe und Psychologe und als Leitender Redakteur der evangelischen Wochenzeitung DER SONNTAG in Leipzig tätig. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Entfeindet Euch! Auswege aus Spaltung und Gewalt“ (Claudius-Verlag München).

Foto: privat

Hans-Jürgen Benedict

Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich  der Literaturtheologie.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"